Innovative Ansätze zur Wiederherstellung der Zunge
Autor:innen:
Dr.med. Nicole E. Speck
PD Dr.med. Laurent Muller
Prof. Dr.med. Dirk J. Schaefer
PD Dr.med. Tarek Ismail
Klinik für plastische, rekonstruktive und ästhetische Chirurgie, Universitätsspital Basel
Korrespondierender Autor:
PD Dr.med. Tarek Ismail
E-Mail: tarek.ismail@usb.ch
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Die «funktionelle Rekonstruktion» im Kopf-Hals-Bereich, insbesondere der Zunge, erfordert chirurgische Präzision und konsequente Rehabilitation. Innovative Techniken wie die mikrovaskuläre, sensibilisierte freie Gewebetransplantation bieten vielversprechende Wege zur massgeschneiderten Wiederherstellung von Form und Funktion.
Keypoints
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Die «funktionelle Rekonstruktion» im Kopf-Hals-Bereich erfordert eine interdisziplinäre Behandlung an einem hochspezialisierten Zentrum mit enger Kooperation zwischen Kopf-Hals-Tumorchirurgie, plastisch-rekonstruktiver Chirurgie und Rehabilitation. Ziel ist, eine optimale Schluck- und Sprechfunktion zu erzielen und die Lebensqualität der Patient:innen zu verbessern.
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Bei der «funktionellen Tumorresektion» wird darauf geachtet, die anatomischen Strukturen, insbesondere die Zungennerven und -muskulatur, chirurgisch darzustellen und – unter Einhaltung einer R0-Resektion mit Sicherheitsabstand – so gut wie möglich zu schonen.
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Innovative Techniken wie der mikrovaskuläre, sensibilisierte freie Gewebetransfer mittels eines sensibilisierten PAP-Lappens vom inneren Oberschenkel ermöglichen die massgeschneiderte Rekonstruktion komplexer Zungendefekte.
Eine «funktionelle Rekonstruktion» im Kopf-Hals-Bereich ist essenziell, um sowohl Form als auch physiologische Funktionen und damit die Lebensqualität nach Trauma, Tumorresektion oder bei angeborenen Fehlbildungen wiederherzustellen. Die rekonstruktive Chirurgie in diesem Gebiet ist besonders herausfordernd aufgrund der komplexen Anatomie und der Notwendigkeit, lebenswichtige Funktionen wie Atmen, Schlucken und Sprechen zu erhalten oder wiederherzustellen. Unter den verschiedenen Strukturen im Kopf-Hals-Bereich kommt der Zunge eine herausragende Bedeutung zu. Sie spielt eine zentrale Rolle bei der Artikulation von Sprache, dem Schlucken und der Geschmackswahrnehmung. Die Anatomie der Zunge ist beim Menschen einzigartig, und die genaue Auflösung der Nervenfunktion des Nervus lingualis und Nervus hypoglossus ist bemerkenswert. Damit leistet die Zunge einen entscheidenden Beitrag zur Lebensqualität. So haben Studien gezeigt, dass Patient:innen nach Tumoren im Kopf-Hals-Bereich eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit haben, an einem Suizid zu sterben, als nach anderen Tumoren.1 Die «funktionelle Rekonstruktion» der Zunge erfordert daher eine sorgfältige Berücksichtigung von anatomischen Strukturen und Funktion.2
Einer der innovativsten Ansätze zur funktionellen Zungenrekonstruktion beinhaltet die Kombination einer funktionellen Tumorresektion mit der mikrovaskulären freien Gewebetransplantation (freie Lappenplastiken). Bei der funktionellen Tumorresektion wird darauf geachtet, die anatomischen Strukturen, insbesondere die Zungennerven und die Zungenmuskulatur chirurgisch darzustellen und – sofern es onkologisch vertretbar ist – zu schonen. Grund für diese sorgfältige Gewebepräparation ist, dass die komplexe Zungenmotorik nach Entfernung grosser Anteile der Zungenmuskulatur und der Zungennerven bislang nicht mit rekonstruktiven Methoden wiederhergestellt werden kann. Das Ziel einer R0-Resektion mit Sicherheitsabstand sollte unbedingt eingehalten werden. Zudem sollten geschlossene Zugänge bevorzugt und klassische Manöver, wie zum Beispiel die vorübergehende Unterkieferspaltung wann immer möglich vermieden werden. In gewissen Fällen bietet eine roboterassistierte Resektion Vorteile, da traditionelle offene Zugänge oft zu höherer Morbidität und damit verbunden zu einer Verlängerung der Heilungsphase führen. Die anschliessende freie Lappenplastik ermöglicht die Transplantation von körpereigenem Gewebe aus entfernten Regionen wie dem Unterarm oder dem Oberschenkel, um komplexe Defekte der Zunge wiederherzustellen. Die Wahl des Spendergewebes hängt von verschiedenen Faktoren ab, einschliesslich der Grösse des Defekts, der resezierten anatomischen Strukturen und des allgemeinen Gesundheitszustandsbzw. Körperbaus der Patient:innen.
Massgeschneiderte Zungen-rekonstruktion
Mehrere Entnahmestellen kommen für eine funktionelle Zungenrekonstruktioninfrage:der Unterarm (Radialislappen), der Oberarm (Oberarmlappen), der äussere Oberschenkel («Anterolateral thigh»-[ALT]-Lappen) oder der innere Oberschenkel («Profunda artery perforator»[PAP]-Lappen).3,4 Der PAP-Lappen vom inneren Oberschenkel wurde vor Kurzem als rekonstruktive Option für ausgedehnte Zungendefekte beschrieben.5 Er ist insbesondere bei sehr schlanken Patient:innen vorteilhaft, die am äusseren Oberschenkel nicht über ausreichend Gewebe für einen ALT-Lappen verfügen. Die dabei entstehende Narbe am inneren Oberschenkel ist gut versteckt. Dieses Gewebesegment – als freier Lappen bezeichnet – wird sorgfältig präpariert und geformt, damit er dem fehlenden Teil der Zunge ähnelt. Mikrochirurgische Techniken werden dann angewendet, um die Blutgefässe und Nerven des freien Lappens mit denen am Empfängerort zu verbinden. Dabei kommt der Rekonstruktion der Nerven eine besondere Bedeutung zu. So haben mehrere Studien im Kopf-Hals-Bereich gezeigt, dass freie Lappen mit Nervenanschluss («sensibilisierte Lappen») eine bessere postoperative Sensibilität aufwiesen als Lappen, bei denen kein Nervenanschluss erfolgte.6 Eine Wiederherstellung der Zungensensibilität wiederum ist essenziell, um Speisen auf der Zunge lokalisieren und sie dann kauen zu können.7
Sobald der Lappen erfolgreich am Empfängerort eingeheilt ist, spielen Rehabilitation und Sprachtherapie (Logopädie) eine entscheidende Rolle bei der Optimierung funktioneller Ergebnisse.8 Patient:innen nehmen mehrmals pro Woche an logopädischenÜbungseinheiten teil, um Zungenbewegungen, Schluckmuster und Sprachartikulation neu zu erlernen. Ziel der Rehabilitation ist es, eine optimale Funktion und Lebensqualität zu erreichen.
Ergebnisse aus 2 Jahren Erfahrung
Seit 2023 untersuchen wir die funktionelle Resektion mit unmittelbarer Rekonstruktion von ausgedehnten (subtotalen und totalen) Zungendefekten mit sensibilisierten PAP-Lappen vom inneren Oberschenkel standardmässig im Rahmen einer prospektiven Pilotstudie (EKNZ-Nummer 2023-00938).9 Zu diesem Thema haben wir bereits mehrere Arbeiten publiziert, so etwa eine Metaanalyse, die den Einfluss der häufig benötigten Strahlentherapie auf das postoperative Lappenvolumen untersuchte.10 In der bisherigen Studienzeit haben sechs Patient:innen diese Art der Zungenrekonstruktion erhalten. Dabei wurde der am Lappen enthaltene Nervenast des Nervus cutaneus femoris posterior mit dem Zungennerv (Nervus lingualis) transoral unter Lupenbrillenvergrösserung verbunden. In den Nachuntersuchungen hat sich gezeigt, dass alle zum Zeitpunkt von sechs Monaten untersuchten Patient:innen eine Schutzsensibilität der Zunge im Sinne einer Temperatur- oder Schmerzempfindung erlangt haben. Die 2-Punkte-Diskrimination, ein wichtiger Marker, um Speisen auf der Zunge genau lokalisieren und somit kauen zu können, verbesserte sich zwischen drei und zwölf Monaten postoperativ signifikant (>10mm zum Zeitpunkt von 3 Monaten vs. 6mm zum Zeitpunkt von 12 Monaten; p-Wert=0,026). Die postoperative Schluckfunktion, die mittels etablierter «MD Anderson Deglutition Scale» gemessen wurde, war 12 Monate postoperativ vergleichbar mit einer früheren Studie, welche die Funktion nach sensibilisierten ALT-Lappenplastiken vom äusseren Oberschenkel untersucht hatte.11
Fallbeispiel
Abb. 1a: Präparierter PAP-Lappen mit den Blutgefässen (**, Arterie und Vene) sowie einem Nervenast des N. cutaneus femoris posterior (*).
Abb. 1b: Ergebnis 6 Monate postoperativ nach vollständiger Einheilung des Lappens. Das mit * markierte Gewebe entspricht dem ursprünglichen Gewebe in Abb. 1a, welches vom linken Oberschenkel entnommen wurde.
Exemplarisch beschreiben wir den Fall eines 70-jährigen Patienten mit einem Plattenepithelkarzinom am rechten Mundboden und an der Zunge (Tumorstadium pT3 pN0 cM0). Nach interdisziplinärer Besprechung am Kopf-Hals-Tumorboard wurden bei dem Patienten durch die Kopf-Hals-Tumorchirurgie eine Tracheotomie, ausgedehnte «funktionelle Tumorresektion» (R0-Resektion) unter Schonung der nicht durch den Tumor betroffenen Strukturen – so etwa der Nervenfasern des Nervus hypoglossus in Richtung Zungengrund und extrinsische Zungenmuskulatur –, beidseitige Hals-Lymphknoten-Dissektion Level I–V sowie eine Entfernung der Unterkieferspeicheldrüsen beidseits durchgeführt. Hieraus resultierte ein grosser Defekt mit verbleibendem beidseitigem Zungengrund und linken Zungenanteilen. Beide Zungennerven (Nervi linguales) mussten tumorbedingt mitreseziert werden. Der Nerv auf der rechten Seite wurde jedoch nach proximal freigelegt und ein Nervenstumpf gelöst zum späteren Nervenanschluss. Aufgrund der Defektgrösse und dem fehlenden Gewebe am äusseren Oberschenkel entschieden wir uns für eine plastisch-chirurgische Rekonstruktion mittels freier PAP-Lappenplastik vom linken inneren Oberschenkel. Bild 1 zeigt den präparierten PAP-Lappen mit den Blutgefässen (**, Arterie und Vene) sowie einem Nervenast des N. cutaneus femoris posterior (*). Bild 2 zeigt das Ergebnis 6 Monate postoperativ nach vollständiger Einheilung des Lappens. Das mit * markierte Gewebe entspricht dem ursprünglichen Gewebe in Bild 1, welches vom linken Oberschenkel entnommen wurde. Der Patient betreibt ein Jahr postoperativ einmal wöchentlich Logopädie. Seine Sprache ist gut verständlich, sodass auch Telefongespräch möglich sind. Er ist noch auf eine Ernährungssonde angewiesen, kann jedoch pürierte und weiche Speisen schlucken, was darauf hinweist, dass die Sensibilität des rechten Nervus lingualis durch die Operation wiederhergestellt wurde. Die Atmung funktioniert wie vor der Operation ohne Trachealkanüle. Dieses Ergebnis ist bemerkenswert, denn allzu oft sind solche Eingriffe mutilierend und Patient:innen lebenslang auf eine Trachealkanüle oder Sondennahrung angewiesen mit dadurch deutlich reduzierter Lebensqualität und eingeschränktem Sozialleben. Insofern unterstreicht dieses Fallbeispiel die Wichtigkeit einer funktionellen Rekonstruktion aus Patientensicht.
Schlussfolgerungen
Die funktionelle Rekonstruktion im Kopf-Hals-Bereich, insbesondere bei Beteiligung der Zunge, erfordert einen multidisziplinären Ansatz, der chirurgische Expertise, rehabilitative Versorgung und laufende Forschungsergebnisse integriert. Durch die Kombination innovativer chirurgischer Techniken wie mikrovaskulärer, sensibilisierter freier Lappenplastiken mit umfassenden Rehabilitationsstrategien können Kliniker:innen an spezialisierten Zentren den Patient:innen helfen, essenzielle Funktionen wiederzugewinnen und die Lebensqualität nach komplexen Kopf-Hals-Operationen zu verbessern.
Funding:
Diese prospektive Studie wird finanziell unterstützt durch die Swiss Cancer Foundation und propatient Forschungsstiftung Universitätsspital Basel.
Literatur:
1 Osazuwa-Peters N et al.: Suicide risk among cancer survivors: Head and neck versus other cancers. Cancer 2018; 124(20): 4072-79 2 Chang EI et al.: Comprehensive analysis of functional outcomes and survival after microvascular reconstruction of glossectomy defects. Ann Surg Oncol 2015; 22(9): 3061-9 3 Hsiao HT et al.: Radial forearm versus anterolateral thigh flap reconstruction after hemiglossectomy: Functional assessment of swallowing and speech. J Reconstr Microsurg 2008; 24(2): 85-92 4 Largo RD et al.: The profunda artery perforator flap: A versatile option for head and neck reconstruction. Plast Reconstr Surg 2021; 147(6): 1401-12 5 Ismail T et al.: Profunda artery perforator flap tongue reconstruction: An effective and safe alternative to the anterolateral thigh flap. Plast Reconstr Surg 2024; 153(6): 1191e-1200e 6 Baas M et al.: A systematic review on the sensory reinnervation of free flaps for tongue reconstruction: Does improved sensibility imply functional benefits? J Plast Reconstr Aesthet Surg 2015; 68(8): 1125-35 7 Shindo ML et al.: Sensory recovery in noninnervated free flaps for head and neck reconstruction. Laryngoscope 1995; 105(12 Pt 1): 1290-3 8 Pérez IMM et al.: Exercise-based rehabilitation on functionality and quality of life in head and neck cancer survivors. A systematic review and meta-analysis. Sci Rep 2023; 13(1): 8523 9 Speck NE et al.: Neurotized profunda artery perforator flap for subtotal tongue reconstruction – Prospective case series. J Plast Reconstr Aesthet Surg 2024; 95: 35-42 10 Pfister P et al.: Impact of adjuvant radiochemotherapy on free flap volume in head and neck reconstruction: A systematic review and meta-analysis. J Plast Reconstr Aesthet Surg 2024; 91: 24-34 11 Yu P: Reinnervated anterolateral thigh flap for tongue reconstruction. Head Neck 2004; 26(12): 1038-44
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