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Differenzialdiagnose Nykturie
Urologik
Autor:
Priv.-Doz. Dr. Paul F. Engelhardt, FEBU
Abteilung für Urologie und Andrologie, NÖ Landesklinikum Baden-Mödling, Paracelsus Privatuniversität Salzburg<br> E-Mail: paul.engelhardt@baden.lknoe.at
30
Min. Lesezeit
14.12.2016
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<p class="article-intro">Die Ursachen einer Nykturie können multipel und von verschiedenen Faktoren beeinflusst sein. Daher ist gerade in der Abklärungsphase eine gründliche Evaluation durch den behandelnden Urologen gefragt. Nur so ist die bestmögliche und vor allem ursachenspezifische Therapie für unsere Patienten zu finden.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Nykturie führt zu einer massiven Beeinträchtigung der Lebensqualität und zu erhöhter Morbidität.</li> <li>Eine genaue Anamneseerhebung mit Miktionsprotokoll ist obligat.</li> <li>Eine nicht urologische Nykturie sollte ursachenspezifisch und interdisziplinär therapiert werden.</li> <li>Gerade für ältere Patienten bedeuten reduzierte nächtliche Toilettengänge ein signifikant reduziertes Sturz- und Frakturrisiko.</li> </ul> </div> <h2>Einleitung</h2> <p>Die Nykturie – per definitionem nächtliches Gewecktwerden durch Harndrang mit anschließender Blasenentleerung – stellt für betroffene Frauen und Männer ein oft unterschätztes gesundheitliches Problem dar. Die Prävalenz der Nykturie nimmt ab dem 40. Lebensjahr kontinuierlich zu. So sind ein Drittel der über 60-Jährigen und bereits mehr als 40 % der über 70-Jährigen davon betroffen.<sup>1</sup> <br />Ab zwei oder mehr Toilettengängen pro Nacht reduziert sich die körperliche Regeneration in einem Ausmaß, das oft psychische und physische Erkrankungen zur Folge haben kann. Tagesmüdigkeit, eingeschränkte Leistungsfähigkeit und eventuell auftretende Depressionen bedeuten einerseits einen enormen Leidensdruck für die Betroffenen, andererseits einen nicht zu vernachlässigbaren volkswirtschaftlichen Schaden. So zeigen sich bei postmenopausalen Frauen mit drei oder mehr Toilettengängen pro Nacht eine dreifach erhöhte Tagesmüdigkeit, ein deutlich schlechterer medizinischer Allgemeinzustand und dreifach erhöhte Krankenstand­raten im Vergleich zu prämenopausalen Frauen ohne Nykturie.<sup>2</sup> Die durch eine permanente Nykturie ausgelösten Schlafstörungen erhöhen für Männer das Risiko, an einer Depression zu erkranken um das Sechsfache gegenüber einem dreifach erhöhten Risiko für Frauen.<sup>3</sup> In einer kürzlich erschienenen Arbeit von Kupelian et al zeigte sich ebenfalls bei Männern mit Nykturie im Vergleich zu weiblichen Nykturiepatienten ein doppelt erhöhtes Risiko, an einer Depression zu erkranken.<sup>4</sup> <br />Gerade für ältere Patienten mit Nyk­turie entwickeln sich im Krankheitsverlauf ein erhöhtes Sturzrisiko und damit verbunden gehäufte Frakturneigungen. Ab einer zweimaligen Nykturie kommt es zu einer Verdoppelung des Sturzri­sikos von 10 auf 22 % und einer signifikant gesteigerten Frakturrate des Femur­kopfes.<sup>5, 6</sup> <br />Generell zeigen Nykturiepatienten eine erhöhte Morbiditäts- und Mortalitätsrate. Bei drei Toilettengängen und mehr erhöht sich innerhalb von 54 Monaten signifikant die Mortalitätsrate, ausgelöst durch einen allgemeinen Verlust an Gesundheit sowie erhöhten Betreuungs- und Medikamentenbedarf.<sup>7</sup></p> <h2>Abklärung und Ursachen</h2> <p>Eine genaue Anamneseerhebung mit klinischer Untersuchung (zentrale/periphere Stauungszeichen?), eine Harnanalyse sowie der Ausschluss von Restharn und ein Miktionsprotokoll über 48 Stunden sollten obligat sein. Nur dadurch ist eine zielgerichtete Therapie sinnvoll einsetzbar. Von einer Polyurie spricht man bei 24-Stunden-Harnmengen von über 2,8 Litern. Ursächlich hierfür sind Polydipsie, Diabetes insipidus, Diabetes mellitus oder schlicht „falsche Trinkgewohnheiten“ mit großen abendlichen oder gar nächtlichen Trinkmengen. <br />Als Definition der nächtlichen Polyurie hat sich im klinischen Alltag die „Ein-Drittel-Regel“ durchgesetzt: Mehr als ein Drittel der 24-Stunden-Harnausscheidung erfolgt nachts. Auslösende Faktoren sind vor allem Herz-Kreislauf-Probleme, periphere Ödeme, Diabetes mellitus, Nebenwirkungen von Medikamenten, verminderte ADH-Wirkung/-Produktion, chronisch obstruktive Atemwegserkrankungen bis hin zur Schlafapnoe. Auch hierbei kann schlicht eine falsche Trinkgewohnheit mit großer Flüssigkeitszufuhr spät abends eine nächtliche Polyurie „vortäuschen“. <br />Verminderte Blasenkapazitäten ( <250ml) und eine überaktive Blase als Ursachen gehen oft mit entsprechender Tagessymptomatik einher. Dazu zählen erhöhte Miktionsfrequenz, imperativer Harndrang und Dranginkontinenz.<sup>8</sup> Schlaf­störungen, die nicht durch Harndrang ausgelöst werden, laufen per definitionem nicht als Nykturie.</p> <h2>Therapie</h2> <p>Primär sollten die zugrunde liegenden Ursachen erkannt und therapiert werden. Dabei ist oft ein interdisziplinäres Zusammenarbeiten für unsere Patienten notwendig. Liegen zum Beispiel internistische Erkrankungen und Komorbiditäten wie Diabetes mellitus, Herzinsuffizienz oder chronische Niereninsuffizienz vor, sollten diese in enger interdisziplinärer Kooperation therapiert und eingestellt werden. <br />Verminderte Blasenkapazitäten ( <250ml) bzw. eine überaktive Blase als Ursache können mit Verhaltenstraining allein (bis zu 30 % Zugewinn an Blasenkapazität) oder in Kombination mit Anticholinergika gut therapiert werden. Hierbei hat sich eine abendliche Retardgabe als nebenwirkungsärmste Verabreichungsform etabliert. (Cave potenzielle ZNS-Nebenwirkungen sowie „Sicca-Syndrom“!) <br />Gerade für die nächtliche Polyurie ist eine Desmopressin-Tablettentherapie alleine oder in Kombination mit Anticholinergika Therapie erster Wahl. Desmopressin 0,1–0,4mg oder in „Melt-Formen“ von 60–240µg eignen sich für Patienten ab 65 Jahren. Eine langsame Dosisadaptierung ist hierbei zielführend. Gerade bei älteren Patienten ist die stationäre Therapieeinstellung sinnvoll und empfehlenswert, um der möglichen Nebenwirkung einer Hyponatriämie bzw. Flüssigkeitsretentionen rechtzeitig entgegenwirken zu können.<sup>8</sup> 2017 wird für die Behandlung der Polyurie eine geschlechterspezifische neue Therapieoption von Desmopressin erhältlich sein (Nocdurna™). Für Frauen mit einer Dosis von 25µg und für Männer mit 50µg.<sup>9, 10</sup> Neben all den medikamentösen Therapie­optionen sollte eine Umstellung möglicher falscher Trinkgewohnheiten nicht vergessen werden.</p> <h2>Neues im Jahr 2016</h2> <p>Afari et al gingen der Fragestellung nach, ob LUTS bei Zwillingen konkordant auftritt. Sie fanden eine genetische Korrelation des IPPS in 37 % und solitär der Nykturie in lediglich 21 % der annähernd 1.600 untersuchten Zwillingspaare.<sup>11</sup> <br />Bei Patienten nach radikaler Prostatektomie zeigt sich in gut einem Fünftel der Fälle eine neu auftretende „overac­tive bladder“ (OAB) mit Drang, gesteigerter Harnfrequenz und Nykturie. Bei fast einem Viertel der Patienten kam es de novo allein zu einer Nykturie. Patienten mit zusätzlicher postoperativer Strahlenbehandlung haben ein 5,59-fach höheres Risiko, an einer OAB zu erkranken (p <0,001), als nicht bestrahlte Patienten. Interessanterweise erhielten nur 40 % der 875 untersuchten Patienten auch eine symptomatische Therapie ihrer OAB.<sup>12</sup> <br />Eine orthopädische Arbeitsgruppe entwickelte ein interessantes Schema, um Patienten einen perioperativen Dauerkatheter (DK) während einer Knieendoprothesenoperation zu ersparen: Patienten mit anamnestischer Nykturie von 0–1 erhielten perioperativ keinen DK. Patienten mit einer zweifachen oder häufigeren Nykturie wurden mit einem DK versorgt. Etwa 20 % der Patienten ohne perioperativen DK benötigten postoperativ aufgrund einer Harnsperre einmalig einen Einmalkatheter. Die Studienautoren postulieren, dass sie durch ihr „perioperatives DK-Schema“ 40 % der Patienten einen Dauerkatheter ersparen konnten.<sup>13</sup> <br />Yamamoto et al evaluierten mögliche Schlafstörungen bei Patienten, die wegen ihrer Nykturie in der urologischen Klinik vorstellig wurden. Als Vergleichsgruppe diente eine Gruppe von Patienten gleichen Alters eines Schlaflabors, die aufgrund von verstärkter Tagesmüdigkeit auf ein Schlafapnoe-Syndrom abgeklärt werden sollten. Die Ergebnisse waren urologisch interessant: Tagesmüdigkeit und LUTS waren in beiden Gruppen gleich stark ausgeprägt. Wenig überraschend fand sich bei der bezüglich Schlafapnoe evaluierten Vergleichs­gruppe in 92 % auch wirklich eine Schlafapnoe. In der urologischen Gruppe, die primär als störendes Symptom „Nykturie“ angab, fand sich jedoch bei annähernd 71 % der Patienten eine zunächst nicht erwartete Schlafapnoe. Die Therapie in der urologischen Gruppe war primär symptomatisch (Urologika). Wenn dadurch kein ausreichender Erfolg zu erzielen war, erhielten sie eine CPAP-Therapie.<sup>14</sup></p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Klingler HC et al: Nocturia: an Austrian study on the multifactorial etiology of this symptom. Neurourol Urodyn 2009; 28: 427-31 <strong>2</strong> Asplund R et al: Nocturnal micturition, sleep and well-being in women of ages 40-64 years. Maturitas 1996; 24: 73-81 <strong>3</strong> Asplund et al: Nocturia and depression. BJU 2004; 93: 1253-6 <strong>4</strong> Kupelian et al: Nocturia and quality of life: results from the Boston area community health survey. Eur Urol 2012; 61: 78-84 <strong>5</strong> Steward RB et al: Nocturia: a risk factor for falls in the elderly. J Am Geriatr Soc 1992; 40: 1217-20 <strong>6</strong> Weiss JP et al: Nocturia. J Urol 2000; 163: 5-12 <strong>7</strong> Hetta J et al: The impact of sleep deprivation caused by nocturia. BJU Int 1999; 84: (Suppl 1): 27-8 <strong>8</strong> Primus et al: Differentialdiagnose und Therapie der Nykturie – Konsensusstatement. J Urol Urogynäkol 2006; 13: 21-7 <strong>9</strong> Sand PK et al: Efficacy and safety of low dose desmopressin orally disintegrating tablet in women with nocturia: results of a multicenter, randomized, double-blind, placebo controlled, parallel group study. J Urol 2013; 190: 958-64 <strong>10</strong> Weiss JP et al: Efficacy and safety of low dose desmopressin orally disintegrating tablet in men with nocturia: results of a multicenter, randomized, double-blind, placebo controlled, parallel group study. J Urol 2013; 190: 965-72 <strong>11</strong> Afari N et al: Heritability of lower urinary tract symptoms in men: a twin study. J Urol 2016; 196: 1486-92 [Epub ahead of print] <strong>12</strong> Hosier GW et al: Overactive bladder and storage lower urinary tract symptoms following radical prostatectomy. Urology 2016; 94: 193-7 <strong>13</strong> Rana S et al: History of nocturia may guide urinary catheterization for total joint arthroplasty. Orthopedics 2016; 39: e749-52 <strong>14</strong> Yamamoto U et al: Prevalence of sleep disordered breathing among patients with nocturia at a urology clinic. Intern Med 2016; 55: 901-5</p>
</div>
</p>
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