Geriatrische Onkologie: Verantwortung und Perspektiven des Pflegefachpersonals
Autor:innen:
Francine Rieder-Nicolet1
Prof. Dr. med. Ulrich Güller, MHS2
Dr. med. Kathrin Vollmer3
Onkologie- & Hämatologiezentrum
Thun – Spiez – Berner Oberland
Spital Simmental-Thun-Saanenland (STS) AG
1Expertin Onkologiepflege
2Chefarzt
3Leitende Ärztin
Korrespondenz:
E-Mail: francine.rieder@spitalstsag.ch
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Die Vereinbarkeit von Geriatrie und Onkologie ist entscheidend für optimale Patientinnenoutcomes. Die Einordnung älterer Krebsbetroffener in fit, vulnerabel und frail ist dabei zentral, um Unter- und toxische Übertherapien zu vermeiden. Pflegende spielen eine wichtige Rolle im geriatrischen Screening und Assessment. Das Onkologie- & Hämatologiezentrum Thun – Spiez – Berner Oberland der Spital Simmental-Thun-Saanenland (STS) AG implementiert innovative Ansätze für die exzellente Betreuung älterer Krebspatientinnen*.
Keypoints
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Pflegende in der Onkologie sind in der optimalen Position, das G8-Screening bei einer Erstkonsultation sowie weitere Bereiche im geriatrischen Assessment (z.B. sozialer Support, Aktivitäten des täglichen Lebens, Kognition, psychische Aspekte, Ernährungszustand) zu erheben.
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Das geriatrische Assessment hat sich zur Erfassung des Gesundheitszustands älterer Menschen etabliert und führt zu massgeschneiderten Therapieplänen sowie erhöhter Lebensqualität.
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Die Zusammenarbeit im interprofessionellen Team ist entscheidend, um eine optimale Behandlung älterer onkologischer Patientinnen sicherzustellen.
Jährlich erkranken in der Schweiz über 45 000 Menschen neu an Krebs.1 Davon sind bei Diagnosestellung fast 15 000 über 75 Jahre alt.1 Die Altersgruppe der über 75-Jährigen ist die aktuell am stärksten wachsende Gruppe der Krebsbetroffenen.2 Meist ist die Krebserkrankung nicht die einzige gesundheitliche Einschränkung.
Im Median leiden Menschen über 75 Jahre an drei chronischen Erkrankungen (Multimorbidität), was zur regelmässigen Einnahme mehrerer Arzneimittel ausserhalb der durchgeführten onkologischen Therapie (Polypharmazie) führt.3,4 Diese Phänomene erhöhen die Komplexität der onkologischen Behandlung älterer Krebsbetroffener. Die Patientinnen haben ein signifikant höheres Risiko, relevante Nebenwirkungen ihrer Krebstherapie zu erfahren, wie auch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für ungünstige Therapieoutcomes wie Hospitalisation, Pflegebedürftigkeit und Tod.5
Geriatrisches Assessment
In der Geriatrie ist das geriatrische Assessment (GA) seit Langem etabliert und ein gut validiertes Instrument, um den Gesundheitszustand älterer Personen einzuschätzen. Im Rahmen des GA werden verschiedene Dimensionen systematisch untersucht: Alltagsfunktionen, Mobilität, Kognition, Ernährungszustand, Psyche und sozialer Support (Tab. 1).6–12 Dazu werden die bestehende Medikation und die Nebenerkrankungen erfasst. Das GA liefert damit einen ganzheitlichen Blick auf die betroffenen Patientinnen.
Tab. 1: Empfohlene Assessment-Instrumente für das geriatrische Assessment. Modifiziert nach 6–12
Im onkologischen Setting konnte in mehreren Studien gezeigt werden, dass die Durchführung eines GA die Therapieallokation unterstützt.13 Insgesamt erfolgt nach einem GA bei ca. einem Drittel der Patientinnen eine Anpassung des Therapieregimes; in der Regel zugunsten einer weniger intensiven Therapie, ohne dass dies die Lebenserwartung verkürzt.4 Chemotherapietoxizitäten können daher reduziert und die Zufriedenheit der Patientinnen und Familien in Bezug auf Therapieziele, Kommunikation und Behandlung verbessert werden.6,13 Zudem erlaubt das GA eine individuelle Therapieplanung basierend auf dem biologischen – und eben nicht dem chronologischen – Alter.13
Integration des geriatrischen Assessments in die Praxis
Im Projekt «Geriatrische Onkologie am Spital Thun» wurde das GA systematisch in den Behandlungsprozess älterer Krebsbetroffener integriert. Der Prozess orientiert sich am in Frankreich etablierten Modell mit systematischem Screening von Krebsbetroffenen ab 75 Jahren und mit einem GA bei positivem Screening.14
Die Durchführung des GA ist ressourcenintensiv:Es benötigt diverse Assessmentinstrumente sowie geschultes Personal. Demgegenüber braucht ein Screening nur fünf bis zehn Minuten, um zu unterscheiden, welche Patientinnen ein GA benötigen und welche nicht.15
Am Onkologie- & Hämatologiezentrum Thun – Spiez – Berner Oberland wird das systematische Screening mit dem validierten Instrument Geriatric-8 (G8) von Pflegenden der Onkologie bei allen Patientinnen über 75 Jahre bei der Erstkonsultation durchgeführt.15 Bei Patientinnen mit positivem Screening und Bedarf einer onkologischen Systemtherapie erfolgt hierauf ein GA im Rahmen einer interprofessionellen Sprechstunde. Im GA wird der gesundheitliche Zustand der Patientinnen eingeschätzt und daraus resultierend werden Empfehlungen zur onkologischen und bei Einschränkungen zur supportiven Therapie formuliert.
Mithilfe des GA kann die Therapiefähigkeit der Betroffenen besser eingeschätzt und mit einem standardisierten Vorgehen eine Einteilung in drei Patientinnengruppen vorgenommen werden (Abb. 1): fitte (Standardtherapie möglich), vulnerable (Anpassung der Standardtherapie notwendig) und fragile Patientinnen (supportives Therapiekonzept). Das Ziel ist, einerseits Untertherapien bei fitten und andererseits toxische Übertherapien bei fragilen Patientinnen zu vermeiden.13,16 Zudem wird eine langfristige, nachhaltige Versorgung älterer Krebsbetroffener unter Erhaltung der bestmöglichen Lebensqualität mit Berücksichtigung der individuellen Präferenzen angestrebt.13,17
Abb. 1: Wird die Patientin die Therapie tolerieren und davon profitieren? Modifiziert nach Balducci & Extermann16
Um zu einer optimalen, gemeinsamen Entscheidungsfindung für eine Therapie und weitere Interventionen zu gelangen, ist es für das interprofessionelle Team zentral, Wünsche, Erwartungen sowie das Verständnis der Patientinund ihrer Angehörigen für die Krebserkrankung während des GA zu erfassen.17 Besondere Bedeutung erhält in diesem Kontext die Zusammenarbeit mit den involvierten Hausärztinnen, da sie die Betroffenen oft schon Jahre vor der Krebsdiagnose betreut und die Komorbiditäten – inklusive Management der Polypharmazie – therapiert haben. Deshalb wird vor dem Termin des GA mittels Formular eine hausärztliche Übergabe durchgeführt.
Neben einem Kernteam von Onkologinnen, Pflegefachpersonen und Physiotherapeutinnen benötigt die Onkologie für die Betreuung älterer Krebspatientinnen und ihrer Familien eine Vielzahl weiterer Dienstleister wie z.B. Psychoonkologinnen, Ernährungsberaterinnen, Geriaterinnen, Gerontopsychiaterinnen, Seelsorgerinnen, den Verein Pro Senectute, die Krebsliga Bern usw. Das Projekt «Geriatrische Onkologie am Spital Thun» wird von der Krebsstiftung Thun-Berner Oberland finanziell unterstützt.
Ablauf des geriatrischen Assessments
Das GA dauert im Onkologie- & Hämatologiezentrum des Spitals Thun insgesamt zwei Stunden. In den ersten 45 Minuten der Konsultation erfasst eine Pflegefachperson die Sozialanamnese, Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL), instrumentelle ATL, den Ernährungsstatus sowie den kognitiven und emotionalen Zustand der Patientin im Beisein einer Vertrauensperson. Die Sozialanamnese erfolgt anhand der familienzentrierten Pflegeanamnese der Onkologie und des Geno-/Ökogramms, welche auf der Theorie des Calgary-Familien-Assessments- und Interventionsmodells der Pflegewissenschaftlerinnen Wright und Leahey beruhen.18 Die grafische Darstellung der Familiensituation zeigt vorhandene Ressourcen sowie einzuleitende Interventionen rasch auf.18
Direkt danach werden in der Physiotherapie in 30 Minuten zur Identifikation einer Sarkopenie Handgriffkraft, Knieextensionskraft sowie Gehgeschwindigkeit mit dem 4-Meter-Gehtest gemessen.6,10 Zur Beurteilung des Sturzrisikos wird der «de Morton Mobility Index» (DEMMI) verwendet.11
Im Anschluss erörtern Pflegefachperson, Physiotherapeutin und Onkologin die erhobenen Ergebnisse sowie erforderliche Massnahmen. In den letzten 45 Minuten diskutiert die Onkologin die Resultate mit der betroffenen Familie, erfasst ihre Bedürfnisse und Ziele sowie Komorbiditäten und Medikation, um gemeinsam einen Therapieentscheid zu fällen.
Später erstellt die verantwortliche Onkologinder onkogeriatrischen Sprechstunde einen Bericht, welcher an die Hausärztin sowie die behandelnde Onkologin übermittelt wird. Dieser enthält die Ergebnisse und Interpretationen aus den Instrumenten des GA, die Einschätzung des Fitnesszustandes nach Balducci-Kriterien16, die individuellen Therapieziele der Patientin, Empfehlung zur onkologischen Therapie (gestützt auf Guidelines der International Society of Geriatric Oncology [SIOG19]), inklusive Empfehlungen zur Dosismodifikation sowie weiterer supportiver Massnahmen.
Die Pflegefachperson leitet direkt nötige supportive Interventionen ein (z.B. Anmeldung bei Anbietern ambulanter Pflege- und Unterstützungsleistungen [Spitex], Weitervermittlung an Pro Senectute usw.). Die enge Zusammenarbeit im interprofessionellen Team führt bei den Patientinnen zu einer verbesserten gesundheitlichen Vorausplanung, weniger Chemotherapie- bedingten Komplikationen und Toxizitäten, der Verbesserung des funktionalen Status wie auch der Lebensqualität sowie zu erhöhter Zufriedenheit der Patientinnen und ihrer Angehörigen mit der Kommunikation.13
Unser Projekt am Onkologie- & Hämatologiezentrum am Spital Thun demonstriert, dass die Durchführung eines GA im Praxisalltag machbar ist, wenn diverse Berufsgruppen Hand in Hand zum Wohle der Patientinnen und ihrer Familien zusammenarbeiten.
* Zur leichteren Lesbarkeit ist in diesem Artikel nur die weibliche Form angeführt. Gemeint sind selbstverständlich Menschen aller Geschlechter.
Literatur:
1 Bundesamt für Statistik (bfs): 2023. Online unter https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/krankheiten/krebs.html. Abgerufen am 28. Dezember 2023 2 Bluethmann SM et al.: Cancer Epidemiol Biomarkers Prev 2016; 25(7): 1029-36 3 Dodel R: Der Nervenarzt 2014; 85(4): 401-8 4 Guthrie B et al.: BMJ 2012: 345: e6341 5 Hurria A et al.: J Clin Oncol 2012; 34(20): 2366-71 6 Dale W et al.: J Clin Oncol 2023; 41(26): 4293-312 7 Heidenblut S, Zank S: Geropsych 2014; 27(1): 41-9 8 Burhenn PS et al.: J Geriatr Oncol 2016; 7(5): 315-24 9 National Comprehensive Cancer Network® (NCCN): 2023). Online unter https://www.nccn.org. Abgerufen Dezember 2023 10 Cruz-Jentoft A et al.: Age Ageing 2019; 48(1): 16-31 11 de Morton NA et al.: Health Qual Life Outcomes 2008; 6: 63 12 Wildiers H et al.: J Clin Oncol 2014; 32(24): 2595-603 13 Hamaker M et al.:J Geriatr Oncol 2022; 13(6): 761-77 14 Extermann M (Hrsg.): Geriatric Oncology; Springer: 2020 15 Bellera C et al.: Ann Oncol 2012; 23(8): 2166-72 16 Balducci L, Extermann M: Oncologist 2000; 5(3): 224-37 17 Festen S et al.: Age Ageing 2012; 50(6): 2264-9 18Wright LM et al.: Hrsg.: Preusse-Bleuler B. Bern: Hogrefe. 202119 International Society of Geriatric Oncology (SIOG): 2023. Online unter https://siog.org/educational-resources/siog-guidelines-2/. Abgerufen Dezember 2023
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