«Ärzt:innen haben ein Interesse, Patient:innen zu empowern»
Chantal Britt vom Swiss PPIE Network erklärt im Interview, warum die Mitwirkung von Patient:innen im Schweizer Gesundheitswesen gefördert werden sollte und was man dafür tun kann.
Das Swiss PPIE Network setzt sich für eine verstärkte Patient:innenbeteiligung im Gesundheitswesen ein. Am 16. November veranstaltet das Netzwerk ein Symposium zum Thema – warum braucht es das in der Schweiz?
Die Schweiz ist nicht unbedingt ein Vorbild, wenn es um die Einbindung von Patient:innen ins System und bei Entscheidungen geht. Wir hinken hier 20 Jahre hinten nach, vor allem im regulativen Bereich, wenn es darum geht, Prioritäten in der Versorgung und Forschung mitzubestimmen. Mit dem Symposium wollen wir eine Plattform schaffen, wo sich verschiedene Stakeholder und Interessierte austauschen können. Was funktioniert schon, was nicht, woran scheitert es und wie kann man Herausforderungen und Blocker überwinden? Im besten Fall sollen alle voneinander lernen und konkrete Lösungsvorschläge bringen.
Welche Herausforderungen und Blocker gibt es denn derzeit im System?
Unser Gesundheitswesen besteht aus rigiden Strukturen, teilweise falschen Anreizen und ineffizienten Prozessen, und es gibt ein klares Machtgefälle. Es sind immer noch Ärzt:innen, die Entscheidungen treffen, und oft ohne Einbindung der Patient:innen, weil akademisches Wissen als wichtiger eingestuft wird als individuelle Erfahrungen. Natürlich haben Ärzt:innen eine grosse Verantwortung, aber gleichzeitig sollen Patient:innen auch mehr Eigenverantwortung übernehmen. Oft ist in diesem Zusammenhang die Rede von «patient education», was meiner Meinung nach aber einen paternalistischen Beigeschmack hat. Es fehlt in der Diskussion an Wertschätzung und Anerkennung der Erfahrungsexpertise der Patient:innen. Vor allem im Bereich der chronischen Erkrankungen. Es braucht einen Austausch auf Augenhöhe. Ärzt:innen haben hier die Pflicht, Patient:innen so aufzuklären, dass sie selbst die richtigen Entscheidungen treffen oder jenen der Ärzt:innen bewusst zustimmen oder ablehnen können. Wenn diese Aufklärung nicht stattfindet, besteht keine informierte Einwilligung.
Das heisst, Ärzt:innen sollten sich mehr Zeit für Patient:innen nehmen? Keine neue Forderung, aber schwierig in Zeiten einer Versorgungskrise …
Gerade dann, wenn man weniger Zeit für Patient:innen hat, sollte man diese gut nutzen. Man sollte gemeinsam mit Patient:innen Prioritäten erarbeiten. Was ist jetzt wichtig, was brauchen Sie in diesem Moment, welches Bedürfnis steht im Vordergrund? Da braucht es keine zehn Fragebögen oder unnötige Abklärungen. Wenn man sich auf das Wesentliche und zu dem Zeitpunkt Wichtigste konzentriert, hilft das auch den Ärzt:innen, Bürokratie zu reduzieren. Patient:innenbeteiligung geht aber noch viel weiter als das Gespräch in den Praxen.
Und zwar?
Sie müssen auch in der Forschung, innerhalb von Institutionen und bei Reformen im Gesundheitswesen eingebunden werden. Zum Beispiel bei der Entwicklung des elektronischen Patient:innendossiers – da hätten sowieso von Anfang an mehrere Gruppen eingebunden werden sollen. Bei diesem und ähnlichen Projekten im Zusammenhang mit einer Versorgung, wo die Menschen im Zentrum stehen sollten, würde eine Analyse der Bedürfnisse aller Nutzer:innen Sinn machen.
Gibt es Best-Practice-Beispiele aus dem Ausland?
Die nordischen Länder, die Niederlande und Grossbritannien z. B. leisten gute Arbeit im Bereich der Patient:innenbeteiligung. Interessanterweise ist es in der Schweiz so, dass die Romandie hier viel weiter ist als die Deutschschweiz. In der Romandie gibt es an den Universitätsspitälern bereits eigene Programme für eine verstärkte Patient:innenbeteiligung. Das zeigt für mich, dass es sich um eine Haltungs- oder Kulturfrage handelt, denn die Rahmenbedingungen sind in allen Regionen der Schweiz mehr oder weniger dieselben.
Was sind also konkrete Forderungen des Swiss PPIE Networks?
Es braucht einen Paradigmenwechsel, eine Haltungsänderung und konkrete Förderung eines systematischen Einbezugs auch auf institutioneller Ebene, denn derzeit werden solche Bemühungen oft von Freiwilligen getragen. Patient:innenvertreter:innen müssen entschädigt und aktiv in Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Während der Pandemie und durch Social Media ist die Health Literacy gestiegen, die Leute setzen sich mehr mit Gesundheit auseinander und sind bereit, Verantwortung zu übernehmen. Das kann negative Auswirkungen haben, wie bei der Impfskepsis, aber auch durchaus positive. Auf diese sollten wir uns konzentrieren und gleichzeitig Bedenken und Ängste ernst nehmen. (Das Interview führte Katrin Grabner.)
Zur Person:
Chantal Britt
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Berner Fachhochschule
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