
©
Getty Images/iStockphoto
«Diese spezielle Unterform sollte nicht mehr Krebs genannt werden»
Leading Opinions
30
Min. Lesezeit
08.09.2016
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">Eine Form von Schilddrüsenkarzinomen verhält sich weniger gefährlich als vermutet. Die WHO-Klassifikation der Schilddrüsentumoren wird geändert werden, erklärt der Pathologe Prof. Dr. med. Aurel Perren, denn diese Patienten sollten nicht mehr mit der Diagnose Krebs konfrontiert werden. Sie können allein durch eine Operation geheilt werden und brauchen keine postoperative Strahlentherapie mehr.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Mehr als zwei Drittel der Patienten mit Schilddrüsenkrebs haben die papilläre Form. Wird diese früh diagnostiziert und therapiert, ist die Prognose sehr gut. Standardmässig wird der Tumor mitsamt Schilddrüse entfernt und der Patient wird danach mit einer Radiojodtherapie behandelt. So war es zumindest bisher in den meisten Kliniken. Jetzt hat der Pathologe Yuri Nikiforov von der Universität Pittsburgh eine Studie veröffentlicht,<sup>1</sup> die ein Umdenken fordert: Ein Subtyp des papillären Schilddrüsenkarzinoms ist gar kein Karzinom und muss deshalb nicht so aggressiv behandelt werden. Dieser Subtyp, fordert das Ärzteteam, sollte anders genannt werden, damit Patienten unnötige Therapien und die psychologische Belastung erspart blieben, die mit der Diagnose «Krebs» einhergehe. Ausserdem würde das Kosten sparen.<br /> Der Subtyp, um den es geht, hiess bisher «gekapselte follikuläre Variante eines papillären Schilddrüsenkarzinoms» («encapsulated follicular variant of papillary thyroid cancer», EFVPTC). Die Zellen sehen aus wie Karzinomzellen, aber sie durchbrechen die Kapsel nicht – sie zeigen also kein bösartiges Verhalten. Jetzt schlägt Nikiforov den Namen NIFTP vor, «nicht invasiver folllikulärer Schilddrüsentumor mit Zellkernen ähnlich jenen eines papillären Karzinoms», auf Englisch «noninvasive follicular thyroid neoplasm with papillary-like nuclear features». In dem Begriff taucht das Wort Karzinom nicht mehr auf.<br /> In der Studie wurden 109 Patienten mit NIFTP beobachtet. Bei 42 war die gesamte Schilddrüse entfernt worden, bei 67 nur der Tumor. Kein Patient war nach der Operation mit Radiojod behandelt worden. Nach 10 bis 26 Jahren hatte kein einziger Patient einen Rückfall erlitten oder war aufgrund des Schilddrüsentumors gestorben.<br /> In der Schweiz erkranken pro Jahr rund 480 Personen an einem papillären Schilddrüsenkrebs, davon gehören etwa 10 % zum Subtyp NIFTP. Ungefähr 50 Menschen könnte man eine Radio­jodtherapie ersparen, und man bräuchte bei diesen Patienten möglicherweise nur den Tumor entfernen und nicht die gesamte Drüse.<br /> Bei der kommenden Neuklassifikation durch die Weltgesundheitsorganisation werde als Neuerung offiziell der Begriff NIFTP oder ein ähnlicher Begriff für diesen Typ verwendet werden, sagt Aurel Perren, Leiter des Instituts für Pathologie am Inselspital in Bern. «Diese Patienten sollen nicht mehr Krebspatienten genannt werden.»<br /> Prof. Aurel Perren ist Direktor des Instituts für Pathologie der Universität Bern. Sein Spezialgebiet sind endokrine Tumoren. Perren schrieb mit an der WHO-Klassifikation zu Schilddrüsentumoren 2004 und ist auch an der neuen Klassifikation von 2016 beteiligt. Warum ein Subtyp des Schilddrüsenkarzinoms in Zukunft nicht mehr Karzinom genannt werden sollte und dass die Klassifikation entsprechend geändert werden sollte, erklärt der Pathologe im Gespräch mit <em>LEADING OPINIONS Hämatologie & Onkologie.</em><br /> <br /><strong> Herr Prof. Perren, Ihr Kollege Yuri Nikiforov bezeichnet seine neue Klassifikation als «Paradigmenwechsel». Teilen Sie seine Meinung?</strong><br /><br /> <strong>A. Perren:</strong> Absolut. Nikiforovs Untersuchungen bestätigen das, was wir anhand früherer Studien schon vermutet haben: Die gekapselte follikuläre Variante eines papillären Schilddrüsenkarzinoms (EFVPTC), die die Kapsel nicht durchbricht und nicht in Gefässe einwächst, verhält sich benigne. Die Evidenz ist inzwischen so gross, dass die WHO-Klassifikation umgeschrieben werden wird und wir statt EFVPTC den Begriff NIFTP oder einen ähnlichen für diese Tumoren verwenden.<br /> <br /><strong> Heisst das, diese Form ist gar kein Krebs im eigentlichen Sinne?</strong><br /> <br /> <strong>A. Perren:</strong> Ja, weil dieser Tumor nicht die Eigenschaften hat, die eigentlich definitionsgemäss bei einem malignen Tumor vorliegen: Ein NIFTP wächst nicht invasiv wie ein Karzinom und bildet keine Metastasen. Es kann alleine durch eine Operation geheilt werden, und eine Strahlentherapie ist bei Patienten mit dieser Art von Tumor nicht erforderlich.<br /> <br /><strong> Standardmässig wird bei Schilddrüsenkarzinomen eine Thyreoidektomie durchgeführt. Ist das beim NIFTP immer noch notwendig?</strong><br /> <br /> <strong>A. Perren:</strong> Ich glaube, bei diesen Patienten würde es reichen, nur die halbe Schilddrüse mit dem Tumor im Gesunden zu resezieren. In der Studie von Nikiforov wurde bei 67 von 109 Patienten nur der Tumor herausoperiert. Und diese Patienten hatten die gleiche Prognose wie Patienten, die thyreoidektomiert wurden. Wir müssen das in weiteren Studien aber noch bestätigen.<br /> <br /><strong> Ist überhaupt noch eine Operation erforderlich? Könnte man nicht zuwarten und nur engmaschig kontrollieren, im Sinne einer «Watch and wait»-Strategie wie bei einem Prostatakarzinom im Frühstadium?</strong><br /> <br /> <strong>A. Perren:</strong> Das wäre theoretisch möglich. Ich kann aber nur anhand des Operationspräparats definitiv sagen, ob es wirklich ein NIFTP ist oder doch ein papilläres Karzinom mit Metastasierungsrisiko – das ist übrigens bei der Unterscheidung zwischen follikulärem Adenom und follikulärem Karzinom auch so.<br /> <br /><strong> Anhand welcher histopathologischen Kriterien stellen Sie die Diagnose NIFTP?</strong><br /> <br /> <strong>A. Perren:</strong> Es handelt sich um einen scharf durch eine Kapsel begrenzten Schilddrüsenknoten, die Kapsel ist nicht durchbrochen und es gibt keine Gefässeinbrüche. Die Zellen sind in Follikeln aufgebaut und ihre Kerne zeigen die typischen «papillären» Veränderungen, zum Beispiel Kernaufhellungen, Kernkerben, Kerneinschlüsse und Überlappungen (Abb. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Onko_1604_Weblinks_Seite82.jpg" alt="" width="739" height="597" /></p> <p><strong>Wenn Sie die Diagnose NIFTP gestellt haben, was raten Sie dann Ihren Kollegen im Tumorboard?</strong><br /> <br /> <strong>A. Perren:</strong> Wir haben im endokrinen Tumorboard des Inselspitals die Patienten mit NIFTP bereits seit einiger Zeit ohne Radiojodtherapie behandelt, dieser Entscheid wird jeweils interdisziplinär mit allen involvierten Kliniken inklusive Pathologie gefällt.<br /> Die Radiojodstrahlentherapie ist eine Erfolgsgeschichte in der Behandlung der Schilddrüsenkarzinompatienten, diese Therapie wollte man niemandem vorenthalten. Inzwischen wurde aber schon bei anderen Schilddrüsenkarzinomformen gezeigt, dass man auf eine Radiojodtherapie verzichten kann, etwa unter gewissen Voraussetzungen beim papillären Mikrokarzinom.<br /> <br /><strong> Warum hat man bisher gedacht, die NIFTP seien maligne und man müsse sie mit OP und Strahlentherapie behandeln?</strong><br /> <br /> <strong>A. Perren:</strong> Weil man alle papillären Karzinome gleich behandelt hat, und zwar mit OP und Strahlentherapie. Erst als Pathologen begannen, die papillären Karzinome in Subtypen einzuteilen, erkannten wir, dass sich nicht alle dieser «Karzinome» gleich verhalten. Um weitere Subtypen zu erkennen und Patienten möglicherweise überflüssige Therapien zu ersparen, brauchen wir natürlich Studien an Material vom Patienten. Ohne differenzierte Klassifikation keine differenzierte Therapie! An dieser Stelle möchte ich allen Patienten danken, die ihr Einverständnis geben, dass ihre Daten und Proben für Forschung zur Verfügung stehen. Vielleicht können meine Kollegen das an ihre Patienten weitergeben – ich sehe als Pathologe ja sehr selten Patienten.<br /> <br /><strong> Vielen Dank für das Gespräch!</strong></p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Nikiforov YE et al: Nomenclature revision for encapsulated follicular variant of papillary thyroid carcinoma: a paradigm shift to reduce overtreatment of indolent tumors. JAMA Oncol; online 14. 4. 2016</p>
</div>
</p>
Das könnte Sie auch interessieren:
Erhaltungstherapie mit Atezolizumab nach adjuvanter Chemotherapie
Die zusätzliche adjuvante Gabe von Atezolizumab nach kompletter Resektion und adjuvanter Chemotherapie führte in der IMpower010-Studie zu einem signifikant verlängerten krankheitsfreien ...
Highlights zu Lymphomen
Assoc.Prof. Dr. Thomas Melchardt, PhD zu diesjährigen Highlights des ASCO und EHA im Bereich der Lymphome, darunter die Ergebnisse der Studien SHINE und ECHELON-1
Aktualisierte Ergebnisse für Blinatumomab bei neu diagnostizierten Patienten
Die Ergebnisse der D-ALBA-Studie bestätigen die Chemotherapie-freie Induktions- und Konsolidierungsstrategie bei erwachsenen Patienten mit Ph+ ALL. Mit einer 3-jährigen ...