E-Mental-Health-Interventionen in der stationären Psychiatrie
Autor:innen:
Dr. med. Astrid Habenstein
David Herzig
Dr. med. Christian Imboden
Privatklinik Wyss AG
Münchenbuchsee
E-Mail: Astrid.habenstein@pkwyss.ch
E-Mental-Health-Interventionen erobern die Fachzeitschriften und Kongresse. Wie sieht es in der Praxis aus? Dieser Artikel diskutiert Nutzen und mögliche Schwierigkeiten bei der Implementierung von E-Mental-Health-Interventionen in der stationären psychiatrischen Praxis und präsentiert die Erfahrungen der Privatklinik Wyss AG (PKW) mit Blended-Therapie seit dem Jahr 2021.
Keypoints
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Blended-Interventionen haben das Potenzial, die Therapiedichte zu erhöhen.
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Der Implementierungsprozess von Blended-Therapie sollte begleitet, pilotiert und gut strukturiert werden.
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Die Fokussierung auf eine überschaubare Anzahl an digitalen Tools, deren Inhalte die Therapeut:innen kennen, senkt die Anwendungsschwelle.
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Es ist zu empfehlen, Problem-aktivierende digitale Inhalte therapeutisch aktiv zu begleiten.
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Fortlaufende Supervision von Therapeut:innen in der Anwendung digitaler Tools hilft, Barrieren früh zu erkennen und anzugehen.
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Der weitere Zugang zu digitalen Interventionen nach Klinikaustritt kann für die Transition hilfreich sein.
Digitale Interventionen besitzen aufgrund der selbstgesteuerten Anwendung und kontinuierlichen Verfügbarkeit ein vielversprechendes Potenzial, die Effektivität psychiatrisch-psychotherapeutischer Routinebehandlungen zu erhöhen.1 Erste Wirksamkeitsnachweise existieren bereits.2 Auch im stationären Setting zeigen Studien bei hospitalisierten Patienten im akutpsychiatrischen Setting3 sowie bei schweren psychischen Erkrankungen4 Hinweise für eine Wirksamkeit als Add-on-Therapie.
Der Implementierungsprozess
Patienten und Therapeuten äussern eine hohe Bereitschaft, digitale Tools im Rahmen der psychiatrisch-psychotherapeutischen Therapie zu nutzen. Nach der anfänglichen Euphoriephase stellte sich in verschiedenen Studien jedoch heraus, dass die Implementierung und Anwendung von E-Mental-Health-Interventionen in der stationären Therapie keine Selbstläufer sind.5 So beeinflusst die Form der Implementierung im Anwendersystem den klinischen Einsatz, wobei sich zentralisierte und klar strukturierte Implementierungsformen positiv auf die Umsetzung auszuwirken scheinen.6
In der Privatklinik Wyss AG (PKW) wurde die Strukturierung gewährleistet durch:
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Begleitung des Implementierungsprozesses durch einen Projektmanager während der ersten zwei Jahre
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Start auf zwei Pilotstationen (Kriseninterventions- und Psychotherapiestation)
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regelmässige Treffen zur Evaluation (Bottom-up-Feedback)
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regelmässige Optimierungen der Organisation (Top-down-Entscheidungen)
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Evaluation und Abschluss der Pilotphase
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Ausweitung auf die Gesamtklinik nach Pilotierung
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Einführungsveranstaltungen in den jeweiligen Teams
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Festlegung von Applikationsverantwortlichen und konkreten Ansprechpartnern in den jeweiligen Teams
Auswahl der Inhalte & Einarbeitung
Online-Plattformen wie MindDistrict ( minddistrict.com ) verschreiben sich einem transdiagnostischen Ansatz, indem sie verschiedene Symptome wie Schlafstörungen, Emotionsregulationsstörungen oder Einsamkeit, Erkrankungen wie Depressionen oder Sucht bzw. therapeutische Strategien wie Dankbarkeits- oder Achtsamkeitstrainings in Form von eigenständigen Modulen adressieren. Sie eignen sich durch den möglichen Einsatz bei verschiedenen Krankheitsbildern besonders für stationäre Institutionen.
Aus dem Modulkatalog der Plattform MindDistrict erfolgte eine Auswahl von zunächst nur fünf Einstiegsmodulen mit der Fragestellung, welche der Module die bestehenden gruppentherapeutischen Angebote der Klinik optimal ergänzen würden. Eine interdisziplinäre Umfrage ergab, dass Ärzte, Psychologen und Pflegepersonal einen Bedarf an den Angeboten Schlaf, Emotionsregulation, Selbstwert, Verhaltensaktivierung und poststationäre Nachsorge wahrnahmen.
Gemäss der Forschungsgruppe um Prof.Dr.phil. Thomas Berger, Psychologisches Institut der Universität Bern, sollten Therapeuten die Inhalte der verwendeten digitalen Tools in einer Blended-Therapie gut kennen.7 Durch die Einschränkung auf ausgewählte Module konnten sich Therapeuten profunde einarbeiten, was sich in der klinischen Arbeit als hilfreich erwies. Die Module wurden erst nach Abschluss der Pilotphase und Einbezug der Gesamtklinik durch weitere Angebote ergänzt und auf insgesamt 15 Module erhöht. Die aktuelle Zuweisungsfrequenz der Module in unserer Klinik ist in Abbildung 1 ersichtlich.
Abb. 1: Anzahl der Zuweisungen der Module, Juni–Juli 2023
Ergänzende vs. transformierende Blended-Therapie
Es existieren verschiedene Möglichkeiten zur Einbindung digitaler Anwendungen in die Routinetherapie, die sich auf einem Kontinuum abbilden lassen: von einer therapieergänzenden, patientengesteuerten Bearbeitung von Selbsthilfemodulen (ergänzende Blended-Therapie) bis hin zu einer vom Therapeuten im Rahmen der Einzelgespräche begleiteten und unterstützten Bearbeitung der gewählten Module (transformierende Blended-Therapie).7 Eine transformierende Blended-Therapie hat positive Auswirkungen auf die Adhärenz der Patienten8 und hierdurch einen wesentlichen Einfluss auf die Wirksamkeit von E-Mental-Health-Interventionen.9
Unsere eigenen Ergebnisse finden sich in Abbildung 2. Die Adhärenz stellte sich bei ressourcenorientierten Modulen als hoch heraus, während neutrale Module bereits eine geringere Adhärenz zur Folge hatten. Problemorientierte Module wurden häufig sogar gar nicht bearbeitet. Die hohe Compliance bei Schlaftagebüchern – welche bei Insomnie regelhaft angewendet werden sollten10 – interpretieren wir als Folge des störungsinhärenten kognitiven Fokus auf das Monitoring des Schlafes bei Insomnie. Die inhaltsabhängig unterschiedliche Adhärenz von Patienten legt einen flexiblen Ansatz der Blended-Therapie je nach Ressourcen- oder Problemorientierung der Module nahe. Wir unterstützen demnach Patienten in ihrer Arbeit an neutralen und aversiven Modulen besonders aktiv, während ressourcenorientierte Module kaum therapeutisch begleitet werden.
Abb. 2: Anzahl der Tagebucheinträge pro zugewiesenem Modul, Juni–Juli 2023(Legende: grün: positive Inhalte; orange: neutrale Inhalte; rot: aversive Inhalte)
Supervision der Therapeuten
In der Patientenbefragung am Ende der Pilotphase zeigte sich, dass die Mehrheit der Patienten die digitalen Therapieinhalte als hilfreiche Unterstützung empfunden hatte, die Begleitung der digitalen Arbeit durch die Therapeuten jedoch als unzureichend beurteilten. Eine Blended-Therapie ähnelt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Therapie mit einer konsequenten Begleitung durch therapeutische Hausaufgaben. Dieses Ergebnis interpretieren wir daher im theoretischen Kontext der Studienergebnisse zu therapeutischen Hausaufgaben. Die Wirksamkeit von therapeutischen Hausaufgaben für das Outcome einer Psychotherapie ist vielfach belegt,11 viele Therapeuten zeigen dennoch eine ambivalente Haltung gegenüber therapeutischen Hausaufgaben.12,13 Befürchtungen sind unter anderem, dass therapeutische Hausaufgaben die Therapiebeziehung belasten oder die Patienten überfordern könnten. Selbst in kognitiv-behavioralen Psychotherapien stellte eine Studie durch Peretz et al. 202314 bei nur 60% der Therapiesitzungen eine Hausaufgabenvergabe fest. Da sich jedoch auch bei E-Mental-Health-Interventionen eine erhebliche Non-Adhärenz feststellen lässt, ist die aktive therapeutische Begleitung digitaler Hausaufgaben ebenfalls unerlässlich.8 In Konsistenz mit diesbezüglichen Expertenempfehlungen15,16 ergab sich bei uns die Notwendigkeit einer verstärkten Supervision von Therapeuten bei der Vergabe und der Begleitung von Hausaufgaben, insbesondere beim Umgang mit Non-Adhärenz.
Der Nutzen digitaler Interventionen im stationären Setting
Therapeuten stellen besonders offensichtliche Vorteile bei Patienten fest, deren stationärer Aufenthalt freitags beginnt (bei üblicherweise stark eingeschränkten therapeutischen Angeboten am Wochenende). Durch das Aufschalten passender digitaler Therapieinhalte können Patienten häufig bereits über das Wochenende in eine therapeutische Arbeitshaltung finden und zu Wochenbeginn schon erste Verhaltensänderungen diskutiert werden. Als weiteren Vorteil bewerten Therapeuten die Konstanz der digitalen Arbeitsumgebung über den Austritt hinaus. Die Zeit nach einem Klinikaustritt ist eine Hochrisikophase für Suizide,17 sodass konstante therapeutische Interventionen während dieser Zeit besonders wichtig scheinen. Zahlreiche Patienten, die während des stationären Aufenthalts regelmässig Gebrauch von MindDistrict machten, nutzen das Tool auch nach dem Austrittstermin. Die merkliche Unterstützung bei Therapieeinstieg und -ausstieg könnte die Effektivität kürzerer Klinikaufenthalte begünstigen.
Literatur:
1 Erbe D et al.: Blending face-to-face and internet-based interventions for the treatment of mental disorders in adults: systematic review. J Med Internet Res 2017; 19(9): e306 2 Fuhrmann LM et al.: Additive effects of adjunctive app-based interventions for mental disorders – a systematic review and meta-analysis of randomised controlled trials. Internet Interv 2023; 35: 100703 3 Bendig E et al.: Blended care in in-patient acute psychiatric care. The example of a group training for social competences in adults-a pretest-posttest feasibility study. Int J Environ Res Public Health 2021; 18(18): 9433 4 Ehrt-Schäfer Y et al.: Feasibility, adherence, and effectiveness of blended psychotherapy for severe mental illnesses: scoping review. JMIR Mental Health 2023; 10: e43882 5 Van Assche E et al.: E-mental health implementation in inpatient care: exploring its potential and future challenges. Front Digit Health 2022; 4: 1027864 6 Gervind E et al.: The influence of organizational models on the implementation of internet-based cognitive behavior therapy in primary care: a mixed methods study using the RE-AIM framework. Internet Interv 2023; 35: 100698 7 Bielinski LL et al.: Die Mischung macht’s eben? Blended-Psychotherapie als Ansatz der Digitalisierung in der Psychotherapie [All in the mix? Blended psychotherapy as an example of digitalization in psychotherapy]. Psychotherapeut 2021; 66(5): 447-54 8 Buelens F et al.: Usage of unguided, guided, and blended care for depression offered in routine clinical care: Lessons learned. Internet Interv 2023; 34: 100670 9 Haller K et al.: Who benefits from guided internet-based interventions? A systematic review of predictors and moderators of treatment outcome. Internet Interv 2023; 33: 100635 10 Mikoteit T et al.: Behandlungsempfehlungen Insomnie der Gruppe «Schlaf & Psychiatrie» der SGSSC. Swiss Medical Forum 2023; 23(50): 1500-5 11 Ryum T et al.: Integrating between-session homework in psychotherapy: a systematic review of immediate in-session and intermediate outcomes. Psychotherapy (Chic) 2023; 60(3): 306-19 12 Fehm L, Kazantzis N: Attitudes and use of homework assignments in therapy: a survey of German psychotherapists. Clinical Psychology & Psychotherapy 2004; 11: 332-43 13 Kazantzis N et al.: A national survey of practicing psychologists‘ use and attitudes toward homework in psychotherapy. J Consult Clin Psychol 2005; 73(4): 742-8 14 Peretz G et al.: Machine learning model to predict assignment of therapy homework in behavioral treatments: algorithm development and validation. JMIR Form Res 2023; 7: e45156 15 Haarhoff BA, Kazantzis N: How to supervise the use of homework in cognitive-behavior therapy: The role of trainee therapist beliefs. Cogn Behav Pract 2007; 14(3): 325-32 16 Prasko J et al.: Homework in cognitive behavioral supervision: theoretical background and clinical application. Psychol Res Behav Manag 2022; 15: 3809-24 17 Chung D et al.: Meta-analysis of suicide rates in the first week and the first month after psychiatric hospitalisation. BMJ Open 2019; 9(3): e023883
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