Chirurgische Therapie bei Erfrierungen im urbanen Setting
Autorin:
Miriam Vosloo
Fachärztin für Gefäßchirurgie, Phlebologie, Ärztliche Wundexpertin ICW
Klinik für Chirurgie, Deutsches Gefäßzentrum
Franziskus Krankenhaus Berlin
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Erfrierungen im urbanen Setting kommen insbesondere bei wohnungs- oder obdachlosen Menschen zum Tragen, bei welchen sich begleitend gehäuft Alkohol- oder Drogenmissbrauch zeigt. Diese besondere Patientenklientel bedarf einer adaptierten chirurgischen Herangehensweise, da bei dritt- bis viertgradigen Erfrierungen oftmals eine Superinfektion im Grenzzonenbereich vorliegt und diese Menschen eine definitive und wenig komplexe zügige chirurgische Ausversorgung benötigen.
Keypoints
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Eine definitive chirurgische Ausversorgung sollte in einem einzeitigen, gegebenenfalls in einem zweizeitigen Verfahren erfolgen.
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Eine volle Belastbarkeit des amputierten Fußes sollte angestrebt werden.
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Auf die Notwendigkeit von Hilfsmitteln (Orthesen, Maßschuhe) kann sich im Anschluss kaum abgestützt werden.
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Fundierte Kenntnisse in der Amputationschirurgie und den dadurch entstehenden mechanischen Veränderungen in der Fußbelastung sind unerlässlich.
Erfrierung
Bei einer Erfrierung (engl. „frostbite injury“) handelt es sich um eine irreversible Gewebeschädigung, die durch Kälteexposition entstanden ist. Sie betrifft meist umschriebene Körperareale – die sogenannte örtliche Erfrierung. Sie entsteht bei extremer Kälte, welche vor allem in großer Höhe oder auch bei insbesondere obdachlosen Menschen begleitend bei Alkohol- und Drogenabusus sowie psychischen Erkrankungen gehäuft auftritt. Im vergangenen Jahrhundert wurde diese Erkrankungsentität ebenfalls im militärischen Setting beschrieben.1,2 Als Prädilektionsstellen zeigen sich besonders die Akren (Zehen, Finger, Nasen, Ohren). In Mitteleuropa kommt sie wesentlich seltener als Verbrennungen vor (1:35).3 Sie tritt etwa zehnmal häufiger bei Männern als bei Frauen auf. Der Erkrankungsgipfel zeigt sich zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr.
Pathophysiologisch kommt es zunächst zu einer verminderten Blutzufuhr durch Vasokonstriktion in den der Kälte besonders ausgesetzten Körperabschnitten und damit einhergehend zur Störung der Mikrozirkulation. Die Gewebeschädigung tritt durch Ausbildung von extrazellulären Eiskristallen ein, die die Zellmembran schädigen und dadurch die Zelle dehydrieren. In der Folge kommt es zu einem hyperosmolaren Zelluntergang. Es zeigt sich eine Ischämie mit eingeschränktem Gewebsstoffwechsel, thrombotischen Verschlüssen und Embolisation in den Kapillargefäßen. Durch die einsetzende Reperfusion bei der Wiederaufwärmung werden entzündliche Zytokine (Thromboxane, Prostaglandine) freigesetzt, welche zu einer Verstärkung der Gewebeschäden führen. Das Ausmaß und die Tiefe der Schädigung sind abhängig von der Dauer, der Temperatur, der auf das Gewebe auftreffenden Windtemperatur (engl. „wind chill“), der Feuchtigkeit und dem vorhandenen Bekleidungsschutz. Das endgültige Ausmaß eines lokalen Kälteschadens kann allerdings erst nach vier bis sechs Tagen festgestellt werden. Die Schweregradeinteilung erfolgt in vier Grade (Tab. 1).4 Die beiden oberflächlichen Erfrierungsgrade können meist ambulant verbleiben, im Grad III und IV sollte primär eine stationäre Behandlung erfolgen, ggf. auch in einem Zentrum für Brandverletzte.
Tab. 1: Schweregradeinteilung der Erfrierung (modifiziert nach Imray)4
Kälteschaden
Von der Erfrierung abzugrenzen ist eine zweite Erkrankungsentität, der sogenannte Kälteschaden, auch „non-freezing cold injury“ (NFCI) genannt. Dieser entsteht durch einen langsamen Temperaturverlust im Gewebe ohne direkte Erfrierung bei Abnahme der Körperkerntemperatur bis hin zur Hypothermie. Es kommt zur Ausbildung von Kältezittern und peripherer Vasokonstriktion. Bei protrahierter Unterkühlung finden sich wechselnde Phasen zwischen Vasokonstriktion und Vasodilatation einhergehend mit einer unvollständigen Schädigung des Gewebes. Es werden vier klinische Phasen unterschieden (Tab. 2). Eine Blasenbildung tritt selten auf. Eine Schädigung von Nervenfasern setzt frühzeitig (<10° Celsius) ein.
Tab. 2: Klinische Phasen der NFCI (erstellt nach Imray et al. 20115)
Empfohlen wird eine langsame Wiedererwärmung, idealerweise durch einen Luftstrahl mit 22–27° Celsius. Eine leichte Belastung der betroffenen Areale ist möglich; eine Verbandanlage nicht notwendig.
Frostnip, Perniones und Schützengrabenfuß
In der Literatur finden sich weitere Begrifflichkeiten, welche der Vollständigkeit halber mit aufgeführt werden sollen: bei einem Frostnip handelt es sich um die leichteste Form vor der einsetzenden Erfrierung, bei welcher die betroffenen Stellen geschwollen und rot zur Darstellung kommen. Die Behandlung besteht in einer Wiedererwärmung, bei der es zu Schmerzen und auch Pruritus kommen kann. Selten verbleibt eine leichte Kälteüberempfindlichkeit des vormals betroffenen Areals. Es bestehen keine bleibenden Schäden am darunterliegenden Gewebe.5 Perniones werden auch Frostbeulen genannt. Diese entstehen durch Gefäßveränderungen und sind gänzlich reversibel. Meist treten sie 12 bis 24 Stunden nach dem Kontakt zu Kälte oder Nässe auf. Die primäre Maßnahme ist die Vermeidung weiterer Kälteexposition sowie die topische Therapie mittels Kortikoidpräparaten.6 Der Schützengrabenfuß oder auch Immersionsfuß erhielt seine Bezeichnung aus dem militärischen Kontext heraus.7 Die Ursache ist eine lang dauernde feuchte Kälteeinwirkung. Meist werden periphere Nerven und Gefäße geschädigt; Muskel- und Hautgewebe kann in schweren Fällen auch betroffen sein. Initial zeigt sich ein solcher Fuß blass, kalt, ödematös, dys- bzw. anästhetisch sowie mit Gewebsmazerationen bis hin zu Ulzerationen. Aufwärmen verursacht Hyperämie, Schmerz und eine Hypersensitivität gegenüber leichter Berührung. Es besteht eine autonome Dysfunktion mit verstärktem oder vermindertem Schwitzen, einer Muskelatrophie und einer anhaltenden Dys- bzw. Anästhesie. Prophylaktisch gilt es, zu enge Stiefel zu vermeiden, Füße und Schuhe möglichst trocken zu halten und Socken häufig zu wechseln. Der betroffene Fuß sollte in warmem Wasser bei 37–39° Celsius wieder erwärmt werden und ein steriler Verband angelegt werden.
Abb. 1: Obdachloser Patient mit Erfrierungen beider Vorfüße. Eine primäre lokale Infekttherapie erfolgte bereits. Beginnende Mumifizierung der Zehen, plantares Gewebe typischerweise (durch Schädigung bei sitzender Position) stärker betroffen, Grenzbereich leicht ulzerös, linksseitig aufgrund Infektsituation primär bereits amputierte Kleinzehe
Abb. 2: Obdachloser Patient aus Abb. 1: stabiles postoperatives Ergebnis zur Entlassung. Im Bereich der primären Hautnähte erfolgte bei verbliebener Feuchtigkeit ein Betupfen mit Jod flüssig zur Adstringens. Füße wurden bereits voll belastet
Abb. 3: Obdachloser Patient aus Abb. 1: abschließende konventionelle Röntgendarstellung mit linksseitig basisnahem transmetatarsalem Absetzungsrand und gebrochenen Knochenkanten sowie rechtsseitig analogem Vorgehen im Bereich der Großzehenbasis
Diagnostik
Die möglichen diagnostischen Tools dienen zur prognostischen Abschätzung der Gewebeschädigung. Diese reichen über die Erhebung des peripheren Pulsstatus, der arteriellen Duplexsonografie, der Knochenszintigrafie oder auch MR- und CT-Angiografie bis hin zu invasiver Gefäßdarstellung. Hier muss im Einzelfall abgewogen werden, welche Diagnostiken die Therapiefestlegung beeinflussen können. Als neuere Diagnostikmethode ist der kontrastmittelverstärkte Ultraschall (CEUS) zu nennen, durch den es ohne Strahlenbelastung oder Invasivität zu einer exakten und frühzeitigen Perfusionseinschätzung kommt.8
Im Falle einer Amputation sollte mindestens die Basisgefäßabklärung durch Erhebung des peripheren Pulsstatus und einer cw-Doppleruntersuchung erfolgen. Sollten sich hier pathologische Befunde erheben lassen, ist eine weiterführende Gefäßdarstellung unerlässlich.
Abb. 4: Behandlungsalgorithmus Erfrierungen
Im Falle einer feuchten Gangrän oder gar Superinfektion sollten frühzeitig mikrobiologische Proben gewonnen werden, um eine gezielte antibiotische Begleittherapie zu initiieren.
Behandlung von Erfrierungen I. oder II. Grades9,10
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Entfernen nasser Kleidung
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Langsames Aufwärmen der betroffenen Körperpartien
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Warmes Wasser (37–39°C) mit ggf. antiseptischem Zusatz über 15–60 Minuten
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„Reiben“ zum Aufwärmen sollte nicht erfolgen. (Die Schmerzempfindung ist in den betroffenen Bereichen herabgesetzt, eine mechanische Gewebeschädigung möglich.)
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Lokale Wundversorgung: intakte Blasen belassen, große Blasen ggf. steril absaugen, Debridement offener Blasen
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Einsatz (parenteraler) Analgetika, inkl. Opioiden bei Wiedererwärmung (Ibuprofen: analgetisch und Anti-Prostaglandineffekt – 12mg/kgKG, 2x täglich)
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Schienung und Hochlagern der betroffenen Extremitäten – Ödemreduktion
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Vermeidung von Infektionen = grundlegende Bedeutung
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Tetanusprophylaxe
Behandlung von Erfrierungen III. oder IV. Grades
Intakte hämorrhagische Blasen sollten zunächst belassen werden, um eine sekundäre Austrocknung tiefer dermaler Schichten zu vermeiden. Eröffnete Blasen sollten frühzeitig debridiert werden. Eine gezielte antibiotische Begleittherapie zur Infektreduktion ist bei feuchter Gangrän sinnvoll. Bei schweren Gewebeschäden sollte eine Überwachung hinsichtlich der Ausbildung eines möglichen Kompartmentsyndroms erfolgen. Idealerweise wird die Ausbildung einer sogenannten Demarkationslinie abgewartet, sodass eine Amputation im Grenzzonenbereich möglich wird. Hier trifft die Aussage „freeze in january and amputate in june“ zu, da dieser Prozess durchaus einige Monate beanspruchen kann.11 Diese Herangehensweise ist allerdings nur bei Patienten mit einer großen Therapieadhärenz möglich, da regelmäßig Schutzverbände gewechselt und lokale Kontrollen erfolgen müssen. Hier kommt der plastisch-chirurgischen Behandlung eine enorme Bedeutung zu, da je nach Region eine Deckung mittels Lappenplastik infrage kommt sowie insbesondere im Handbereich die Funktionalität der einzelnen Finger weitestgehend erhalten bleiben soll. Daher ist für dritt- bis viertgradige Erfrierungen eine Behandlung im Brandverletztenzentrum empfohlen.
Die chirurgische Therapie von dritt- bis viertgradigen Erfrierungen im urbanen Setting bei Obdachlosen bedarf einer modifizierten Herangehensweise. Insbesondere aufgrund der schwierigen Therapieadhärenz der zumeist obdachlosen und nichtversicherten Patienten und ihrem begleitenden Alkohol- oder Drogenmissbrauch erfolgt die erste ärztliche Vorstellung oftmals erst Tage oder Wochen nach dem auslösenden Ereignis. Nicht selten zeigt sich bereits zu diesem Zeitpunkt eine lokale (im Grenzbereich der Erfrierung) oder auch systemische Infektsituation, die einer zeitnahen chirurgischen Sanierung bedarf. Hier sollte chirurgischerseits ein möglichst ein- bis zweizeitiges Vorgehen angestrebt werden, da nicht selten keine länger dauernde stationäre Behandlung erfolgen kann. Bei diesen Patienten sind fast immer die Vorfüße betroffen; manchmal betreffen die Erfrierungen auch den ganzen Fuß. Das Ziel der chirurgisch-operativen Maßnahmen sollte ein guter mechanisch funktioneller Fußstumpf sein, bei dem die notwendige Amputationshöhe einerseits so peripher wie möglich, andererseits unter Erhalt einer plantaren Gewebsdeckung festgelegt wird. Der Fuß wird unweigerlich frühzeitig voll belastet werden und sollte über jedem verbliebenen Knochen eine ausreichende Weichgewebsdeckung aufweisen, um aufkommende Druckspitzen ohne das Auftreten neuer Läsionen zu überstehen. Auf eine Majoramputation sollte nach Möglichkeit unter dem Aspekt der dauerhaft drohenden Immobilisierung verzichtet werden. Genaue Kenntnisse der Amputationschirurgie sind demnach elementar. Auch die Problematik der im Anschluss nicht oder nur kaum zur Verfügung stehenden Hilfsmittel wie Orthesen, Schutz- oder Maßschuhe ist in die Planung der operativen Versorgungsmethode mit einzubeziehen.
Literatur:
1 Geigel R: Die Erfrierung. In: Wetter und Klima. Springer 1924 2 van Dongen TTCF et al.: Frostbite: a systematic review on freezing cold injuries in a military environment. BMJ Mil Health 2023; e002171 3 Einteilung und Therapie kälteinduzierter Verletzungen The triaging and treatment of cold-induced injuries Dtsch Arztebl Int 2015; 112: 741-7; DOI: 10.3238/arztebl.2015.0741 4 Sachs C et al.: The triaging and treatment of cold-induced injuries. Dtsch Arztebl Int 2015; 112(44): 741-7 5 Imray CH et al.: Nonfreezing cold-induced injuries. J R Army Med Corps 2011; 157(1): 79-84 6 Englund SL, Adams BB: Winter sports dermatology: a review. Cutis 2009; 83(1): 42 7 Cappel JA, Wetter DA: Clinical characteristics, etiologic associations, laboratory findings, treatment, and proposal of diagnostic criteria of pernio (chilblains) in a series of 104 patients at Mayo Clinic, 2000 to 2011. Mayo Clin Proc 2011; 89(2): 207-15 8 Unkelbach U et al.: Kalte Klimazonen. In: Neitzel C, Ladehof K (Hg.): Taktische Medizin. Springer, 2012 9 Richter C et al.: Kontrastmittelverstärkter Ultraschall (CEUS): frühzeitige Amputationsprognose nach Erfrierungen. Ultraschall Med 2010; 31(S01) 10 Sachs C et al.: Erfrierungen. In: Lehnhardt M et al. (Hg.): Verbrennungschirurgie. Springer, 2016 11 McIntosh SE et al.: Wilderness Medical Society practice guidelines for the prevention and treatment of frostbite: 2014 update. Wilderness Environ Med 2014; 25(4 Suppl): S43-54 12 Oberhammer R, Cauchy E: Erfrierungen. In: Berghold F et al.: Alpin- und Höhenmedizin. Springer, 2019 13 Dow J et al.: Wilderness Medical Society clinical practice guidelines for the out-of-hospital evaluation and treatment of accidental hypothermia. 2019 update. Wilderness Environ Med 2019; 30(4 Suppl): S47-69 14 Hickey S et al.: Guidelines for thrombolytic therapy for frostbite. J Burn Care Res 2020; 41(1): 176-83 15 Hallam M et al.: Managing frostbite. BMJ 2010; 341: c5864
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