Ein Hilferuf von der Insel der Glückseligen
Bericht: Regina Scharf, MPH
Redaktorin
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Seit Monaten ist bekannt, dass die weltweite Nachfrage von GLP-1-Rezeptoragonisten zur Behandlung von Diabetes Typ 2 und Adipositas Lieferschwierigkeiten verursacht. Der «Call for Action» an der gemeinsamen Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) und der Swiss Society for the Study of Morbid Obesity and Metabolic Disorders (SMOB) trägt nun Früchte: Die SMOB veröffentlichte evidenzbasierte Empfehlungen für die Triage von Patienten mit Übergewicht und Adipositas.
Die Lieferschwierigkeiten bei den GLP-1-Rezeptoragonisten (GLP-1-RA) beschäftigen seit Monaten Patienten und Ärzte. Die Medikamente werden zur Behandlung bei Diabetes Typ 2 (T2D) und Adipositas eingesetzt. Während in der T2D-Therapie alternative Behandlungsmöglichkeiten existieren, gestaltet sich die Situation bei den Antiadipositasmedikamenten schwierig. Wie Prof. Dr. med. Bernd Schultes vom Stoffwechselzentrum St. Gallen anhand eigener Daten zeigte, sank die Zahl der abgegebenen Liraglutid-Pens (Saxenda®) in der letzten Woche der Monate August bis November auf null. Der Grund: Dem Stoffwechselzentrum wurde jeweils nur eine limitierte Anzahl an Medikamenten geliefert und diese reichten nicht bis zum Ende des Monats. «Der dadurch verursachte Stress für die Patienten und das Personal im Stoffwechselzentrum sei enorm», so Schultes. Trotz der grossen Nachfrage habe man im Stoffwechselzentrum zudem seit Mai letzten Jahres keine Neueinstellungen auf den GLP-1-RA mehr vorgenommen. «Die bereits begonnenen Behandlungen weiter sicherzustellen, hat für uns im Moment Priorität», so der Stoffwechselspezialist.
Dosisreduktion führt zur Gewichtszunahme
Um in dieser Situation die Medikamentenabgaben besser kontrollieren zu können, wird am Stoffwechselzentrum mithilfe eines einfachen Computerprogramms für jeden einzelnen Adipositaspatienten kalkuliert, für welchen Zeitraum Medikamente abgegeben wurden und ab wann wieder ein Bezug möglich ist. Dieses Vorgehen habe sich als hilfreich erwiesen. Das Problem lösen tut es aber nicht. «Sind keine Medikamente mehr verfügbar, empfehlen wir den Patienten, die Dosis zu reduzieren.»
Für den Spezialisten ist das ein Dilemma: «Aus Studien mit dem GLP-1-Analogon wissen wir, dass die Gewichtsreduktion dosisabhängig ist.»1 Anders gesagt: Reduzieren wir die Dosis, nimmt der Patient an Gewicht zu. Das ist abgesehen von dem Frust für die Patienten auch deshalb bedeutsam, weil die Kostenübernahme für das Antiadipositasmedikament durch die Krankenversicherer an Therapieziele gebunden ist.2 So müssen Patienten mit einem BMI ≥28kg/m2 und <35kg/m2 in der initialen Behandlungsphase (16 Wochen) mit Saxenda mindestens 5% und Patienten mit einem BMI ≥35kg/m2 mindestens 7% ihres Ausgangsgewichts verloren haben. Während der anschliessenden 6 Monate beträgt die geforderte Gewichtsabnahme bei einem BMI ≥28kg/m2 und <35kg/m2 mindestens 10% und bei Patienten mit einem BMI ≥35 kg/m2 mindestens 12% gegenüber dem Ausgangsgewicht.
Obwohl die Limitatio ohnehin vorschreibt, dass Saxenda in Kombination mit einer kalorienreduzierten Ernährung und einer verstärkten und z.B. mittels Schrittzähler belegten körperlichen Aktivität angewendet werden muss, reichen diese Massnahmen nur in Ausnahmefällen aus, um das Körpergewicht bei einer reduzierten Medikamentendosis zu kontrollieren.3
Unter diesen Umständen wurde die erstmalige Verfügbarkeit von Wegovy® (Semaglutid), einem weiteren GLP-1-RA zur Behandlung von Patienten mit schwerem Übergewicht, ab November letzten Jahres in der Schweiz begrüsst (Anm. d. Redaktion: Die Zulassung in der Schweiz erfolgte bereits vor über anderthalb Jahren).4 Doch auch hier erfolgte die Abgabe wegen Lieferproblemen von Anfang an kontingentiert. Dazu kommt ein weiteres Problem: Wegen des noch nicht festgelegten Preises und der noch fehlenden Aufnahme auf der Spezialitätenliste werden die Kosten für Wegovy von der obligatorischen Krankenversicherung zum jetzigen Zeitpunkt nicht übernommen. «Das Problem mit der fehlenden Kostenübernahme wird sich zunehmend auch bei Saxenda stellen», sagte Schultes und verwies auf die Limitatio. Gemäss dieser werden die Medikamentenkosten maximal für 3 Jahre vergütet.
Bariatrische Chirurgie als primäre Therapieoption
Aufgrund der schwierigen Versorgungssituation gewinnt die bariatrische Chirurgie erneut an Bedeutung. «Vielleicht sollten wir vor der Neueinstellung mit einem GLP-1-Analogon zuerst abklären, ob die Patienten die jährlichen Behandlungskosten von ca. 2500 Franken nach Ablauf der Kostenübernahme bezahlen können», schlug Bernd Schultes vor. Sofern die Voraussetzungen erfüllt sind, könne alternativ auch ein bariatrischer Eingriff in Erwägung gezogen werden. «Wir haben sehr gute Evidenz dafür, dass die Lebenserwartung der Betroffenen nach einem bariatrischen Eingriff um durchschnittlich 6 Jahre zunimmt», so Schultes.5 Solche Daten lägen für den Einsatz der GLP-1-RA in der Adipositasbehandlung noch nicht vor. «Die bariatrische Chirurgie ist aus meiner Sicht eine Option, die auch zukünftig als primäre Behandlung in Erwägung gezogen werden sollte.»
Fachgesellschaften sind gefordert
Eine Lösung für das Problem der Lieferschwierigkeiten ist bis auf weiteres nicht absehbar. Nicht nur der dänische Hersteller Novo Nordisk, auch der direkte Konkurrent aus den USA, Eli Lilly, berichtet über Nachschubprobleme bei den GLP-1-RA. Indes ist die weltweite Nachfrage riesig und wird – wie Beispiele aus den USA, dem grössten Wachstumsmarkt für Antiadipositasmedikamente, zeigen – durch die öffentliche Werbung weiter getriggert. «In der Schweiz, eine Art Insel der Glückseligen, wo man es nicht gewohnt ist, dass man etwas nicht bekommt, das man gerne möchte, ist das Unverständnis gross», sagte Prof. Dr. med. Katharina Timper vom Universitätsspital Basel. Gleichzeitig hat der Druck auf die Endokrinologen, Patienten mit Adipositas wegen der damit verbundenen metabolischen und kardiovaskulären Folgen zu behandeln, zugenommen. Dafür verantwortlich waren die Daten der SELECT-Studie, in der das Risiko für den primären kardiovaskulären (CV) Endpunkt nach einer durchschnittlichen Therapiedauer mit Semaglutid (1x wöchentlich 2,4mg) von 34 Wochen bei Patienten mit Übergewicht oder Adipositas und einer etablierten CV Erkrankung, aber ohne T2D verglichen mit Placebo um 20% gesenkt wurde.6 Der Trend hin zu einer konsistenten Reduktion zeigte sich bei jeder einzelnen Komponente des zusammengesetzten Endpunkts, auch bei der Gesamtmortalität.7 Die Gewichtsreduktion unter Semaglutid betrug im Mittel 10%. Diese wurde nach 10 Wochen erreicht und blieb bis zum Studienende stabil.
«Ein Ausweg aus dem Dilemma ist nur möglich, indem wir die Patienten triagieren», sagte Katharina Timper und rief die Fachgesellschaften SAMO (Arbeitsgemeinschaft für Metabolismus und Obesitas) und SMOB dazu auf, entsprechende Empfehlungen zu erarbeiten. In der Zwischenzeit hat die SMOB reagiert und Kriterien zur Priorisierung der Therapie mit Semaglutid (2,4mg) bei Patienten mit kompliziertem Übergewicht oder mit Adipositas publiziert.8 Wir präsentieren Ihnen hier einen Auszug (Tab. 1). Für die vollständigen Empfehlungen verweisen wir Sie auf die Website der SMOB: www.smob.ch.
Tab. 1: Spezifische Empfehlungen der SMOB zur Priorisierung der Therapie mit Semaglutid (2,4mg) bei Patienten mit kompliziertem Übergewicht oder mit Adipositas8
Quelle:
Gemeinsame Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) und der Swiss Society for the Study of Morbid Obesity and Metabolic Disorders (SMOB), 16. und 17. November, Bern
Literatur:
1 Wilding JPH et al.: Weight regain and cardiometabolic effects after withdrawal of semaglutide: the STEP 1 trial extension. Diabetes Obes Metab 2022; 24: 1553-64 2 Fachinformation Saxenda®: www.swissmedicinfo.ch , Stand Oktober 2023 3 Spezialitätenliste: www.spezialitätenliste.ch 4 Fachinformation Wegovy®: www.swissmedicinfo.ch , Stand August 2023 5 Syn N et al.: Association of metabolic-bariatric surgery with long-term survival in adults with and without diabetes: a one-stage meta-analysis of matched cohort and prospective controlled studies with 174772 participants. Lancet 2021; 397: 1830-41 6 Lincoff AM et al.: Semaglutide and cardiovascular outcomes in obesity without diabetes. N Engl J Med 2023; 389: 2221-32 7 Ferrera A et al.: Obesity and overweight: the elephant in the room that we can not longer ignore: time to select treatments. High Blood Press Cardiovasc Prev 2024; Feb 4 8 Schultes B et al.: SMOB recommendations for prioritization of 2.4mg semaglutide therapy in patients with complicated overweight or obesity. www.smob.ch 9 Kosiborod MN et al.: Semaglutide in patients with heart failure with preserved ejection fraction and obesity. N Engl J Med 2023; 389: 1069-84 10 Sharma AM, Kushner RF: A proposed clinical staging system for obesity. Int J Obes 2009; 33: 289-95
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