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Physiotherapie bei Belastungsinkontinenz

„High-impact“-Belastungen als Training der Beckenboden-Reflexaktivität?

<p class="article-intro">Physiotherapie zur Kräftigung der Beckenbodenmuskulatur (BBM) ist nachgewiesenermaßen die Therapie erster Wahl bei Belastungsinkontinenz (BI). Allerdings fokussiert das BBM-Training bis heute fast ausschließlich auf willkürliche BBM-Kontraktionen, obwohl das Problem bei BI die unwillkürlichen reflektorischen Kontraktionen sind.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Physiotherapie ist wirksam bei Belastungsinkontinenz.</li> <li>Obschon Situationen, welche ungewollten Urinverlust ausl&ouml;sen, vor allem unwillk&uuml;rliche Schnell- und Reaktivkraft erfordern, fokussiert ein BBM-Training bis heute vor allem auf Willk&uuml;rmotorik.</li> <li>Optionen f&uuml;r ein unwillk&uuml;rliches reflektorisches BBMTraining k&ouml;nnten stochastische Ganzk&ouml;rpervibration, aber auch Joggen oder Spr&uuml;nge sein, da dadurch eine hohe und reaktive BBAktivierung ausgel&ouml;st wird.</li> <li>Dies l&auml;sst vermuten, dass Situationen, die ungewollten Urinabgang provozieren k&ouml;nnen, in angepasster Form als Training einsetzbar sind.</li> </ul> </div> <p>Beckenbodenmuskeltraining ist definiert als ein Programm wiederholter willk&uuml;rlicher Beckenbodenkontraktionen, welche durch eine Gesundheitsfachperson instruiert und kontrolliert werden. Es ist die &uuml;blichste physiotherapeutische Behandlung f&uuml;r Frauen, die an BI leiden, ist wirksam bei allen Formen der Inkontinenz und wird deshalb als Therapie erster Wahl empfohlen.<sup>1, 2</sup> Gem&auml;&szlig; Empfehlungen der International Consultation on Incontinence (ICI) sollte bei BI BBM-Training die erste Behandlungsma&szlig;nahme darstellen, bevor eine Operation in Erw&auml;gung gezogen wird.<sup>3</sup></p> <h2>BI bei schnellen und hohen Belastungen</h2> <p>Die Definition von BI &ndash; unwillk&uuml;rlicher Urinverlust bei k&ouml;rperlicher Anstrengung (z.B. w&auml;hrend sportlicher Aktivit&auml;ten) oder beim Niesen oder Husten<sup>4</sup> &ndash; beschreibt, wann der Urinabgang vorkommt. Die Definition sagt jedoch nichts &uuml;ber die Qualit&auml;t der Belastung aus, bei der ein Urinverlust auftritt respektive ausgel&ouml;st wird. Momente schneller und hoher Belastung erweisen sich als Situationen, bei denen BI auftritt. So l&auml;uft z.B. der expulsive Prozess des Niesens innerhalb von 150 Millisekunden (ms) ab.<sup>5</sup> Der &bdquo;peak flow&ldquo; beim Husten erfolgt bei einer Frau nach 57&ndash;110 ms.<sup>6</sup> Die Bodenreaktionskr&auml;fte beim Joggen betragen 2,4- bis 3,9-mal und beim Weitsprung sogar 16,4-mal das K&ouml;rpergewicht.<sup>7</sup> So erstaunt es nicht, dass BI bei Breiten- wie Spitzensportlerinnen weit verbreitet ist<sup>8, 9</sup> und Sportlerinnen, die &bdquo;High-impact&ldquo;-Sportarten betreiben, die h&ouml;chsten Pr&auml;valenzen dieses Problems aufweisen.<sup>9</sup><br /> Um diesen schnellen und hohen Belastungen gegensteuern zu k&ouml;nnen und damit die Kontinenz zu garantieren, muss die BBM kr&auml;ftig,<sup>10, 11</sup> schnell und reflektorisch<sup>12, 13</sup> kontrahieren k&ouml;nnen. Die F&auml;higkeit zu schnellen und kr&auml;ftigen BBMKontraktionen f&uuml;hrt zu einem ad&auml;quaten Druck in der proximalen Urethra, welcher h&ouml;her als der Blasendruck ist und somit den Harnabgang verhindert.<sup>14</sup> Um die Kontinenz zu gew&auml;hrleisten, sind schnelle und reflektorische BBM-Kontraktionen vor abrupten intraabdominellen Druckerh&ouml;hungen im Zusammenhang mit Husten, Niesen, Laufen oder Springen ausschlaggebend.<sup>13</sup> Studien belegen, dass die BBMFunktion betreffend Schnellkraft (&bdquo;rate of force development&ldquo;) bei inkontinenten im Vergleich zu kontinenten Frauen beeintr&auml;chtigt ist.<sup>12, 13</sup></p> <h2>Neue Ans&auml;tze des BBM-Trainings</h2> <p>Obschon in Situationen, in denen eine Belastungsinkontinenz ausgel&ouml;st wird, vor allem Schnell- und Reaktivkraft erforderlich ist, fokussiert ein BBM-Training heute in erster Linie auf die Willk&uuml;rmotorik. Folglich gibt es bis heute kaum Trainingsprotokolle, die auch auf unwillk&uuml;rliche, schnelle und reflektorische Beckenbodenkontraktion fokussieren,<sup>15, 16</sup> obgleich diese Trainingsprinzipien in der Trainingswissenschaft l&auml;ngst bekannt sind.<sup>17, 18</sup><br /> Es stellt sich die Frage, wie denn unwillk&uuml;rliche reflektorische BBM-Aktivierungen trainiert werden k&ouml;nnen. Als vielversprechende Option bietet sich die stochastische Ganzk&ouml;rpervibration (sGKV) an.<sup>19, 20</sup> Lauper et al.<sup>19</sup> untersuchten mittels Elektromyografie (EMG) die BBMAktivierung von Frauen post partum mit schwacher BBM (Oxford Grading Score M0&ndash;M3<sup>21</sup>) und einer gesunden Kontrollgruppe mit kr&auml;ftiger BBM (M4&ndash;M5<sup>21</sup>) w&auml;hrend sGKV mit unterschiedlichen Vibrationsintensit&auml;ten (2&ndash;12 Hertz [Hz]). Mit zunehmender Intensit&auml;t stieg die BBM-Aktivierung signifikant an und erreichte letztlich Werte, die h&ouml;her als bei einer maximalen willk&uuml;rlichen Kontraktion (MWK) waren (BBM schwach: 127,2 % MWK; BBM normal: 63,9 % MWK). Wenn die Studienteilnehmerinnen w&auml;hrend der Vibration zus&auml;tzlich ihre BBM maximal anspannten, erh&ouml;hte sich die BBM-Aktivierung mit zunehmender Vibrationsintensit&auml;t (BBM schwach: 88,0&ndash;165,5 % MWK; BBM normal: 88,3&ndash;113,1 % MWK).<br /> Ritzmann et al.<sup>22</sup> zeigten, dass bei GKV die Anzahl der EMG-Aktivit&auml;tsspitzen pro Sekunde in vier Beinmuskeln (M. soleus, M. gastrocnemius medialis, M. tibialis anterior, M. rectus femoris) exakt mit der eingestellten Vibrationsfrequenz &uuml;bereinstimmte. Sie begr&uuml;ndeten dies mit den durch die GKV provozierten Dehnreflexen und fanden nur minimalen Einfluss von Bewegungsartefakten (Bewegung der Kabel oder Elektrodenbewegung). Folglich kann vermutet werden, dass sGKV entsprechend der Vibrationsintensit&auml;t bis zu 12 BBM-Kontraktionen pro Sekunde erzeugen kann.<sup>19</sup> Lauper et al.<sup>19</sup> kamen zum Schluss, dass die BBM z.B. beim Treppabsteigen mit einer Frequenz von 6,85Hz kontrahiert (da der Impact innerhalb von 146ms erfolgt). Diese Frequenz ist jedoch so hoch, dass sie nicht durch willk&uuml;rliche BBM-Kontraktionen erreicht werden kann. Folglich k&ouml;nnte sGKV eine Option zum Training der schnellen, unwillk&uuml;rlichen Aktivit&auml;t der BBM sein. sGKV ist eine praktikable, sichere und gut vertr&auml;gliche Trainingsmethode auch f&uuml;r untrainierte &auml;ltere Personen.<sup>23</sup> Sie hat den Vorteil einer kurzen Interventionsdauer von in der Regel 30 Sekunden bis 5 Minuten.<sup>24</sup> Die Wirkung der sGKV auf eine Belastungsinkontinenz wurde jedoch bis heute noch nicht untersucht.</p> <h2>Alternative Methoden zum sGKVTraining</h2> <p>Als Alternativen zu einem sGKV-Training zur Aktivierung der BBM-Schnellund Reaktivkraft k&ouml;nnten sich &bdquo;high impacts&ldquo;, wie sie beim Laufen oder Springen erfolgen, anbieten. Laufen erm&ouml;glicht eine Zunahme von Belastungsh&auml;ufigkeit (Anzahl der Schritte) und -st&auml;rke (H&ouml;he der Geschwindigkeit)<sup>25&ndash;28</sup> &auml;hnlich wie bei der sGKV.<sup>19</sup><br /> So fanden Luginb&uuml;hl et al.,<sup>25</sup> dass die BBM bei jungen, gesunden Nulliparae beim Laufen unmittelbar vor und nach dem Fersenaufschlag eine signifikant h&ouml;here Aktivit&auml;t als in Ruhe zeigte. Die BBMAktivierung erreichte eine H&ouml;he von bis zu 106 % MWK bei einer Geschwindigkeit von 11km/h (Abb. 1). Auch Leitner et al.<sup>29</sup> fanden Reflexaktivit&auml;t der BBM beim Laufen. Sie zeigten diese bei Gesunden wie bei von einer leichten BI betroffenen Frauen. Im Gegensatz zur sGKV ist Laufen &bdquo;gratis&ldquo; und f&uuml;r jede Frau leicht zug&auml;nglich, als Training also &auml;u&szlig;erst praktisch und leicht umsetzbar.<br /> Auch Spr&uuml;nge &ndash; als einzelne &bdquo;Highimpact&ldquo;- Belastungen &ndash; scheinen in Hinblick auf eine starke reaktive BBM-Aktivierung vielversprechend (Abb. 2). Spr&uuml;nge wurden bez&uuml;glich der Muskulatur der unteren Extremit&auml;ten ausgiebig untersucht und es zeigte sich, dass diese &ndash; entsprechend ihren &bdquo;high impacts&ldquo; &ndash; eine hohe Schnell- und Reaktivkraft und -aktivierung hervorrufen. Aus diesem Grunde werden sie f&uuml;r die untere Extremit&auml;t f&uuml;r Reaktiv- und Schnellkrafttraining empfohlen.<sup>30&ndash;32</sup> Die F&auml;higkeit zur starken und schnellen BBM-Aktivierung ist bei Frauen mit BI reduziert.<sup>13</sup> Trotzdem fehlen bis heute publizierte Studien zur BBM-Aktivierung bei Spr&uuml;ngen.<br /> Erste Studien der BB-Aktivierung w&auml;hrend sportlicher Aktivit&auml;ten (Laufen, Spr&uuml;nge) zeigen hohe BBM-Aktivierungen im Zusammenhang mit &bdquo;High impact&ldquo;- Belastungen. Dies l&auml;sst vermuten, dass Ganzk&ouml;rperaktivit&auml;ten, die eine BI ausl&ouml;sen k&ouml;nnen, in angepasster und dosierter Form als Training f&uuml;r schnelle, reflektorische BB-Aktivierung eingesetzt werden k&ouml;nnen. Daher braucht es weitere Studien mit gesunden und vor allem mit von BI betroffenen Frauen, um vertiefte Erkenntnisse zu erlangen.<br /> Aktuell pr&uuml;ft eine randomisierte, kontrollierte Studie ein neues Trainingsprogramm: Ein periodisiertes und standardisiertes herk&ouml;mmliches Trainingsprotokoll wird mit einem neu entwickelten Trainingsprotokoll verglichen, welches nach den Phasen Sensomotorik-, Maximalkraftund Hypertrophietraining auch ein Schnell- und Reaktivkrafttraining integriert. Als Schnell- und Reaktivkrafttraining werden Laufen und Spr&uuml;nge in angepasster Form eingesetzt. Resultate werden in etwa einem Jahr erwartet.<sup>15</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Gyn_1705_Weblinks_jatros_gyn_1705_s15_abb1.jpg" alt="" width="1423" height="772" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Gyn_1705_Weblinks_jatros_gyn_1705_s15_abb2.jpg" alt="" width="2116" height="841" /></p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Ein herk&ouml;mmliches BBM-Training f&uuml;r Frauen mit BI adressiert nur die BBMWillk&uuml;rmotorik und nicht die eigentliche Problematik, n&auml;mlich die schnellen, reflektorischen BBM-Kontraktionen, welche entscheidend f&uuml;r die Garantie der Kontinenz in Belastungssituationen sind. Laufen und Spr&uuml;nge &ndash; beides Situationen, die eine BI provozieren k&ouml;nnen &ndash; l&ouml;sen eine reflektorische BBM-Aktivierung aus. Es braucht weitere Studien, die a) die BBM-Aktivierung in verschiedenen Momenten leichter bis hoher Belastung bei gesunden und von BI betroffenen Frauen untersuchen und b) die Wirksamkeit bez&uuml;glich der Integration solcher Situationen in angepasster Form in ein Therapieprogramm pr&uuml;fen.</p> </div></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Dumoulin C et al.: Pelvic floor muscle training versus no treatment, or inactive control treatments, for urinary incontinence in women. Cochrane Database Syst Rev 2014; 5: CD005654 <strong>2</strong> Bo K: Pelvic floor muscle training in treatment of female stress urinary incontinence, pelvic organ prolapse and sexual dysfunction. 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