Wie Inklusion beim Wohnen und bei der Arbeit gelingen kann
Autor:
Dr. phil. habil. Dirk Richter
Zentrum Psychiatrische Rehabilitation
Universitäre Psychiatrische Dienste Bern
E-Mail: dirk.richter@upd.unibe.ch
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In der Rehabilitation von Menschen mit psychischen Erkrankungen wird noch zu sehr auf konventionelle Modelle gesetzt. Neue Entwicklungen wie das Wohn-Coaching oder das «Supported Employment» sind den traditionellen Ansätzen nicht nur empirisch überlegen, sie berücksichtigen darüber hinaus die Präferenzen der Nutzenden und die Veränderungen bei den rechtlichen und politischen Vorgaben.
Keypoints
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Das traditionelle Stufenleiterprinzip der Rehabilitation hat sich in der Psychiatrie bezüglich der sozialen Inklusion als wenig erfolgreich herausgestellt.
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Viele Menschen mit psychischen Erkrankungen sind – mit entsprechendem Support – in der Lage, in der eigenen Wohnung zu leben.
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Der allgemeine Arbeitsmarkt ist für eine grosse Zahl von Menschen mit psychischen Problemen ein realistisches Ziel, wenn Unterstützungsprogramme vorhanden sind.
Menschen mit psychischen Erkrankungen leben heute nicht mehr in Anstalten und Kliniken und damit vollkommen ausgeschlossen von der Gesellschaft. Allerdings sind viele von ihnen noch lange nicht wirklich inkludiert in Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse wie die Mehrheit westlicher Gesellschaften. Einer entsprechenden Studie aus der Schweiz auf der Datengrundlage der Schweizerischen Gesundheitsbefragung zufolge haben Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen erheblich weniger Anteil an Arbeit und Beschäftigung, Einkommen, Partnerschaften, sozialer Unterstützung und körperlicher Gesundheit.1 Das heisst, sie sind – gerade auch im Vergleich zu Menschen mit weniger schweren psychischen Erkrankungen und zur Allgemeinbevölkerung – deutlich exkludierter. Viele davon betroffene Menschen leben nicht in einer eigenen Wohnung, sondern in Wohngemeinschaften und Wohnheimen und noch mehr von ihnen sind nicht im allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt.
Psychiatrische Rehabilitation hat sich zum Ziel gesetzt, die soziale Ausgrenzung von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verhindern oder zumindest abzumildern.2 Dies war jedoch nicht immer so. Über lange Zeit ging man davon aus, dass Menschen mit psychischen Einschränkungen kaum eine andere Lebens-, Arbeits- oder Beschäftigungsmöglichkeit als in besonderen Wohn- und Arbeitsformen wie Heimen, Ateliers oder Werkstätten haben. Es wurde zumeist vergeblich versucht, gemäss dem Stufenleiterprinzip der Rehabilitation, betroffenen Menschen mehr und mehr Belastung zuzumuten. Das hiess etwa, dass im Bereich Wohnen nach einem längeren Klinikaufenthalt ein Heimeintritt oder eine Wohngemeinschaft empfohlen wurde, mit dem Ziel, irgendwann einmal selbstständig leben zu lernen. Gleiches galt auf der Arbeitsachse: Der Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt wurde als weit entfernt betrachtet und es wurden Beschäftigungsmöglichkeiten in Tagesstätten, Werkstätten und Sozialfirmen in Betracht gezogen.
Aus der empirischen Forschung über Wohnen und Arbeiten für Menschen mit psychischen Erkrankungen wissen wir, dass dieses Stufenleiterprinzip nur im Ausnahmefall funktioniert.3 Die meisten Menschen in dieser Form der Rehabilitation erreichen die Ziele des selbstständigen Wohnens und des Arbeitens auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt niemals. Dies liegt jedoch, wie die Forschung ebenfalls klar zeigt, oftmals nicht an den betroffenen Menschen selbst oder an ihrer Erkrankung, sondern vielmehr an einem nicht mehr zeitgemässen Verständnis von Rehabilitation.
Ein neues Verständnis von Rehabilitation wird zudem durch politische und rechtliche Vorgaben notwendig werden. Mit der durch die Schweiz im Jahr 2014 ratifizierten «Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen» der Vereinten Nationen (UN-BRK) werden Menschen mit jeder Form von Behinderung, somit auch seelischen Behinderungen, Rechte im Bereich Wohnen und Arbeiten zugesprochen, die bis anhin nur in Teilen umgesetzt worden sind.4
Dazu gehören etwa das Recht, nicht in einer gesonderten Wohnform leben zu müssen, sowie das Recht auf gleiche Entlohnung bei der Arbeit wie Menschen, die nicht behindert sind. Die UN-BRK fordert eindeutig, dass Menschen mit Behinderungen sich nicht mehr der Umwelt anzupassen haben, sondern dass die zahlreichen Barrieren in der Umwelt reduziert und adaptiert werden müssen, damit auch Menschen mit psychischen Erkrankungen die gleiche Chance auf Teilhabe und Inklusion erhalten. Mit diesen Forderungen ist ein verändertes Verständnis von Behinderung verbunden: Nicht der Mensch ist primär behindert, sondern die soziale Umwelt behindert den Menschen an der Teilhabe. Dies macht auch den entscheidenden Unterschied zwischen Integration und Inklusion aus (Tab. 1).
Tab. 1: Das medizinische und das soziale Modell der Behinderung
Wohnrehabilitation – Leben in der eigenen Wohnung
Die eigene Wohnung ist für die Mehrzahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen eine klare Präferenz. Einer Metaanalyse über Wohnpräferenzen zufolge streben mehr als 80% diese Wohnform an.5 Aufsuchende Unterstützungsdienste wie etwa das Wohn-Coaching an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich oder an den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern (UPD Bern) bieten den Support, der das ermöglicht. Wohn-Coaches mit diversen Hintergründen in der Ausbildung begleiten und unterstützen Menschen mit entsprechendem Bedarf bis hin zu mehrmals wöchentlichen Terminen. Ein solches Wohn-Coaching kann nach ersten positiven Erfahrungen in den UPD Bern auch mit «Home treatment»-Konzepten kombiniert werden.
Übersichtsarbeiten zur Wirkung dieser Unterstützungsdienste haben gezeigt, dass hinsichtlich zahlreicher Indikatoren das Leben in der eigenen Wohnung keinesfalls zu schlechteren gesundheitlichen oder sozialen Verläufen führt, als wenn die Menschen in einem Heimsetting leben würden.6,7 Menschen mit psychischen Erkrankungen müssen nicht notwendigerweise in einer hoch strukturierten Umgebung leben, um zurechtzukommen. Dies haben auch Erfahrungen aus ähnlichen Programmen aufgezeigt, bei denen Menschen aus der Obdachlosigkeit direkt in eigenen Wohnungen untergebracht wurden. In vielen Studien, die dieses «Housing first»- Prinzip untersucht haben, ist deutlich geworden, dass ein grosser Teil der Betroffenen durch die Selbstständigkeit und dadurch vorhandene höhere Motivation sich gut integrieren konnte.8
Leider trauen gerade viele Professionelle in der psychiatrischen Versorgung ihren Nutzenden zu wenig zu und empfehlen daher ein Leben in einem weniger offenen Setting. Die Präferenzen der Nutzenden und die Empfehlungen der Professionellen klaffen hinsichtlich des Wohnens oftmals weit auseinander.
Arbeitsrehabilitation – der Weg in den allgemeinen Arbeitsmarkt
Menschen mit psychischen Erkrankungen haben in der Regel die Präferenz, im allgemeinen Arbeitsmarkt tätig zu sein. Gleichwohl finden sehr viele Betroffene keinen adäquaten Arbeitsplatz nach längerer Arbeitslosigkeit. Gerade bei schweren psychischen Erkrankungen (u.a. Psychosen) droht mit dem IV-Bezug auch in der Schweiz oftmals ein Leben in Armut. Andere wiederum verlieren ihren Job, wenn die Erkrankung im Betrieb bekannt wird oder aber gewisse Fehlzeiten im Rahmen der Erkrankung auftreten.
Trotz vielfältiger politischer Anstrengungen, Menschen mit psychischen Erkrankungen in den ersten Arbeitsmarkt zu inkludieren, ist «Supported Employment» (dt. unterstützte Beschäftigung) in der Schweiz zwar gut und positiv evaluiert worden,9–11 jedoch in der Fläche kaum vorhanden. «Supported Employment» basiert auf dem Prinzip, die betroffenen Personen direkt und ohne vorgeschalteten Trainingsaufwand im allgemeinen Arbeitsmarkt zu platzieren und dort zu trainieren bzw. zu coachen. Dieses «First place, then train»-Verfahren verkehrt – wie beim Wohnen – die traditionelle Stufenleiter der Rehabilitation, nach der zunächst Fertigkeiten erlernt werden sollen, um dann entsprechende Tätigkeiten zu finden («first train, then place»). Die empirische Forschung ist hier jedoch eindeutig: «Supported Employment»-Programme, wie es sie an mehreren Universitätskliniken in der Schweiz gibt, sind sowohl in klinischen Studien als auch in der Routineanwendung den traditionellen Programmen, die überwiegend im zweiten Arbeitsmarkt der Werkstätten geschehen, eindeutig überlegen. Inklusionsmassnahmen sind gegenüber den klassischen Integrationsmassnahmen deutlich im Vorteil – und werden zumeist von den betroffenen Personen präferiert.
Ein besonderes Problem besteht bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in den letzten Jahren unter den Neuberentungen der Invalidenversicherung besonders stark vertreten sind. Und bis anhin gibt es kaum Unterstützung, um beispielsweise bei drohendem Schulabbruch oder Problemen beim Übergang von der Schule in die Berufslehre aktiv tätig zu werden. Dabei steht mit dem Konzept der «Supported Education» mittlerweile ein Rahmen zur Verfügung, in dem die Prinzipien des «Supported Employment» mit pädagogischen und – wenn nötig – psychiatrischen Elementen verbunden werden.12,13 In den UPD Bern wird derzeit im Rahmen einer Kooperation der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und dem Zentrum Psychiatrische Rehabilitation das Projekt «Start2Work» aufgegleist, das sich zum Ziel setzt, den sozialen Ausschluss aus der Ausbildungs- und Berufslaufbahn bei jüngeren Menschen mit erheblichen psychischen Problemen zu verhindern.
Die Zukunft von Heimen und Werkstätten
Angesichts der Evidenz für die Wirkung von Unterstützungsprogrammen in der eigenen Wohnung sowie «Supported Employ- ment» als Arbeitsrehabilitation, der Prä-ferenzen der Nutzenden und der politisch-rechtlichen Vorgaben stellt sich die Frage, welchen Stellenwert die bisherigen «klassischen» Formen der psychiatrischen Rehabilitation haben sollen, wie etwa Wohnheime und Werkstätten. Diese Institutionen werden mitnichten überflüssig. Es wird immer einen Bedarf für Rehabilitationsmassnahmen geben für Menschen, welche entweder andere Präferenzen oder aber erhebliche Mühe haben, in der eigenen Wohnung oder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zurechtzukommen.
Das Konzept der «unterstützten Inklusion», wie es etwa in den UPD Bern umgesetzt wird, zielt darauf, dass Nutzende zunächst ihrer Präferenz gemäss leben und arbeiten können. Dies folgt dem seit den 1990er-Jahren formulierten Prinzip von «choose - get - keep» in der psychiatrischen Rehabilitation.14 Nutzende sollen – mit professionellem Support – ihre Lebensziele auswählen können, sie sollen sie erreichen und sie sollen sie behalten können. Und erst wenn dies nicht realisiert werden kann, kommen traditionelle Unterstützungsformen zum Zuge.
Literatur:
1 Richter D, Hoffmann H: Social exclusion of people with severe mental illness in Switzerland: results from the Swiss Health Survey. Epidemiol Psychiatr Sci 2019; 28(4): 427-35 2 Barrett NM, Gill KJ, Pratt CW, Roberts MM: Psychiatric Rehabilitation. 3 ed. Cambridge, Mass.: Academic Press, 2013 3 Richter D et al.: Psychiatrische Rehabilitation – von der Stufenleiter zur unterstützten Inklusion. Psychiatr Prax 2016; 43(8): 444-9 4 Eidgenössisches Departement des Inneren. Übereinkommen der UNO über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. 2021. https://www.edi.admin.ch/edi/de/home/fachstellen/ebgb/recht/international0/uebereinkommen-der-uno-ueber-die-rechte-von-menschen-mit-behinde.html (Zugriff 8.3.2021) 5 Richter D, Hoffmann H: Preference for independent housing of persons with mental disorders: systematic review and meta-analysis. Adm Policy Ment Health 2017; 44(6): 817-23 6 Richter D, Hoffmann H: Independent housing and support for people with severe mental illness: systematic review. Acta Psychiatr Scand 2017; 136(3): 269-79 7 McPherson P et al.: Mental health supported accommodation services: a systematic review of mental health and psychosocial outcomes. BMC Psychiatry 2018; 18(1): 128 8 Aubry T et al.: Housing first for people with severe mental illness who are homeless: a review of the research and findings from the At Home-Chez soi Demonstration Project. Can J Psychiatry 2015; 60(11): 467-74 9 Hoffmann H et al.: Long-term effectiveness of Supported Employment: 5-year follow-up of a randomized controlled trial. Am J Psychiatry 2014; 171(11): 1183-90 10 Richter D et al.: Supported Employment im Routinebetrieb: Evaluation des Berner Job Coach Placement-Programms 2005-2016. Psychiatr Prax 2019; doi: 10.1055/a-0915-3990 11 Viering S et al.: Supported Employment for the reintegration of disability pensioners with mental illnesses: a randomized controlled trial. Front Public Health 2015; 3: 237; doi: 10.3389/fpubh.2015.00237 12 Humensky JL et al.: Supported Education and employment services for young people with early psychosis in OnTrackNY. J Ment Health Policy Econ 2019; 22(3): 95-108 13 Mueser KT, Cook JA: Supported Employment, Supported Education, and career development. Psychiatric Rehab J 2012; 35(6): 417-20 14 Danley KS et al.: Choose-get-keep: a psychiatric rehabilitation approach to Supported Employment. New Dir Ment Health Serv 1992; (53): 87-96
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