Harnableitungstrends: Ist die kontinente Harnableitung ein Auslaufmodell?
Autor:innen
Dr. Jakob Klemm1,2
Univ.-Prof. Dr. Shahrokh F. Shariat2–7
Ap. Prof. Priv.-Doz. Dr. David D’Andrea2
Prof. Dr. Margit Fisch1
Priv.-Doz. Dr. Malte W. Vetterlein1
1Department of Urology, University Medical Center Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Germany
2Department of Urology, Comprehensive Cancer Center, Medical University of Vienna, Vienna, Austria
3Department of Urology, University of Texas Southwestern, Dallas, Texas, USA
4Department of Urology, Second Faculty of Medicine, Charles University, Prague, Czech Republic
5Hourani Center for Applied Scientific Research, Al-Ahliyya Amman University, Amman, Jordan
6Karl Landsteiner Institute of Urology and Andrology, Vienna, Austria
7Research center for Evidence Medicine, Urology department Tabriz University of Medical Sciences, Tabriz, Iran
Aktuelle Daten deuten auf einen bemerkenswerten Rückgang der Verwendung von kontinenten Harnableitungen („continent urinary diversions“, CUD) nach bestimmten Blaseneingriffen hin, obwohl die kontinente Neoblase ursprünglich als Goldstandard galt.1 Im Folgenden präsentieren wir aktuelle Daten im Rahmen eines narrativen Literaturreviews und diskutieren die zur Verfügung stehenden Daten.
Keypoints
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Insgesamt zeigt sich ein Rückgang in der Nutzung kontinenter Harnableitungen in mehreren Ländern.
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Die Überlegenheit einer bestimmten Harnableitungsform ist nach wie vor nicht evident, weshalb es weiterhin wichtig ist, Patient:innen auch kontinente Harnableitungen anzubieten.
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Eine ausführliche Aufklärung über die zu erwartenden Vor- und Nachteile ist entscheidend, um eine gemeinsame Entscheidung von Chirurg:in und Patient:in im Sinne einer optimalen Versorgung zu ermöglichen.
Harnableitungstrends
Kontinente und inkontinente Harnableitungen („incontinent urinary diversions“, IUD) sind etablierte Methoden zur Wiederherstellung des Harnflusses nach exstirpativen Eingriffen bei benignen oder malignen Erkrankungen der Harnblase. Die Wahl zwischen CUD und IUD ist komplex und multifaktoriell, wobei die persönliche Präferenz der Patient:innen sowie eine ausführliche Aufklärung über mögliche Optionen eine entscheidende Rolle spielen.2
USA
Aus den Vereinigten Staaten liegen mehrere Studien zur Verwendung von CUD vor. Lowrance et al. (2009) berichteten von einem Rückgang der CUD-Nutzung an einem tertiären Versorgungszentrum von 47% im Jahr 2000 auf 21% im Jahr 2004.3 Kim et al. (2013) stellten einen Anstieg der CUDvon 6,6% in den Jahren 2001–2002 auf 9,4% in den Jahren 2007–2008 im Nationwide Inpatient Sample (NIS) fest.4 Bachour et al. (2018) beobachteten im National Surgical Quality Improvement Program (NSQIP), dass die Wahrscheinlichkeit, eine IUD zu erhalten, jährlich um 16% zunahm.5 Farber et al. (2018) berichten über eine Zunahme von CUD von 2001 bis 2008, gefolgt von einem Rückgang von 2008 bis 2012, insgesamt liegt die CUD-Rate im NIS von 2001–2012 bei 9,2%.6
Italien
In Italien analysierten Fedeli et al. (2011) regionale Krankenhausdaten aus den Regionen Piemont und Venetien und stellten fest, dass die Nutzung von CUD von 36% in den Jahren 2000–2002 auf 33% in den Jahren 2006–2008 zurückging.7
Australien
Eine australische Studie von Best et al. (2019) zeigte über einen Zeitraum von 20 Jahren (1998–2017) eine konstante CUD-Rate von 12%.8 Die Studie fand keine signifikanten Veränderungen in der Prävalenz von CUD über die Jahre hinweg.
Deutschland
Zuletzt zeigen aktuelle Daten des Statistischen Bundesamtes (Destatis) aus Deutschland, dass die Nutzung von CUDvon 37% im Jahr 2005 auf 20% im Jahr 2021 signifikant zurückging (Abb. 1).2 Diese Daten sind besonders repräsentativ, da die Destatis-Datenbank jeden abgerechneten Krankenhausfall aus Deutschland beinhaltet. Somit umfasste diese Analyse 157970 Harnableitungen zwischen 2005 und 2021 und zeigte eine Abnahme der CUD-Rate, insbesondere bei älteren und männlichen Patienten (Abb. 2).
Abb. 1: Jährlicher Anteil an kontinenten (grün) und inkontinenten Harnableitungen (rot) in Deutschland von 2005 bis 2021 für Patienten ab 18 Jahren
Abb. 2: Entwicklung der Anteile an kontinenten Harnableitungen, nach Geschlecht und Altersgruppe. Modifiziert nach Alfred Witjes J2,mit freundlicher Genehmigung, © J. Klemm et al. CC BY NC ND 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/alle Rechte vorbehalten
Diskussion
Insgesamt zeigt sich ein Rückgang der Verwendung von CUD nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch in den USA und anderen westlichen Ländern. Dies wirft die Frage nach möglichen Ursachen für diesen Rückgang auf. Bereits diskutierte Gründe umfassen ein zu geringes Operationsvolumen der chirurgischen Zentren, um eine komplexere Form der Harnableitung durchzuführen, subjektiv unbefriedigende funktionelle Ergebnisse der CUD sowie die technischen Herausforderungen mit flachen Lernkurven für die robotergestützte (intrakorporale) CUD-Implementierung.9 Weitere Faktoren, wie Patient:innenpräferenzen, Überlegungen zur Lebensqualität, der demografische Wandel mit zunehmenden Komorbiditäten der alternden Bevölkerung, Präferenzen der Chirurg:innen und wirtschaftliche Erwägungen könnten ebenfalls zu diesem Rückgang beitragen.
Interessanterweise fehlt die Evidenz, die eine Überlegenheit von IUD gegenüber CUD belegt. Die verfügbaren Daten, die die langfristigen Lebensqualitätsauswirkungen der verschiedenen Harnableitungen vergleichen, zeigen entweder keine signifikanten Unterschiede oder widersprüchliche Ergebnisse.10,11 Daher ist es essenziell, unvoreingenommene Gespräche mit Patient:innen und deren Angehörigen zu führen, in denen die Risiken, Vorteile und Beweggründe für jeden Harnableitungstyp erörtert werden, sowie CUD zumindest anzubieten, sofern es die Grunderkrankung zulässt.
Historisch gesehen wurden CUD oftmals eine höhere postoperative Morbidität zugeschrieben. Allerdings erschwert das Fehlen standardisierter Morbiditätsberichte definitive Schlussfolgerungen. Daten, die hohen Berichtsstandards entsprechen, deuten darauf hin, dass das Morbiditätsspektrum und die Morbiditätsintensität bei CUD und IUD vergleichbar sind.12,13 Älteren Patient:innen, die möglicherweise vermehrt Komorbiditäten aufweisen, könnten eher IUD empfohlen worden sein, was den beobachteten Abwärtstrend erklären könnte.
Der signifikant stärkere Rückgang der CUD-Raten bei männlichen Patienten in den Destatis-Daten könnte zudem einen sogenannten „Gender-Gap“ in der Versorgung von Patient:innen, die einer Harnableitung bedürfen, widerspiegeln. Obwohl Neoblase und kontinente kutane Pouches bei weiblichen Patientinnen mit suffizienten Ergebnissen durchführbar sind, sind die CUD-Raten bei Frauen kontinuierlich niedrig, sodass wenig Raum für einen Abwärtstrend verbleibt.
Literatur:
1 Klemm J et al.: Continent diversion is losing its momentum: a nationwide trend analysis from Germany 2005-2021. BJU Int 2024; 133(2): 154-7 2 Alfred Witjes J et al.: European Association of Urology Guidelines on Muscle-invasive and Metastatic Bladder Cancer: Summary of the 2023 Guidelines. Eur Urol 2024; 85(1): 17-31 3 Lowrance WT et al.: Urinary diversion trends at a high volume, single American tertiary care center. J Urol 2009; 182(5): 2369-74 4 Kim SP et al.: Population-based trends in urinary diversion among patients undergoing radical cystectomy for bladder cancer. BJU Int 2013; 112(4): 478-84 5 Bachour K et al.: Trends in urinary diversion after radical cystectomy for urothelial carcinoma. World J Urol 2018; 36(3): 409-16 6 Farber NJ et al.: Disparities in the use of continent urinary diversions after radical cystectomy for bladder cancer. Bladder Cancer 2018; 4(1): 113-20 7 Fedeli U et al.: Population-based analyses of radical cystectomy and urinary diversion for bladder cancer in northern Italy. BJU Int 2011; 108(8 Pt 2): E266-71 8 Best O, Patel MI: National trends in urinary diversion over the past 20years: an Australian study. ANZ J Surg 2019; 89(7-8): 925-9 9 Hautmann RE: Declining use of orthotopic reconstruction worldwide—what went wrong? J Urol2018; 199(4): 900-3 10 Shi H et al.: Comparison of health-related quality of life (HRQoL) between ileal conduit diversion and orthotopic neobladder based on validated questionnaires: a systematic review and meta-analysis. QualLife Res 2018; 27: 2759-75 11 Cerruto MA et al.: Systematic review and meta-analysis of non RCT‘s on health related quality of life after radical cystectomy using validated questionnaires: Better results with orthotopic neobladder versus ileal conduit. EurJSurg Oncol2016; 42(3): 343-60 12 Vetterlein M et al.: Perioperative morbidity after ureterocutaneostomy, conduit, and continent urinary diversion following radical cystectomy: A comparative assessment using the Comprehensive Complication Index® and the updated EAU guidelines of standardized reporting. Eur Urol Open Sci 2020; 19: e2251-e2 13 Katsimperis S et al.: Complications after radical cystectomy: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials with a meta-regression analysis. Eur Urol Focus 2023; 9(6): 920-9
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