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«Das Fass ist voll. Es braucht rasche Lösungen»
FMH-Präsidentin Dr. Yvonne Gilli kritisiert im Interview den Kostendruck im Gesundheitswesen. Der Ärzteverband drängt umgekehrt auf die Tarifreform.
Welche Auswirkungen können die Volksinitiativen zu Kassenprämien aus Sicht der Ärzteschaft generell bzw. für die Ärzteschaft speziell haben?
Beide Initiativen versprechen tiefere Prämien, haben aber ganz unterschiedliche Ansätze. Die Kostenbremse-Initiative koppelt die Entwicklung der Kosten in der obligatorischen Krankenversicherung an die Konjunktur. Das ist ein fataler Fehler und eine Katastrophe für die Gesundheitsversorgung der Schweiz. Wäre die Kostenbremse-Initiative im Jahr 2000 eingeführt worden, würde heute über ein Drittel der Leistungen der Grundversicherung nicht mehr vergütet. Rationierung und lange Wartezeiten in der Grundversicherung wären die Folge. Diese Zweiklassenmedizin trifft die Menschen, die auf eine solidarisch finanzierte Gesundheitsversorgung angewiesen sind. Der Hintergrund ist, dass ja bei schlechter wirtschaftlicher Entwicklung die Gesundheitskosten steigen. Es wird umgekehrt auch für die Wirtschaft wichtig sein, wie gut dann die Versorgung ist, damit sich die Wirtschaft erholen kann. Es gibt kein Beispiel in einem anderen Land, wo eine solche Kostengrenze erfolgreich war. Es wird aber auch in der Umsetzung dann nicht einfach werden, die Kostengrenze festzulegen und das dann jährlich zu prüfen. Wir haben schon jetzt zu viel Regulation und Administration im System und darunter leiden wir schon jetzt. Wir bekämpfen die Kostenbremse deshalb in einer grossen Allianz.
Und die Prämien-Entlastungsinitiative?
Hier wird die Prämienlast an das Einkommen gebunden. Prämien dürfen nicht mehr als 10 Prozent des verfügbaren Einkommens ausmachen. Das ist ein anderer Mechanismus und wäre ein Systemwechsel im sozialen Ausgleich. Das wirkt sich nicht im Sinne eines Kostendaches aus. Die FMH hat dazu noch keine Parole gefasst, es gibt Teile in der Ärzteschaft, die das unterstützen. Die Bevölkerung muss bei beiden Initiativen entscheiden, wie viel Geld man in das System speist. Wir erwarten, dass ohnehin der Kostendruck steigen wird. Die Frage ist, wie man eine gute Versorgung aufrechterhalten kann.
Welche Herausforderungen sehen Sie generell?
Einer ist die Preispolitik der Schweizer Regierung selbst, die Generikapreise so drückt, dass Anbieter aus dem Markt gehen. Wir kommen auch nicht weiter mit den Verhandlungen mit der EU. Die Schweiz ist ein immer kleinerer Markt, der immer unattraktiver wird für Pharmaindustrie. Dazu kommen Lieferkettenproblem bis hin zur Rohstoffbeschaffung. Auch Lagerhaltungen wurden überall aus ökonomischen Gründen abgebaut. Wir wünschen uns eine politische Sensibilisierung, im Bereich der Tiefstpreispolitik und ein stärkeres Bewusstsein dafür, in den Verhandlungen mit der EU weiterkommen zu müssen. Und wir wünschen uns sehr pragmatische Hilfestellungen, dass man etwa besser konfektionieren und Teilpackungen abgeben kann. Die Hürden müssen jedenfalls niedriger werden, um verfügbare Arzneimittel besser verteilen zu können. Es gibt Arbeitsgruppen der Bundesämter, die versuchen mit Stakeholdern Lösungen zu finden – was wir aber nicht wissen ist, wie sich vorhandene Lagerbestände heute verteilen. Die Frage für die Zukunft ist auch, wie Pflichtlagerhaltungen angelegt und verteilt werden.
Wo sehen Sie die grössten Probleme für Ärzt:innen?
Wir haben noch wichtige Herausforderungen vor uns in einem im internationalen Vergleich immer noch hervorragenden Gesundheitswesen: Wir hoffen, dass die einheitliche Finanzierung von stationären und ambulanten Leistungen gelingt und der Bundesrat die längst fällige ambulant Tarifreform genehmigt. Die Gesundheitsfachpersonen sind unter grossem Druck und deshalb ist der Fachkräftemangel unser grösstes zukünftiges Problem. Nur attraktive Arbeitsbedingungen und mehr Ausbildungsplätze werden hier Abhilfe schaffen.
Was heisst das im Detail?
Die fehlende einheitliche Finanzierung zwischen ambulant und stationär behindert die Ambulantisierung. Das bremst die Qualitätsentwicklung in der ambulanten Versorgung. Ein Gesetz dazu wurde ja verabschiedet, aber es wurde dagegen Referendum ergriffen. Wir müssen also warten und schauen, wie das ausgeht. Verzögerungen gibt es auch bei der Tarifreform. Das System ist völlig veraltet, die Digitalisierung und Interprofessionalität sind nicht abgebildet. Die Zeitleistung wiederum ist untertarifiert zu Gunsten technischer Verrichtungen. Das ist demotivierend für Hausärztinnen und Hausärzte. Wir haben ja eine Reform in Tarifgemeinschaft erarbeitet, das liegt aber seit vier Jahren beim Bundesrat. Das Fass ist jetzt voll, hier braucht es eine rasche Genehmigung. Je länger das verzögert wird, desto schwieriger wird es den Tarif wieder zu aktualisieren. Die Medizin hat sich ja in den vergangenen Jahren stark entwickelt. Diese Verzögerungen führen zu weiteren Verzerrungen in der Gesundheitsversorgung.
Und die anderen Punkte?
Wir bilden einfach selbst auch zu wenig Medizinerinnen und Mediziner aus. Das führt zu einem Fachkräftemangel vor allem in der Hausarztmedizin. Wir versuchen die Politik hier zu sensibilisieren. Ein anderes Thema ist die Interprofessionalität – hier gibt es viele Hürden für die Zusammenarbeit. Meist ist die interprofessionelle und interdisziplinäre Koordination nicht oder genügend vergütet, so dass die gewünschte Zusammenarbeit nicht möglich, oder deutlich erschwert wird. Dazu kommt die hohe Administrationslast. Zusammengenommen ist diese Entwicklung nicht sinnstiftend und auch nicht effizient für den Beruf. (Das Interview führte Martin Rümmele)
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