Vom Genotyp zum Phänotyp
Autorin:
Dr. med. Dr. phil. Fabienne Meier-Abt1,2
Fachärztin FMH Hämatologie
Ärztin in Weiterbildung Medizinische Genetik
1 Institut für Medizinische Genetik
Universität Zürich
2 Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie
Universitätsspital Zürich
E-Mail: fabienne.meier-abt@medgen.uzh.ch , fabienne.meier-abt@usz.ch
Die Beziehung zwischen Genmutationen und Tumorphänotypen der chronischen lymphatischen Leukämie (CLL) ist komplex. Die Kenntnis molekularer Datenebenen und ihrer Rolle im klinischen Verlauf verbesserte das Verständnis der Genotyp-Phänotyp-Beziehungen. Dies führte schliesslich zur Entdeckung neuer prognostischer Signaturen. Eine besondere Rolle spielt dabei die Proteomik, da die Proteinfunktion u.a. die Krankheitsentwicklung massgebend beeinflusst und eine Brücke zwischen dem Genotyp und dem Phänotyp bildet.
Keypoints
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Bei CLL-Patienten ist die detaillierte Beurteilung basierend auf genetischen Daten aktuell limitiert durch das lückenhafte Verständnis der Beziehungen zwischen Genotyp und Phänotyp.
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Durch die Kombination verschiedener molekularer Datenebenen inklusive globaler Proteinexpressions-Daten kann die Zellfunktionalität widergespiegelt und damit die Verbindung zwischen Genotyp und Phänotyp ausgearbeitet werden.
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Zukünftige Studien sollten neben quantitativen Protein-expressions-Daten auch strukturelle Proteindaten und deren Verbindung zu somatischen und Keimzell-Mutationen sowie Krankheitsevolution untersuchen.
Die chronische lymphatische Leukämie (CLL) ist gekennzeichnet durch genetische und klinische Heterogenität.1–5 Vielschichtige Analysen der CLL mittels Genomik, Epigenomik (z.B. DNA-Methylierung) oder Transkriptomik (RNA-Expression) sowie des Arzneimittelansprechens ex vivo und deren Verbindung mit klinischen Parametern in grossen Patientenkohorten ermöglichten Einblicke in Genotyp-Phänotyp-Beziehungen. Neue prognostische Signaturen sowie therapeutische Zielstrukturen wurden entdeckt.6–10
Die Rolle vielschichtiger molekularer Datenanalysen bei Risikoprofilen der CLL
Indem sie DNA-Methylierungsdaten mit Daten zur RNA-Expression und zum klinischen Verlauf kombinierten, konnte die Gruppe von Prof. Dan Landau DNA-Methylierungs-Treibergene definieren, die mit dem «failure-free survival» bei CLL-Patienten assoziiert sind.9 Für diese Analysen entwickelten die Autoren eine neue statistische Inferenzmethode, die es ermöglicht, Veränderungen in der DNA-Methylierung zu identifizieren, die direkt an der Tumorevolution beteiligt sind. Damit begünstigte der Algorithmus die Entdeckung epigenetischer Mechanismen, die für die Überlebensfähigkeit von CLL-Zellen verantwortlich sind.9
Mittels Multi-Omics-Faktorenanalyse (MOFA) untersuchten die Gruppen von Dr. Wolfgang Huber und Prof. Thorsten Zenz Daten der Genomik, Epigenomik, Transkriptomik, des Arzneimittelansprechens ex vivo und des klinischen Verlaufs bei 217 CLL-Patienten. Dies ermöglichte die Entdeckung einer neuen unabhängigen prognostischen Signatur für die CLL, die invers assoziiert ist mit der Lymphozyten-Verdopplungszeit und den proliferativen Antrieb erfasst.10 Diese Signatur wurde als «CLL Proliferative Drive» (CLL-PD) bezeichnet und ist eine wichtige Determinante des Krankheitsverlaufs bei CLL.10
Solche integrativen Analysen haben das biologische Verständnis der CLL vorangebracht und eine bessere Risikobeurteilung sowie die Entdeckung potenzieller neuer Behandlungsziele ermöglicht. Die Beziehung zwischen Genmutationen und Tumorphänotypen blieb jedoch aufgrund der fehlenden Dimension der Proteinexpressionteilweise unbekannt.
Proteinexpression – die Brücke zwischen somatischen Mutationen und dem Tumorphänotyp
Die Proteinfunktion bestimmt die Zellfunktionalität und hat damit wesentlichen Einfluss auf die Krankheitsentwicklung.11,12 Bis vor Kurzem basierten die Studien zur globalen Proteinexpression in der CLL auf relativ kleinen Patientenkohorten (n=6–18).13–16 Unter Verwendung der Massenspektrometrie-basierten quantitativen Proteomik konnten trotzdem Proteinsignaturen der CLL nachgewiesen werden, einschliesslich der Hochregulierung von B-Zell-Rezeptor-Signalkomponenten,13 der Dysregulation von Spleissosomproteinen,13der Herunterregulierung von Proteinkinase-C-Signalmitgliedern14 und unterschiedlichen Profilen für unmutierte und mutierte IGHV(«Immunoglobulin heavy chain»)-CLL.15,16 Die kleinen Kohorten und unterschiedlichen methodischen Ansätze führten jedoch oft zu schlecht reproduzierbaren Ergebnissen.17
Um diesbezüglich Klärung zu schaffen, entwickelten wir eine neue datenunabhängige Massenspektrometrie(DIA-MS)-Methodik für die Analyse hämatopoetischer Zellsubpopulationen.18 Wir analysierten 117 CLL-Patientenproben auf Veränderungen der Proteinexpression und kombinierten die Resultate mit Daten der Genomik, Epigenomik, Transkriptomik, des Arzneimittelansprechens ex vivo und des klinischen Verlaufs für die gleichen Patienten.17 Trisomie 12 und der IGHV-Mutationsstatus zeigten sich als die Krankheitstreiber mit dem grössten Einfluss auf die Proteinspiegel in der CLL (1055 und 542 unterschiedlich exprimierte Proteine, FDR [«false discovery rate»] =5%). Wir untersuchten die Gen-RNA-Protein-Beziehungen für die Krankheitstreiber Trisomie 12 und Trisomie 19 und fanden unterschiedliche Grade von Gendosiseffekten. Eine stärkere Pufferung der Proteinspiegel mit hochregulierten RNA- und unveränderten Proteinwerten wurde beobachtet für Trisomie 19 im Vergleich zur Trisomie-12-CLL (p=0,0002, Kolmogorov-Smirnov-Test). Diese unterschiedlichen Grade der Proteinspiegel-Pufferung sind Beispiele für die zusätzliche Information, die im Vergleich zur Transkriptomik und Genomik durch Proteinspiegelmessungen gewonnen werden kann (Abb. 1).17
Abb. 1: Koordinierte, unkoordinierte und widersprüchliche Veränderungen der Protein- und RNA-Expression in CLL.17,23 Zirkuläres Heatmap-Diagramm mit transkriptomischen und proteomischen Daten für Gene auf Chromosom 12 von CLL-Patienten mit oder ohne Trisomie 12
Wir stellten die Hypothese auf, dass die Bildung von Proteinkomplexen dazu beiträgt, das stöchiometrische Gleichgewicht von Proteinen in der CLL aufrechtzuerhalten. Tatsächlich zeigten Chromosom-12-kodierte Proteine, von denen bekannt ist, dass sie Teil stabiler Proteinkomplexe sind, ein höheres Mass an Pufferung als andere. Nicht gepufferte Proteine unterliegen dabei einem Selektionsvorteil. Angereichert unter nicht gepufferten Proteinen in Trisomie-12-CLL waren Mitglieder des PI3K-AKT-MTOR-Signalwegs, was diesen Signalweg mit der tumortreibenden Funktion der Trisomie 12 in Verbindung bringt.17
Um die Rolle der Proteinexpression für den Tumorphänotyp zu evaluieren, untersuchten wir Proteine, die mit dem klinischen Verlauf und dem Ansprechen auf Medikamente assoziiert sind. Wir entdeckten Proteinkandidaten mit Vorhersagekraft für die Zeit zur nächsten Patientenbehandlung («timetotreatment»), ein Mass der Krankheitsaggressivität bei CLL, und identifizierten die STAT2(«signal transducer and activator of transcription 2»)-Proteinexpression als prädiktiv für das Ansprechen von CLL-Zellen ex vivo auf Kinase-Inhibitoren.17
Zusammenfassung und Schritte für die Zukunft
Die vielschichtige Analyse der CLL mittels Genomik, Epigenomik, Transkriptomik, Proteomik, des Arzneimittelansprechens ex vivo und deren Verbindung zum klinischen Verlauf hat massgebend zum Verständnis grundlegender Prinzipien beigetragen, welche die RNA- und Proteinspiegel und ihre Beziehung zu somatischen Mutationen und Tumorphänotypen der CLL bestimmen.10,17
Potenzielle neue prognostische Signaturen und Kandidaten, die eine präzisere Risikobeurteilung ermöglichen, sowie potenzielle neue therapeutische Ziele wurden entdeckt (Abb. 2). Dabei sind insbesondere Veränderungen in der Proteinexpression von entscheidender Bedeutung, da die Proteinfunktionalität die Zellfunktion bestimmt und damit die Brücke zwischen Genotyp und Phänotyp bildet.
Abb. 2: Vielschichtige Analysen von CLL-Patienten ermöglichten detaillierte Einblicke in die Beziehungen zwischen Genmutationen und Tumorphänotypen. Die Abbildung wurde adaptiert von einer Darstellung von Dr. Junyan Lu. Die Proteindarstellung stammt von Meier-Abt et al.24
Die Proteinfunktionalität wird nicht nur durch die Proteinspiegel, sondern auch durch strukturelle Veränderungen beeinflusst.19,20 Viele Signalwege beruhen ausschliesslich auf strukturellen Veränderungen von Proteinen für ihre Aktivität.21,22 Zukünftige Studien sind erforderlich, um die Rolle dynamischer Veränderungen in der Proteinstruktur und ihre Beziehung zu somatischen und Keimzell-Mutationen sowie der Krankheitsevolution zu untersuchen.
Literatur:
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