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Chronisches Beckenschmerzsyndrom: Update 2018
Leading Opinions
Autor:
Prof. Dr. med. Jürgen Pannek
Chefarzt Neuro-Urologie<br> Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil<br> E-Mail: juergen.pannek@paraplegie.ch
30
Min. Lesezeit
23.08.2018
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<p class="article-intro">Das chronische Beckenschmerzsyndrom (CBSS) stellt Hausärzte und Urologen vor eine therapeutische Herausforderung. In den letzten Jahren hat sich ein Phänotyp-orientiertes, multimodales und interdisziplinäres Therapievorgehen bewährt (UPOINT-Konzept). Neuromodulative Therapieansätze stellen in Zukunft eine vielversprechende Behandlungsmöglichkeit dar.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Es gibt nicht «das» CBSS: Beim CBSS handelt es sich um eine heterogene, multifaktorielle Erkrankung.</li> <li>Monotherapien sollten wenn möglich zugunsten Phänotypgesteuerter multimodaler und interdisziplinärer Therapieansätze vermieden werden.</li> <li>Die Forschung beschäftigt sich derzeit mit Fragen der Schmerzzentralisierung und Neuroplastizität des Zentralnervensystems. Neuromodulative Therapieverfahren können vor diesem Hintergrund vielversprechende neue Therapieoptionen darstellen.</li> </ul> </div> <h2>Einleitung</h2> <p>Per Definition spricht man von einem CBSS, wenn Schmerzen oder ein Unwohlsein im Bereich des kleinen Beckens in Assoziation mit Blasenspeichersymptomen und/oder sexuellen Funktionsstörungen vorliegen, die während mindestens 3 Monaten in den letzten 6 Monaten bestanden haben. Eine Infektion oder offensichtliche anderweitige Pathologie muss vor der Diagnosestellung ausgeschlossen sein. Beim CBSS handelt es sich um die häufigste urologische Diagnose beim unter 50-jährigen Mann. Sie betrifft fast jeden zehnten Patienten in der ambulanten urologischen Sprechstunde und ist auch für Grundversorger relevant, da Hausärzte im Durchschnitt jede Woche einen Patienten mit CBSS antreffen.<sup>1</sup> Vom sozioökonomischen Standpunkt her gesehen, führt das CBSS durch direkte und indirekte Kosten (z.B. krankheitsbedingte Arbeitsausfälle) zu einer erheblichen Belastung der Gesundheitssysteme.<sup>2</sup><br /> Klinisch bedeutsam ist die Abgrenzung des CBSS von einer chronischen bakteriellen Prostatitis. Prostatitiden werden in vier Kategorien eingeteilt (Tab. 1). Bei 95 % der Patienten mit chronischen Prostatitiden können im Prostatamassage- Urin weder Leukozyten nachgewiesen noch anderweitige Erreger kultiviert werden. Diese Patientengruppe wird dementsprechend der Gruppe IIIb zugeordnet (nicht entzündliches CBSS). In vielen Fällen werden diese Patienten, trotz fehlenden Erregernachweises, mit Antibiotika behandelt. Die fehlende Evidenz für diese Strategie konnte durch Alexander et al. bereits 2004 gezeigt werden.<sup>3</sup> Auch von einer empirischen Anwendung von Alphablockern muss abgeraten werden.<sup>4</sup><br /> Trotz zahlreicher prospektiv-randomisierter Studien gibt es derzeit einzig für Quercetin (ein Flavonoid mit antioxidativen Eigenschaften) und Cernilton (einen Pollenextrakt) Anhaltspunkte für ein Therapieansprechen, welches über einen Placeboeffekt hinausgeht.<sup>5, 6</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Uro_1802_Weblinks_lo_uro_1802_s20_tab1.jpg" alt="" width="1419" height="763" /></p> <h2>Phänotyp-gesteuerte Therapie (UPOINT-Konzept)</h2> <p>Das Verständnis hinsichtlich des CBSS hat sich in den letzten Jahren zunehmend dahingehend gewandelt, dass es heute als multifaktorielle Erkrankung verstanden wird, welche sich aus verschiedenen klinischen Aspekten zusammensetzen kann. Neben urologischen Faktoren spielen häufig auch gynäkologische oder gastroenterologische Ursachen eine Rolle. Auch muskuläre Verspannungen oder Funktionsstörungen des Beckenbodens und psychologische Aspekte müssen in der Gesamtbeurteilung der Patienten mitberücksichtigt werden.<br /> Einen Vorschlag für eine holistische Betrachtung und Beurteilung der CBSSPatienten hat Prof. Nickel, einer der Pioniere auf dem Gebiet des CBSS, vor knapp zehn Jahren im Sinne der UPOINT-basierten Therapie gemacht (Tab. 2). Hierbei werden die Patienten hinsichtlich allfällig bestehender Miktionsbeschwerden, psychosozialer Belastungen, Organ-spezifischer Probleme, Infektionen, neurologischer Erkrankungen und muskulärer Verspannungen beurteilt. Dieses Vorgehen soll zu einer gezielteren, auf dem jeweils vorliegenden Phänotyp basierenden Behandlung des CBSS führen.<sup>7</sup><br /> Stehen Miktionsbeschwerden im Vordergrund, haben Alphablocker, Antimuskarinika und PDE-5-Inhibitoren nach wie vor einen Stellenwert, bei psychosozialen Begleitfaktoren empfehlen sich jedoch eher kognitive Verhaltenstherapien oder psychologisches Counseling. Antibiotische Therapien sollten lediglich den Fällen vorbehalten bleiben, in denen ein eindeutiger Erreger kultiviert werden kann. Bei Patienten, bei denen eine systemische Schmerzproblematik vorliegt oder neuropathische Schmerzen zugrunde liegen, können Schmerz-distanzierende Medikamente Sinn machen (z.B. Pregabalin oder Amitriptylin). Gute Ergebnisse können bei Verspannungen des Beckenbodens durch eine Beckenboden-Physiotherapie respektive Triggerpunkt-Therapie erzielt werden.<br /> Je nach Konstellation der Symptome empfiehlt sich zudem auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Kollegen der Psychosomatik.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Uro_1802_Weblinks_lo_uro_1802_s21_tab2.jpg" alt="" width="1419" height="1021" /></p> <h2>Schmerzzentralisierung und Neuromodulation</h2> <p>Zunehmend steht bei Patienten mit CBSS die Frage im Vordergrund, wann und wieso es zu einer Chronifizierung der Schmerzen kommt. Hier ist vermehrt das Zentralnervensystem im Fokus der gegenwärtigen Forschung. Es scheint nachvollziehbar, dass auf dem sensomotorischen Kortex des Grosshirns nicht nur äusserlich sichtbare Organe (z.B. Arme oder Beine) abgebildet werden, sondern auch gut innervierte innere Organe (z.B. Blase, Prostata, Rektum, Urethra und Uterus). In Analogie zu den bekannten Phantomschmerzen nach Amputationstraumata könnten also Schmerzen, welche auf ein Organ des Beckens projizieren, tatsächlich ihren Auslöser im Zentralnervensystem haben.<br /> Anatomische und funktionelle Hirn- MRI-Untersuchungen von Patienten mit CBSS zeigten unlängst in einem Vergleich mit einer Kontrollkohorte, dass bei CBSSPatienten deutliche strukturelle Veränderungen in der grauen Hirnsubstanz des limbischen Systems (Gyrus cinguli anterior) gefunden werden konnten, welche auch in funktionellen Bildsequenzen reproduziert werden konnten.<sup>8, 9</sup><br /> Dem limbischen System kommt eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung sensorischer Stimuli zu. Insbesondere erfolgt dort die Wertung, ob ein Reiz als schmerzhaft empfunden wird oder nicht. Dementsprechend könnten Veränderungen in diesen Hirnarealen eine höhere individuelle Vulnerabilität für die Ausbildung chronischer Schmerzsyndrome erklären.<br /> Ungelöst ist jedoch nach wie vor das Henne-Ei-Problem: Prädisponieren genetisch angelegte Hirnveränderungen für die Entwicklung eines CBSS oder entstehen die beobachteten Hirnveränderungen sekundär als Reaktion auf länger dauernde Schmerzzustände?<br /> Diese neuen Ansätze haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass das Zentralnervensystem auch vermehrt Zielorgan für neue Therapieansätze geworden ist. An erster Stelle seien hier neuromodulative Verfahren erwähnt. In mehreren Studien wurde über gute Erfolge der transkutanen elektrischen Nervenstimulation (TENS), der perkutanen tibialen Nervenstimulation (pTNS) oder der sonoelektromagnetischen Therapie berichtet.<sup>10–12</sup></p> <h2>MAPP-Forschungsnetzwerk</h2> <p>Zur systematischen Erforschung des CBSS wurde durch die National Institutes of Health (NIH) 2008 das «Multidisciplinary Approach to the Study of Chronic Pelvic Pain (MAPP)»-Forschungsnetzwerk gegründet. Ziel dieser Task Force ist es, im interdisziplinären Austausch von Spezialisten verschiedener Fachgebiete und durch klinische Studien (z.B. Kohortenstudien zur Phänotypisierung betroffener Patienten) Ursachen und Behandlungsoptionen für das CBSS zu finden. Die klinischen Forschungsschwerpunkte liegen derzeit auf der Beantwortung epidemiologischer Fragestellungen und der Erforschung der Neuroplastizität des Zentralnervensystems. Hier kommt der Neuroradiologie zunehmend eine zentrale Bedeutung zu. Auf dem Gebiet der Grundlagenforschung versucht man, Biomarker der Erkrankung zu identifizieren und hormonelle Interaktionen der Schmerzverarbeitung besser zu verstehen.</p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Das CBSS wird heutzutage als multifaktorielle Erkrankung verstanden und nicht als klar umschriebenes homogenes Krankheitsbild. Phänotyp-gesteuerte multimodale und interdisziplinäre Therapieansätze sollten dementsprechend anstelle von Monotherapien angewendet werden. Vor dem Hintergrund der Neuroplastizität des Zentralnervensystems könnten in Zukunft neuromodulative Therapieverfahren in der Behandlung des CBSS an Bedeutung gewinnen.</p> </div></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Krieger JN et al.: Epidemiology of prostatitis. Int J Antimicrob Agents 2008; 31(Suppl 1): S85-90 <strong>2</strong> Duloy AM et al.: Economic impact of chronic prostatitis. Curr Urol Rep 2007; 8(4): 336-9 <strong>3</strong> Alexander RB et al.: Ciprofloxacin or tamsulosin in men with chronic prostatitis/chronic pelvic pain syndrome: a randomized, double-blind trial. Ann Intern Med 2004; 141(8): 581-9 <strong>4</strong> Nickel JC et al.: Alfuzosin and symptoms of chronic prostatitis-chronic pelvic pain syndrome. N Engl J Med 2008; 359(25): 2663-73 <strong>5</strong> Shoskes DA et al.: Quercetin in men with category III chronic prostatitis: a preliminary prospective, doubleblind, placebo-controlled trial. Urology 1999; 54(6): 960-3 <strong>6</strong> Wagenlehner FM et al.: A pollen extract (Cernilton) in patients with inflammatory chronic prostatitis-chronic pelvic pain syndrome: a multicentre, randomised, prospective, double-blind, placebo-controlled phase 3 study. Eur Urol 2009; 56(3): 544-51 <strong>7</strong> Magistro G et al.: Contemporary management of chronic prostatitis/chronic pelvic pain syndrome. Eur Urol 2016; 69(2): 286-97 <strong>8</strong> Farmer MA et al.: Brain functional and anatomical changes in chronic prostatitis/chronic pelvic pain syndrome. J Urol 2011; 186(1): 117-24 <strong>9</strong> Mordasini L et al.: Chronic pelvic pain syndrome in men is associated with reduction of relative gray matter volume in the anterior cingulate cortex compared to healthy controls. J Urol 2012; 188(6): 2233-7 <strong>10</strong> Kabay S et al.: Efficiency of posterior tibial nerve stimulation in category IIIB chronic prostatitis/chronic pelvic pain: a shamcontrolled comparative study. Urol Int 2009; 83(1): 33-8 <strong>11</strong> Kessler TM et al.: Sono-electro-magnetic therapy for treating chronic pelvic pain syndrome in men: a randomized, placebo-controlled, double-blind trial. PLoS One 2014; 9(12): e113368 <strong>12</strong> Tellenbach M et al.: Transcutaneous electrical nerve stimulation: an effective treatment for refractory non-neurogenic overactive bladder syndrome? World J Urol 2013; 31(5): 1205-10</p>
</div>
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