Wachstumslenkung der Wirbelsäule
Jatros
Autor:
Univ.-Prof. Dr. Martin Krismer
Direktor der Universitätsklinik für Orthopädie, Innsbruck<br>E-Mail: martin.krismer@i-med.ac.at
30
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11.05.2017
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<p class="article-intro">Deformitäten der Wirbelsäule des Kindes, welche lange vor Wachstumsabschluss ein erhebliches Ausmaß erreichen, werden durch chirurgische Wachstumslenkung der Wirbelsäule ohne Fusion behandelt. Die Behandlung ist aufgrund der Notwendigkeit mehrerer Eingriffe häufig belastend und komplikationsreich.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <p>Keypoints</p> <ul> <li>Das Wachstum auf der „gesunden Seite“ wird durch konvexseitige Fusion der Wirbelgelenke und konvexseitige Epiphyseodese der Bandscheiben und Apophysen reduziert.</li> <li>Wachstumslenkende Implantate wirken durch Schienung oder Distraktion.</li> <li>Behandlungsziele sind Verbesserung oder Halten der Ausgangskrümmung der Wirbelsäule und eine ausreichende Lungenfunktion.</li> <li>Materialbrüche, starke Kyphosen, zunehmende Wirbelsäulenrotation durch das „Crankshaft-Phänomen“ und belastungsbedingte Verhaltensänderungen stellen typische Komplikationen dar.</li> </ul> </div> <h2>Indikation</h2> <p>Die Indikation zur Wachstumslenkung ergibt sich unter anderem bei kongenitaler Skoliose und/oder Kyphose mit/ohne Rippensynostosen, infantiler und juveniler idiopathischer Skoliose, neuropathischer Deformität mit hoher Progression (Muskelatrophie/-dystrophie) und Myelomeninfgozele. <br />Vor Abschluss des 3. Lebensjahres muss die Indikation mit großer Vorsicht gestellt werden. Da sich Untersuchungen häufen, die als Folge von Operationen mit langer Narkosedauer bleibende Entwicklungsstörungen und schlechtere Lernleistungen im Vergleich zu Kontrollgruppen beschreiben, hat die FDA 2016 eine Warnung ausgesprochen: Lang dauernde Operationen sollten nur bei zwingender Indikation vor dem 3. Lebensjahr durchgeführt werden. Diese wird vor allem dann gegeben sein, wenn eine bleibende re­striktive Ventilationsstörung zu erwarten ist oder eine kongenitale Deformität ohne Intervention vor Abschluss des 3. Lebensjahres ein nur mehr mit hohem neurologischem Risiko behandelbares Ausmaß erreicht.<br />Das Lungenparenchym reift bis zum Ende des 5. Lebensjahres aus. Starke restriktive Ventilationsstörungen vor dem 5. Lebensjahr, bedingt durch eine Skoliose über Cobb 90° oder durch Thoraxfehlbildungen, lassen die Entwicklung eines für die Anstrengungen des Alltags ausreichenden Lungenparenchymvolumens nicht zu. Die Folgen sind Pneumonien und Cor pulmonale im weiteren Leben. Besonders kongenitale Deformitäten können rasch ein sehr hohes Ausmaß erreichen, z.B. bei Vorliegen eines langen „unsegmented bar“, einer knöchernen Verbindung mehrerer Wirbel auf einer Seite, evtl. noch vergesellschaftet mit Rippensynostosen. Mehrere Halbwirbel auf einer Seite zeigen ebenfalls massive Progredienz.<br />Je jünger ein Organismus, desto verformbarer ist der Thorax, und desto schwieriger ist es, über ein Korsett korrigierende Kräfte via Rippen auf die Wirbelsäule wirken zu lassen. Grundsätzlich gelingt dies bei kleinen Kindern eher durch Gipse oder Rumpforthesen, welche den Rumpf zirkulär fassen. Mit seriellen Gipsen lässt sich bei neuropathischen und kongenitalen Skoliosen der Operationszeitpunkt bis zu 3 Jahre verzögern. Auch bei kleinen Kindern gibt es andere chirurgische Techniken als Wachstumslenkung, und diese Techniken sind je nach Fall oft vorzuziehen, z.B. die Halbwirbelresektion bei Halbwirbeln, eine Keilresektion der Wirbelsäule bei massiven kongenitalen Deformitäten und die Kyphektomie bei massivem kongenitalem Gibbus im Rahmen einer Myelomeningozele.<br />Besonders die oben genannten Faktoren, aber auch weitere bestimmen bei dem heterogenen und seltenen Patientenkollektiv die Indikationsstellung und den richtigen Zeitpunkt der ersten chirurgischen Intervention.</p> <h2>Konvexseitige Epiphyseodese und einseitige dorsale Fusion</h2> <p>Wird die Wirbelsäule dorsal nur auf einer Seite im Bereich der Wirbelgelenke fusioniert, auf der anderen nicht, so wächst die Wirbelsäule auf der nicht fusionierten Seite stärker. Dieser Effekt lässt sich gut zur Wachstumslenkung nützen, indem die Konvexseite einer Krümmung dorsal fusioniert wird, meist ohne Implantate. Allerdings wachsen dann auch Bandscheiben und Wirbelkörper ungehindert weiter. Dies führt dazu, dass sich die Wirbelkörper im Laufe des Wachstums um die fusionierte Konvexseite zu drehen beginnen. Dies wird als Kurbelwellenphänomen oder Crankshaft-Phänomen beschrieben. Diese starke Rotation ist mit einer späteren Operation nicht mehr gut korrigierbar. Daher muss eine konvexseitige dorsale Fusion mit einer konvexseitigen Epiphyseodese von ventral verbunden werden. Dabei wird ganz peripher ein kleiner Bandscheibenabschnitt von ca. 1cm entfernt und es werden dort Knochenspäne eingebracht. Dazu ist eine Thorakotomie oder auch ein Zweihöhleneingriff erforderlich. Liegen die Rippen der Wirbelsäule nicht sehr eng an, kann dies auch über eine Thorakoskopie erfolgen. Die Kombination beider Eingriffe ist die Basis der Wachstumslenkung. Die dabei zu fusionierende Strecke sollte zumindest große Teile einer rigiden Hauptkrümmung betreffen. Von ventral ist die Strecke oft durch den Zugang begrenzt. Eine Überkorrektur kommt praktisch nicht vor.<br />Mit einer wahrscheinlich auf Moe zurückzuführenden Regel kann der Verlust an Körpergröße durch eine Fusion abgeschätzt werden:</p> <p>∆(cm)=N(a)×N(d)×0,07(cm)<br />Δ(cm) = Differenz zwischen Körperwachstum ohne und mit Fusion<br />N(a) = Anzahl der verbleibenden Jahre mit Körperwachstum<br />N(d) = Anzahl der Bandscheiben bzw. Bewegungssegmente, die fusioniert werden</p> <p>Wird ein Mädchen mit 11 Jahren fusioniert, hat es ca. 4 Jahre Körperwachstum vor sich. Werden 10 Bewegungssegmente fusioniert, so ergeben sich 2,8cm Wachstumsverlust. Die Formel ist wahrscheinlich empirisch schlecht belegt. Ein Problem ist die gleichzeitige Beeinflussung des Krümmungsausmaßes, was nur schlechte Schätzungen zulässt. Grundsätzlich gilt: besser kurz und gerade als kurz und krumm.</p> <h2>Korrektur durch Implantat</h2> <h2>Schrauben-Stab-Konstrukt</h2> <p>Das erste Implantat war ein Harrington-Distraktionsstab, subkutan unter eine Hautbrücke gelegt, befestigt mit je einem Haken kranial und kaudal. Dieser Stab wurde am oberen Haken jedes Jahr weiter aufgespreizt. Reichte die Länge nicht mehr, wurde der Stab ausgetauscht. Heute sind mehrere konkurrierende Verfahren üblich:</p> <ul> <li>Einfaches Schrauben-Stab-Konstrukt: Bei manchen Implantaten gibt es dazu spezielle Bausteine zum Verlängern. Nachteilig sind die jährlich notwendigen Verlängerungen (Abb. 1).</li> <li>Shilla: Fixation des Apex mit 2 Pedikelschrauben pro Wirbel, welche die 2 Stäbe fixieren, sowie Fixation der Endwirbel (und angrenzenden Wirbel) mit Schrauben mit Gleitloch. Der Vorteil ist eine gute initiale Korrektur mit Derotation. Nachteile sind die häufig eintretende Spontanfusion sowie die Metallose, welche auch regionäre Lymphknoten betrifft. Operationen sind seltener notwendig, nur dann, wenn die Stablänge nicht mehr ausreicht.</li> <li>Distraktion mit Magnetmotor: Der Motor wird im Rahmen eines Schrauben-Stab-Konstrukts verwendet. Durch Verlängerung alle 3 Monate mit Magnet von außen und sonografische Kontrolle der Verlängerung sind weitere Eingriffe nur notwendig, wenn der Motor das Ende seiner Distraktionslänge erreicht hat (Abb. 2).</li> </ul> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s15.jpg" alt="" width="1458" height="2008" /><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s16_1.jpg" alt="" width="1456" height="1218" /></p> <p> </p> <p>Bei den drei genannten Verfahren wird eine Schrauben-Stab-Konstruktion verwendet, bei Shilla mit einem abweichenden Instrumentationsmuster. Shilla ist ein Verfahren mit innerer Schienung, ermöglicht dadurch, dass die Stäbe in den Schraubenlöchern gleiten können. Ähnliches wurde früher mit dem „Luque-trombone“ erreicht, bei welchem Stäbe in sublaminären Drahtcerclagen befestigt wurden und frei gleiten konnten. Damit waren sehr hohe Spontanfusionsraten zu beobachten, daher wird versucht, mit einer transkutanen Technik bei Shilla die spontane Fusion zu reduzieren.<br />Die sehr teuren Magnetdistraktoren haben eine besondere Indikation bei Muskelatrophien und -dystrophien, weil hier im Vergleich mit anderen Indikationen eine erhöhte Komplikationsrate durch pulmonale Komplikationen bei Operationen besteht und die Operationsfrequenz so niedrig wie möglich gehalten sollte.<br />Eine Korsettfixation während der Behandlung wird bei Shilla für 6 Wochen empfohlen. Sonst ist sie nur in begründeten und ausgewählten Fällen erforderlich, z.B. bei schlechter Fixationsqualität, nach mehreren Schraubenausrissen, selten bei exzessiven Bewegungen durch neurologische Erkrankungen.</p> <h2>VEPTR („vertical expandable prosthetic titanium rib“)</h2> <p>VEPTR hat einen anderen Ansatz und wird daher getrennt abgehandelt. Es wurde zur Behandlung des kongenitalen Thorax-Insuffizienz-Syndroms entwickelt. Es werden Rippenklammern und ein verlängerbares Schienensystem verwendet. Die häufige Lage zwischen Scapula und Thorax erfordert ein möglichst flaches Konstrukt. Häufig werden 2 Schienen-Klammern-Systeme verwendet (Abb. 3).<br />Beim kongenitalen Thorax-Insuffizienz-Syndrom finden sich nicht selten flächige Rippensynostosen, bei denen mehrere Rippen zu einer knöchernen Platte verwachsen sind. Solche Platten werden ein- oder zweimal in Verlaufsrichtung der Rippen osteotomiert. Dann kann das Thoraxvolumen durch Aufspreizen deutlich erweitert werden. Eine Korsettfixation während der Behandlung ist nicht erforderlich.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s16_2.jpg" alt="" width="1456" height="1559" /></p> <h2>Beckenfixation bei Myelomeningozele</h2> <p>Eine Myelomeningozele betrifft naturgemäß die Lendenwirbelsäule. Meist findet sich der Apex der Krümmung am kranialen Ende des offenen Spinalkanals. Ziel ist vor allem auch eine Korrektur des Beckenschiefstands bei fehlender Hautsensibilität im Gesäß. Hier ist dann eine Beckenfixation notwendig, in Kombination mit einem Schrauben-Stab-Konstrukt. Das Ilium ist häufig sehr dünn, bedingt durch fehlende Muskelkraft der ans Ilium ansetzenden Muskeln. In diesen Fällen hat es sich bewährt, den Distraktionsstab so zu biegen, dass er an der Ala des Sacrums einhakt. Zur Sicherung gegen Dislokation wird eine Schraube in L4 eingebracht (Dunn-McCarthy-Fixation).</p> <h2>Probleme mit Implantaten</h2> <p>Grundsätzlich gilt, dass bei allen Verfahren initial am meisten Korrektur erreicht wird, mit zunehmender Behandlungsdauer die Wirbelsäule im Bereich der Distraktionsstrecke immer rigider wird und bei finalem Ausbau und Fusion häufig nur mehr wenige Bewegungssegmente beweglich sind. Mit Ausnahme der Schienung mit der Shilla-Instrumentation (und Luque-Trombone) verwenden alle Systeme die Distraktion als Korrekturmechanismus. Dorsale Distraktion der Wirbelsäule, wenngleich vorwiegend auf der Konkavseite, bedeutet, dass die Wirbelsäule kyphosiert wird. Dadurch wird der Verlauf des Distraktionsstabes oder der Stäbe im­mer mehr gekrümmt, und distrahierende Kräfte werden dadurch geringer.<br />Stabbrüche und Schraubenausrisse kommen häufig vor, in ca. 40 % aller Behandlungsverläufe. Es gibt keinen Beleg dafür, dass eine Korsettfixation diese Komplikationsrate verringert. Mit Zwei­stab-Konstrukten tritt diese Komplikation etwas weniger häufig auf.<br />Die Korrelation zwischen Korrektur der Wirbelsäulenkrümmung und Verbesserung der Lungenfunktion ist leider nicht besonders gut. Einerseits hat dies vermutlich damit zu tun, dass die Neubildung von Alveolen zwar bis in die Adoleszenz erfolgt, allerdings ab dem 2. Lebensjahr deutlich abnimmt. Ein früh eingetretenes Defizit kann dann nicht mehr aufgeholt werden. Andererseits könnten breitflächige Pleuraadhäsionen nach Osteotomie von Rippensynostosen ein Problem darstellen. Der Sachverhalt ist auch schwierig zu untersuchen, da Lungenfunktionsproben bei Kindern unter 5–6 Jahren an der mangelnden Kooperation scheitern.<br />Kinder, welche oft operiert werden, sind psychisch belastet. Aggression und rollenbrechendes Verhalten wurden beschrieben. Je früher der Beginn der Behandlung, desto ausgeprägter sind die Änderungen. Bei sehr häufig operierten Kindern tritt allerdings eine Besserung ein, die mit „posttrau­matischer Reifung“ erklärt wird.</p> <h2>Behandlungserfolg</h2> <p>In den meisten Fällen ist die Krümmung nach Behandlungsabschluss nicht stärker als bei Behandlungsbeginn, häufig deutlich besser. Die zugrunde liegende Pathologie bestimmt stark das Ergebnis im Einzelnen. Rumpfverkürzungen oder abschnittweise Verkürzungen der Wirbelsäule bei Myelomeningozele und kongenitalen Deformitäten sind auch der Pathologie geschuldet. Die Lungenfunktion ist ebenso abhängig von der Pathologie, z.B. bei Muskelerkrankungen oder Thorax-Insuffizienz-Syndrom. Angesichts der Schwere der Erkrankung bei Behandlungsbeginn wird in den meisten Fällen durch die Wachstumslenkung ein Leben ohne starke Behinderung durch die Wirbelsäulenverkrümmung ermöglicht.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p>• Akbarnia B, Emans JB: Complications of growth-sparing surgery in early onset scoliosis. Spine 2010; 35: 2193-204• Campbell RM et al: Expansion thoracoplasty: the surgical technique of opening-wedge thoracostomy. Surgical technique. J Bone Joint Surg Am 2004; 86: 51-64 • McCarthy RE, McCullough FL: Shilla growth guidance for early-onset scoliosis: results after a minimum of five years of follow-up. J Bone Joint Surg Am 2015; 97: 1578-84 • Metkar U et al: Magnetically controlled growing rods for scoliosis surgery. Expert Rev Med Devices 2017; 14: 117-26</p>
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