Psychische Symptome und Belastungen bei Verletzungen im Leistungssport
Autoren:
Dr. Alexander Schorb1
Univ.-Prof. Dr. Dr. Günter Schiepek1,2
1Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg
2Institut für Synergetik und Psychotherapieforschung Paracelsus Medizinische Privatuniversität
Salzburg
Korrespondierender Autor:
Dr. Alexander Schorb
E-Mail: a.schorb@salk.at
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Psychische Symptome und Belastungen im Sport können sich als sportspezifische und -unspezifische Störungen zeigen. Sie können die Leistung mindern, das Risiko für körperliche Verletzungen erhöhen und eine Rehabilitation erschweren. In dieser Übersicht werden Wechselwirkungen von psychischer Gesundheit, Leistung und Verletzungen im Sport dargestellt.
Wechselwirkung von psychischer Gesundheit, Leistung und Verletzungen
Psychische Gesundheit, körperliche Gesundheit und Leistung stehen in Wechselwirkung zueinander.1 Psychische Symptome und Belastungen im Sport können nicht nur Einfluss auf die Leistung haben, sondern auch das Risiko für körperliche Verletzungen erhöhen und eine anschließende Rehabilitation verlängern.2 Verletzungen wiederum haben einen Einfluss auf die Leistung und stellen Belastungen und Risiken für die psychische Gesundheit dar. Nicht erkannte oder nicht adäquat berücksichtigte psychische Belastungen und Störungen bei Leistungssportlern können gravierende gesundheitliche und manchmal auch existenzielle Konsequenzen haben.3
Organisationsbedingte Belastungen, physische Überbelastungen, Trainingslast (Umfang, Frequenz, Intensität), Körperbeeinträchtigungen und -einschränkungen sowie mögliche Übertrainingszustände müssen mitberücksichtigt werden.4 Darüber hinaus spielen Parameter der Mentalität wie beispielsweise Zuversicht, Leistungsstreben und Motivation eine wichtige Rolle und liefern auch Ansatzpunkte für die Sportpsychologie. Im Rahmen von sportpsychologischen Interventionen können Belastungsgrenzen nochmals verschoben werden, was wiederum das Auftreten von Überbelastungen wahrscheinlicher macht.5 Sportliche Überbelastungen können sich psychisch in Form von Irritabilität, Reizbarkeit und emotionaler Instabilität zeigen4, im fortgeschrittenen Stadium auch als Depression, außerdem die Koordination und Bewegungseffizienz stören sowie auch Einfluss auf Immunparameter haben. Dauerhafte Überbelastungs- und Stresszustände führen interessanterweise zu einem überaktiven Immunsystem.4 Im Sport können erfahrungsgemäß Infekte und Entlastungsdepressionen insbesondere nach Großereignissen auftreten, wenn der psychische Druck nachlässt.
Möglichkeiten der Prozess-erfassung im Sport
Abb. 1: Gemittelte dynamische Komplexität aller Items des SPB. Die vertikale Linie zeigt den Tag der Verletzung an. Die dynamische Komplexität identifiziert kritische Instabilitäten, bevor ein Phasenübergang erfolgt und im weiteren Verlauf das Verletzungsereignis stattfindet
Tab. 1: Items und Themenschwerpunkte („Faktoren“) des Sport-Prozessbogens (SPB)
Biomechanische Verletzungen treten mit höherer Wahrscheinlichkeit bei Sportlerinnen und Sportlern mit Überbelastungszuständen auf.2 Solche Überbelastungszustände können mit dem Synergetischen Navigationssystem (SNS) dargestellt werden.6,7 Ein Beispiel für ein solches Monitoring lieferte ein junger Fußballer, der nach einer Depression rezidivprophylaktisch behandelt und mit dem SNS begleitet wurde. In der Vorbereitungsphase auf die neue Saison hatte er sich einen Kreuzbandriss zugezogen. Die SNS-Daten zeigten dabei bereits im Vorfeld der Verletzung eine deutlich veränderte Dynamik der erfassten Zeitreihen und eine erhöhte dynamische Komplexität.8 Die dynamische Komplexität ist ein Kennwert, der in einem Gleitfenster berechnet wird und die Amplitude, Frequenz und Verteilung von Werten über eine Skala kombiniert.9 In vielen, völlig unterschiedlichen Systemen ist die dynamische Komplexität vor dem Auftreten von Musterübergängen (Phasenübergängen) deutlich erhöht, also ein Marker kritischer Instabilität (Abb. 1). Die Prozesserfassung erfolgt in diesem Fall mit dem Sport-Prozessbogen (SPB), der im Moment erprobt und validiert wird (Tab. 1). Mit solchen Daten wären grundsätzlich Vorhersagen von Sportverletzungen oder zumindest entsprechende Risikoeinschätzungen möglich.8
Abb. 2: Das Item „Der Erfolg in meiner Sportart ist mir wichtig“ aus dem ABQ-D zeigt im Vorfeld der Verletzung (vertikale rote Linie) eine verminderte Identifikation mit dem Sport als Zeichen von Überlastung
In der Untersuchung zeigten sich Überlastungen in Form von vermindertem Leistungsstreben, welches einen Aspekt des ABQ-D10 (Fragebogen zum Burnout bei Sportlern) darstellt. Das im SPB verwendete Item mit inverser Polung steht für eine verminderte Identifikation mit dem Sport, wobei eine solche reduzierte Identifikation u.a. dem Schutz vor einer verstärkten Inanspruchnahme dient. Betroffene fühlen sich weniger unter Druck und unternehmen auch vermehrt sportferne Aktivitäten (Abb. 2).
In allen Dimensionen (Faktoren) des SPB wurde erkennbar, dass sich die psychologischen Verarbeitungsmuster des Fußballers bereits im Vorfeld des Verletzungsereignisses deutlich veränderten, in systemischer Diktion: sich ein Phasenübergang ereignete. Eine seit neuerer Zeit verfügbare Methode zur Identifikation solcher Übergänge in Zeitreihen („pattern transition detection algorithm“, PTDA)11, welche nicht nur Niveauunterschiede, sondern auch nichtlineare Musterwechsel erfasst, machte dies sehr deutlich.7
Interessant ist dabei sowohl das Auftreten von Übergängen bereits vor der Verletzung, die übrigens ohne Fremdeinwirkung stattgefunden hat, als auch der Musterwechsel in der Zeit danach, was für den Sportler einen mentalen Einstieg in die Unterbrechung der Karriere bedeutet hat (Abb. 3).
Abb. 3: „Pattern transition detection algorithm“ (PTDA) mit Markierung des Phasenübergangs in den Zeitreihen der Dimensionen („Faktoren“) des SPB (schwarze vertikale Linie und gelbe Markierung im Farbverlauf im blauen Band unter den einzelnen Diagrammen). Rote vertikale Linie: Tag des Verletzungsereignisses. Dimensionen: Selbstwert und Energie („self-esteem and energy“, SEE), Stress und erlebter Druck („stress and pressure“, SPR), Körpererleben („body experience“, BOE), mentale Kondition und Konzentriertheit („mental performance conditions“, MPC), Übertrainingssymptome („overtraining symptoms“, OTS), Athleten-Burnout („athlete burnout“, ABO)
Abb. 4: Im Vorfeld der Verletzung (vertikale rote Linie) zeigt sich eine Häufung von Spielen. Die Distanzen der intensiven Läufe in den Spielen, gemessen als „high metabolic load distance“ (HMLD), zeigen sich im Verlauf jedoch reduziert (rote Pfeile)
Abb. 5: „Recurrence Plots“ (Schiepek et al., 2023)8 mit Musterübergängen bereits vor der Sportverletzung (rote vertikale Linie)
In dem Fall des jungen Fußballspielers und auch in anderen Fällen wurden die psychologischen Zeitreihendaten auch mit Sportparametern wie Trainings- und Spieldauer, Laufdistanz und Laufintensität in Beziehung gesetzt. Grundsätzlich können auch Laborparameter und immunologische Parameter mit einbezogen werden. Im vorliegenden Fall zeigten sich eine Häufung von Spielen im Vorfeld der Verletzung sowie eine Reduktion der intensiven Läufe in den Spielen. Die intensiven Läufe werden mithilfe eines (GPS-)Trackers gemessen und durch die „high metabolic load distance“ (HMLD) dargestellt, eine Distanz von Läufen, die mit einer Geschwindigkeit von mehr als 19,8km/h zurückgelegt werden, beim Beschleunigen und Abbremsen mit ≥2m/s2.12 Die Reduktion der intensiven Läufe im vorliegenden Fall könnte durch eine Überbelastung in Verbindung mit einem verminderten Leistungsstreben erklärt werden (Abb. 4).
Auch in den Recurrence Plots8 wurden Musterübergänge von Item-Clustern („self-esteem and energy“ [SSE], „stress and pressure“ [SPR], „body experience“ [BOE], „mental performance conditions“ [MPC], „overtraining symptoms“ [OPS], „athlete burnout“ [ABO]) bereits vor dem Unfall dargestellt (Abb. 5). Der Übergang von einem mehr oder weniger stabilen Zustand in einen anderen ist durch blaue Rechtecke zu erkennen, auf die ein weiteres blaues Rechteck folgt, kurz bevor die Verletzung auftritt (rote vertikale Linie). Gelbe bis rote Farben zeigen unterschiedliche Dynamiken an, was bedeutet, dass sich die Perioden einer bestimmten Dynamik vor dem Unfall von der Dynamik nach dem Unfall unterscheiden (Übergangsphasen zwischen stabilen Perioden).
Tab. 2: Anwendungsmöglichkeiten der Prozesserfassung mit dem SNS im Sport
Ein Verein oder Verband, aber auch betroffene Sportler können von solchen Datenerhebungen mit dem SNS in unterschiedlicher Weise profitieren (Tab. 2):
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Die körperliche und mentale Belastung von Leistungsträgern kann über längere Zeiträume erfasst und begleitet werden.
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Dies spielt bei Athleten, die eine oder mehrere Verletzungen hinter sich haben, eine besondere Rolle. Wir erhalten hier Zeitreihen, die eine datenbasierte Handhabe für Entscheidungen im Sinne einer Verletzungsprophylaxe geben (z.B. Einsatz, Nichteinsatz oder reduzierter Einsatz).
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Gleichermaßen kann das SNS in der Rehabilitation von Sportverletzungen zum Einsatz kommen und insbesondere den „Return to Sports“ (RTS)-Prozess unterstützen.
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Besonders relevant ist ein Monitoring von Nachwuchsathleten mit gesteigerten Belastungen oder Mehrfachbelastungen.
Auswirkungen und Folgen von Sportverletzungen
Die plötzliche Unterbrechung der sportlichen Karriere durch eine Verletzung stellt ein ähnliches „Life Event“ dar wie das Karriereende. Eine Verletzung kommt jedoch abrupt und ist mit körperlicher Einschränkung verbunden. Der Sportler wird aus seinem beruflichen Alltag gerissen. Eine Verletzung im professionellen Sport ist in der Regel mit weitreichenden psychischen und sozialen Konsequenzen verknüpft, gewohnte soziale Kontakte und Tagesstruktur fallen weg, Bestätigungen und mögliche sportliche Erfolge bleiben aus. Gegebenenfalls kommen finanzielle und existenzielle Sorgen hinzu. Die Situation prädisponiert eine psychische Reaktionsbildung, die wiederum mit den spezifischen Ressourcen und Erfahrungen des Sportlers zusammenhängt. Anpassungsstörungen dürften eher die Regel als die Ausnahme sein (Tab. 3).1
Tab. 3: Auswirkungen und Folgen von Sportverletzungen (nach Claussen et al., 2022)1
Sportbindung und Sportabhängigkeit
Im Verlauf eines jahrelangen Trainings kann eine Eigendynamik entstehen, die durch den Sport sowie Trainingseffekte hervorgerufen wird und als Sportbindung zu bezeichnen ist. Im Weiteren kann es zu einer Sportabhängigkeit kommen.5
Unter Berücksichtigung des Phasenmodells nach Schack (2000) kann sich eine Sportabhängigkeit über einen Zeitraum von 4–6 Monaten bis zu 2 Jahren entwickeln.13 Der Begriff Sportabhängigkeit wurde bislang noch nicht in den operationalisierten Diagnosesystemen berücksichtigt, weil Bewegung ein erwünschtes Verhalten darstellt und von Grund auf nicht pathologisiert werden soll. Im angloamerikanischen Raum wird der Störungskomplex als „exercise addiction“ und „compulsive exercise disorder“ bezeichnet.
Neuere Erklärungsansätze zur Entstehung einer Sportabhängigkeit berücksichtigen neben biomedizinischen Aspekten auch Persönlichkeitsmerkmale und die psychosoziale Ebene. Sport wird möglicherweise als Kompensationshandlung betrieben und erhält auch eine Funktion bei der Emotionsregulation. Grundsätzlich wird zwischen einer primären und sekundären Sportabhängigkeit unterschieden. Eine alleinige zum Zeitpunkt der Untersuchung vorliegende Störung gilt als primäre Sportabhängigkeit. Wenn sie als Komorbidität auftritt, z.B. im Zusammenhang mit einer Essstörung, wird sie als sekundäre Sportabhängigkeit bezeichnet. Zu berücksichtigen sind jeweils der Umfang und die Intensität der Sportausübung, die physiologisch erforderlich ist, um auftretende Symptome wie zum Beispiel Unruhezustände zu vermeiden. Hinterfragt werden muss der Anteil des Sports an der Emotionsregulation. Grundsätzlich ist bei einer Sportabhängigkeit von einer Symptom-Trias auszugehen: Auftreten von
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Entzungssymptomen (vorrangig psychischer Art) bei Nichtausübung von Sport,
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Konflikten mit dem sozialen (und beruflichen) Umfeld wegen umfangreicher Sportausübung,
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einer gewissen Zwanghaftigkeit, Sport ausüben zu müssen (Sport wird als unbedingt notwendig erlebt, um alltägliche Anforderungen zu bewältigen).
In der Entstehung erfolgen Veränderungen auf verschiedenen Ebenen:
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Veränderungen der psychophysischen Verfassung (Herz-Kreislauf, Muskulatur, hormonelle Veränderungen)
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Veränderungen in Selbstwahrnehmung und Selbstbewertung (Selbstwerterhöhung oder -stabilisierung)
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Veränderungen der Rahmenbedingungen und Reaktionen aus dem sozialen Umfeld
Entstehung der Sportabhängigkeit5
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Körperliche Aktivität steigert das Selbstbewusstsein.
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Misserfolge aus anderen Lebensbereichen werden kompensiert.
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Problemen im Alltag kann ausgewichen werden.
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Erschöpfung wird als Erfolgserlebnis wahrgenommen.
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Endorphine unterstützen die Effekte.
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Allgemeine Funktionen: Emotionsregulation, Körpermodellierung, Gewichtsregulation, Schönheitsidealen kann entsprochen werden.
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Gesellschaftliche Akzeptanz und Idealisierung
Kriterien der Sportabhängigkeit5
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Es besteht ein gewisser Zwang, Sport auszuüben.
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Hinsichtlich Intensität und Umfang des Trainings erfolgt eine Toleranzentwicklung.
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Auftreten von Entzugssymptomen (ruhelos, angespannt, gereizt, nervös)
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Kontrollverlust (erfolglose Bewältigungsversuche)
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Hoher Aufwand
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Konflikte mit dem (familiären) Umfeld wegen umfangreicher Sportausübung
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Negierung negativer Konsequenzen
Daraus folgt, dass Regeneration ignoriert wird und Leistungseinbußen akzeptiert werden.
Nach dem Phasenmodell von Schack (2000) werden in der Entstehung einer Sportabhängigkeit psychodynamisch mehrere Phasen unterschieden: Sportzuwendung – Sportbindung – Übergangsphase – Sportabhängigkeit. Insbesondere in der Übergangsphase dient Sport möglicherweise als zentrales Mittel der psychischen Stabilisierung, sodass sich eine Fixierung auf den Sport auch zirkulär weiter verstärkt. In der anschließenden Abhängigkeitsphase manifestieren sich oben genannte Abhängigkeitskriterien. Die Phasen können unterschiedlich lange andauern und verlaufen grundsätzlich nicht nur in eine Richtung.
Psychische und soziokulturelle Risikofaktoren
Die Wechselwirkung von psychischer Gesundheit, Leistung und Verletzungen im Spitzensport ist komplex.15 Der Spitzensport bringt Risiken mit sich, die das Auftreten von Verletzungen oder auch das Auslösen von Erkrankungen wahrscheinlicher machen,16 einschließlich psychischer Störungen und Erkrankungen.17 Verletzungen stellen ihrerseits ein Risiko dar, psychische Störungen auszulösen.18 Psychische Störungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Verletzungen und können auch die Genesung von einer Verletzung erschweren und verlängern.17,19,20 Noch gibt es zu wenige prospektive Studien, welche die entsprechenden Zusammenhänge deutlich machen würden.
Psychische und soziokulturelle Belastungen sind potenzielle Risikofaktoren für Verletzungen im Sport.21 Zu den psychischen Risikofaktoren gehören Sorgen und Ängste, Körperunzufriedenheit, geringes Selbstwertgefühl, Perfektionismus, begrenzte Bewältigungsressourcen und Resilienz, Belastungen durch Lebensereignisse (wahrgenommene Belastungen im Zusammenhang mit wichtigen Lebensereignissen wie zum Beispiel dem Tod eines Familienmitgliedes oder ein Schulwechsel), Risikoverhalten, Hypervigilanz, Aggression und Wut oder eine deprimierte Stimmungslage.
Zu den soziokulturellen Risikofaktoren gehören begrenzte soziale Ressourcen, körperliche oder sexuelle Gewalterfahrungen,22 sozialer Druck, organisatorische Belastungen,23 Belastungen im Zusammenhang mit einer negativen Selbsteinschätzung von sportlicher und/oder schulischer/akademischer Leistung, die Qualität der Betreuung (z.B. schlechte Beziehung und Kommunikation mit dem Trainer) sowie die Sport- und Teamkultur wie z.B. Sieg und persönlicher Erfolg um jeden Preis anstatt beispielsweise des Strebens nach kontinuierlicher Verbesserung und Entwicklung.24
Die (wenigen) prospektiven Studien von Risikofaktoren (Lebensereignisse, Stress und Stressreaktionen) mit Bezug auf Verletzungen zeigen durchweg ein Bedingungsgefüge für das Auftreten von Verletzungen beim Vorliegen von Risikofaktoren.19,20,24,25 Lebensereignisse, Stress und Stressreaktionen können einen erhöhten Muskeltonus, Unaufmerksamkeit, Ablenkung oder auch Selbstüberschätzung bedingen, noch dazu die Koordination beeinträchtigen, was insgesamt die Leistung vermindert und das Verletzungsrisiko erhöht.19,24,25 Auch wenn Teamkollegen, Mannschaftskameraden oder Trainer Stress auslösen, besteht ein erhöhtes Verletzungsrisiko.26 Emotionale Reaktivität (unwillkürliche und übermäßig intensive emotionale Reaktionen) wird auch mit schlechter Leistung auf dem Spielfeld und mit dem Auftreten von Verletzungen in Verbindung gebracht (Tab. 4).16,27,28
Tab. 4: Psychische und soziokulturelle Risikofaktoren für Verletzungen im Sport
Kognitive und emotionale Reaktionen auf Sportverletzungen
Kognitive und emotionale Faktoren bestimmen das Outcome nach einer Verletzung und müssen im Zusammenhang Berücksichtigung finden.25
Wiederverletzungsangst und Sorgen, nicht wieder auf gewohntem Niveau am Sport teilnehmen zu können, sich vielleicht beruflich umorientieren zu müssen, können den Rehabilitationsverlauf beeinträchtigen, ebenso wie Zweifel an den eigenen Fähigkeiten, verminderter Selbstwert beim Verlust von Identitätsanteilen, mangelnde Selbstwirksamkeit sowie Bedenken hinsichtlich der Kompetenz des medizinischen Personals.29
Emotionale Reaktionen auf die Verletzung können sich durch Symptome wie Traurigkeit, Depression, Angst und Suizidgedanken zeigen. Entsprechende Folgen sind Rückzug und Isolation sowie Irritation, Frustration, Veränderungen von Appetit und Schlaf, Desengagement und mangelnde Motivation, Überengagement oder die Entwicklung von Burnout-Kriterien.18,30 Im Vergleich zu nicht verletzten Sportlern entwickeln verletzte Sportler häufiger Symptome einer Depression sowie einer generalisierten Angststörung (Tab. 5).31
Tab. 5: Kognitive und emotionale Reaktionen auf Sportverletzungen mit entsprechenden Folgen
Während emotionale Reaktionen auf Verletzungen zwar unterschiedlich ausfallen, sich aber dennoch als verständlich und nachvollziehbar erweisen, sind problematische Reaktionen solche, die nicht abklingen, sich im Laufe der Zeit verschlimmern oder bei denen die Symptome übertrieben erscheinen.21
Eine Verletzung kann emotionale Reaktionen auslösen oder das Verhalten beeinträchtigen, aber auch zugrunde liegende psychische Störungen triggern. Nicht substanzgebundene Suchtformen, Spielsucht, Essstörungen und Substanzkonsumstörungen sind in diesem Zusammenhang zu nennen.32–39 Athleten mit positiveren kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Reaktionen haben ein besseres Outcome in der Rehabilitation.20,40–47 Optimismus und Selbstwirksamkeitserleben sowie ein geringeres Maß an Stress und Depression stehen in Zusammenhang mit einer besseren Genesung nach Verletzungen.20, 40–47
Strategien, die positive Erfahrungen in der Rehabilitation unterstützen47, 48
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Abbau von Ängsten vor einer erneuten Verletzung durch Modelllernen, wie z.B. Anschauen von Videos ehemals verletzter Sportler, die darüber sprechen, wie sie ihre Ängste vor einer erneuten Verletzung überwunden haben, oder indem ein verletzter Athlet mit einem anderen Athleten, der bestimmte Rehabilitationsübungen bereits beherrscht, sich austauscht, sodass der weniger erfahrene Athlet lernt, wie man die Übungen richtig ausführt
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Förderung der Autonomie von Sportlern (z.B. durch Edukation und Erklärungen, warum welche Rehabilitationsübungen durchgeführt werden)
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Aufbau von Selbstvertrauen durch erreichte Zielsetzungen und Funktionstests
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Soziale Unterstützung
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Einbindung der Sportler in ihr sportliches Umfeld möglichst aufrechterhalten, ohne jedoch eine zu vorzeitige Rückkehr zum Sport zu provozieren
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Stressimpfungstraining (engl. Stress Inoculation Training) mit Informationsphase, Übungsphase und Anwendungsphase, z.B. präoperativ, wenn eine Verletzung einen chirurgischen Eingriff erfordert
Über die Jahre ist im Sport eine gestiegene Leistungsintensität zu beobachten.5 90% von 1100 deutschen Sportlern berichten enormen Erfolgsdruck.49 57% zeigen sich mit Existenzängsten.49 Zahlreiche Studien zeigen die Wirkung von Stress auf die Gesundheit im Leistungssport2 mit der Unterscheidung zwischen wettkampfbezogenem Stress und organisatorischen Stressoren (Konflikte, Strukturen usw.). Zusätzliche Stressoren finden sich bei den Übergängen zwischen Jugend- und Erwachsenenbereich sowie auch am Karriereende.2 Außerdem sind Wirkungen von sportlicher Überbelastung und Übertraining zu berücksichtigen.4 Bei Sportlern zeigen sich positive Korrelationen zwischen Stresslevel und dem Entstehen von Depressionen.1,2,5 Im Gegensatz zum Breitensport bietet der Leistungssport keinen Stresspuffer.50 Eine plötzliche Unterbrechung der sportlichen Karriere durch eine Verletzung ist zwar biomechanisch verursacht, aber mit weitreichenden psychischen und sozialen Konsequenzen verknüpft. Von Bedeutung für die Rehabilitation und die begleitende Behandlung von psychischen Störungen ist das Ausmaß der vorliegenden Sportidentität.
Sportidentität
Im Gegensatz zum Breitensport ist der Leistungssport durch die Grundsätze des Gewinnens und der Leistungssteigerung geprägt, die im Leistungssport angesichts der Konkurrenz bei nationalen und internationalen Wettkämpfen zum Imperativ werden.51 Während der Breitensport als Freizeitbeschäftigung in den Lebensalltag integriert wird, bildet der Leistungssport ein eigenständiges Sozialsystem, das wenig Raum für die Ausbildung einer Alternative zum Rollenbild des Sportlers lässt.51 Da die Karriere der Spitzensportler bereits im Kindes- und Jugendalter beginnt, sind sie früh dem herrschenden Leistungs- und Siegesdruck ausgesetzt und werden anhand der erbrachten sportlichen Leistung verglichen und selektioniert.51 Der Wettkampferfolg verleiht innerhalb des Systems Leistungssport sozialen Status und trägt somit wesentlich zum Selbstwert des Sportlers bei.51 Aufgrund der starken und frühen Vereinnahmung durch den Leistungssport und der mangelnden Alternativen zur athletischen Identität kann die sportliche Leistung als Maß für die Bewertung des eigenen Selbstwertes herangezogen werden.52 Eine sportliche Niederlage kann in der Folge verallgemeinert werden zu der Annahme, als Mensch versagt zu haben. Da der Körper in der Funktion des Leistungserbringers wesentlich zum sportlichen Erfolg beiträgt, spielen die körperliche Unversehrtheit und Körperzufriedenheit eine wesentliche Rolle. Zur Bestimmung der Sportidentität gehören sowohl die Fähigkeit zur Sportausübung, inklusive des Ausmaßes der Sportausübung sowie Trainingszustand, als auch überdauernde und temporäre sportbezogene Aspekte.
Überdauernde sportbezogene Aspekte und Sportidentität
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Ausmaß der Sportbindung und Sportabhängigkeit
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Funktionalität des Sports
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Ausmaß der Beeinträchtigung von Beziehungen, überdauernden Konflikten und der Persönlichkeitsstruktur durch den Sport
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Ausmaß der Unterstützung und Abhängigkeiten vom System Sport
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Unterstützung und Belastungen durch das Sportumfeld
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Integration von Erfolg, Misserfolg und Erfahrungen im Sport
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Selbstwert durch den Sport
Die Anforderungen im Leistungssport erfordern eine sichere Beurteilung von Belastungen und Risiken für die psychische Gesundheit sowie eine exakte Diagnostik, Therapie und Nachsorge bereits subklinischer psychischer Störungen unter Berücksichtigung operationalisierter psychischer sowie leistungsportbezogener und physiologisch sportwissenschaftlicher Faktoren.53 Lange Zeit wurde von der Psychiatrie und Psychotherapie die psychische Gesundheit im Leistungssport nicht mit der gebotenen Aufmerksamkeit behandelt. Dies zeigt sich insbesondere in den noch zu wenigen sportpsychiatrischen und sportpsychotherapeutischen Versorgungsangeboten für Leistungssportler.14 Die Implementierung von Screening-Untersuchungen, sportpsychiatrischer Konsultation und Versorgungsangeboten im Leistungssport wird empfohlen,1,5,54 ebenso wie die Integration sportpsychiatrischer Expertise in die täglichee Arbeit mit Athleten.55
Literatur:
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