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Libidostörungen bei Mann und Frau – Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Urologik
Autor:
Dr. Bernhard Schwindl
Klinik für Urologie, Andrologie und Kinderurologie<br> Kliniken Nordoberpfalz, Klinikum Weiden<br> E-Mail: bernhard.schwindl@kliniken-nordoberpfalz.ag
30
Min. Lesezeit
29.09.2016
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<p class="article-intro">Die Libidostörung ist ein immer häufiger vorkommendes Krankheitsbild mit vielschichtigem Ursprung. Daher gilt es den biopsychosozialen Hintergrund umfassend zu eruieren. Sie betrifft häufiger die Frau als den Mann. Für eine erfolgreiche Behandlung bedarf es eines Teams aus sexualmedizinisch interessierten Andrologen oder Gynäkologen und Psychotherapeuten.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Libidostörungen haben heterogene Ursachen somatischen oder (häufiger) psychosozialen Ursprungs.</li> <li>Frauen sind deutlich häufiger betroffen.</li> <li>Der Grad der genitalen Erregung ist beim Mann im Einklang mit der emotionalen Erregung, bei der Frau häufiger diskordant.</li> <li>Der Nutzen der Pharmakotherapie ist bei psychosozialer Ursache zweifelhaft.</li> </ul> </div> <h2>Definition</h2> <p>Der Begriff der Libido geht auf den Psychoanalytiker Sigmund Freud zurück. Doch erst Mitte des letzten Jahrhunderts wurden Libidostörungen systematisch erforscht. Eine Definition hat erst 1980 Eingang in die DSM-Klassifikation („Diagnostic and Statistical Manual of mental disorders“) der amerikanischen Psychiatrie-Gesellschaft gefunden. Immerhin hat man 1987 schon die Störung des verminderten sexuellen Verlangens („hypoactive sexual desire disorder“, HSDD) genauer beschrieben als dauerhaftes oder wiederkehrendes Fehlen von sexuellen Fantasien und Begehren sexueller Aktivität, welches den Betroffenen quält oder zwischenmenschlichen Kummer verursacht. (Abzugrenzen davon ist die Asexualität als eine eigene Entität innerhalb der Formen der sexuellen Orientierung. Zeitlebens Betroffene verspüren keinen Leidensdruck.)<br /> Die aktuell überarbeitete Version von 2013 unterscheidet erstmals die Libidostörung des Mannes von der der Frau und fasst die vorher getrennte Libido- und Erregungsstörung der Frau zusammen. Die neue Definition gibt erstmals auch ein zeitliches Kriterium an, nämlich eine Dauer von sechs Monaten. Abzugrenzen gilt es medizinisch begründbare Formen, wie Allgemeinerkrankungen (z.B. Depression, endokrine Störungen etc.), Beziehungsprobleme, Medikamente oder einen Drogenmissbrauch. Das Syndrom des LSD/I („low sexual de­sire/interest“) subsumiert alle Formen, auch die HSDD. Bei der Frau wurde die Libidostörung wieder mit der Störung der Erregung (Lubrikation, Steigerung der Durchblutung von Beckenorganen und Genitale etc.) vereint, da eine Trennung im klinischen und therapeutischen Alltag oft schwierig ist. Tatsache ist, dass die Libidostörung weit häufiger die Frau betrifft, man geht von einer Prävalenz von über 20 % aus.</p> <h2>Modelle der sexuellen Reaktion</h2> <p>Wie unterscheidet sich nun die Luststörung bei den Geschlechtern? Beim Mann gilt weiterhin das von Masters und Johnson begründete und von Helen Kaplan erweiterte lineare Modell der sexuellen Reaktion. Auf einen Reiz (visuell, taktil, olfaktorisch und kognitiv) folgen (bei ungestörter Erektion) Erregung, Plateau, Orgasmus und Refraktärzeit. Bei der Frau ist dies sehr variabel. Ein Teil der Frauen reagiert in ähnlicher Weise mit einer (optionalen) Anzahl von Orgasmen. Ein anderer, großer Teil jedoch durchläuft einen Lernprozess und wird im günstigen Fall belohnt, was sich auch in einem höheren sexuellen Interesse auswirkt. Akzeptiert wird heute – vor allem für länger bestehende Beziehungen gültig – das biopsychosoziale Modell nach Rosemary Basson, einer Psychiaterin aus Vancouver. Neuere Forschung betont, dass bei vielen Frauen die Lust erst im Rahmen der Erregung auftritt bzw. sich hochschaukelt. Man könnte auch sagen: „Der Appetit kommt beim Essen.“ Dieser Prozess der rezeptiven Erregbarkeit unterliegt einer ausgesprochen hohen Anfälligkeit, multiple Stressoren können die Libido stören.<br /> Wesentliche Unterschiede zwischen Mann und Frau bestehen darin, dass der Antrieb bei Männern häufiger ist, die Frau ist im Allgemeinen eher passiv. Wenn die Erregung aber einmal da ist, ist die Intensität der Erregung gleich. Bei fehlender Belohnung steigt die Schwelle der Erregbarkeit. Frauen, die keinen Orgasmus erleben, verlieren zunehmend die Lust. Beim Mann besteht ein enger Zusammenhang zwischen Reiz und subjektiver und genitaler Erregung. Bei der Frau ist der Zusammenhang zwischen genitaler und empfundener Reaktion deutlich geringer, der Grad der genitalen Erregung ist nicht proportional mit einem emotionalen Genuss verbunden. Bei vielen Frauen ist eine stabile Beziehung eine wesentliche Komponente der Erregung. Das Gefühl von Geborgenheit, emotionaler Nähe etc. ist ein stabilisierender Faktor. Kontraproduktiv wirken Selbstzweifel, Unzufriedenheit mit dem Aussehen, Partnerkonflikte, sexuelle Defizite des Partners, sexuelle Langeweile, Belastung in Kindererziehung und Beruf.</p> <h2>Ursachen und Diagnostik</h2> <p>Der Sexualtrieb – evolutionsbiologisch-genetisch im limbischen System verankert, durch Reizeinwirkung auf den Cortex getriggert, neuronal und hormonell gesteuert – unterliegt mannigfaltigen Einflüssen auf organischer wie auch emotionaler Ebene (Tab. 1). Naturgemäß ergeben sich dabei auch Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Frauen sind durch die Pille oder die Menopause häufiger von einer Depression bedroht, während die Männer evtl. unter einem Testosteronmangel oder einer Erektionsstörung mit reaktiver Lustlosigkeit und Versagensangst leiden.<br /> Medikamente wie Alpha-Blocker, 5-Alpha-Reduktasehemmer (z.B. Finasterid, auch als Haarwuchsmittel, manchmal irreversibel!) oder Spironolacton wirken ebenso negativ. Ein Prolaktin produzierender Tumor äußert sich durch eine Störung des Regelkreises, primäres Zeichen ist ein Leistungs- und Libidoabfall.<br /> Aus den Ursachen lassen sich auch die diagnostischen Schritte ableiten. Eine narrative und gezielte Sozial- sowie Sexual­anam­nese, Befunderhebung (inkl. Mammae, Genitale) gilt es mit einer Laboruntersuchung zu kombinieren. Dazu gehören neben dem Basislabor mit Blutbild, Blutzucker, Leber- und Nierenwerten bei entsprechendem Risiko auch ein HIV-Test sowie ein Hormonstatus mit Testosteron, Östradiol, TSH, Prolactin, Cortisol, evtl. Serotonin. Differenziert wird zwischen lebenslanger oder erworbener, genereller oder situativer Störung. Eine erworbene Störung ist evtl. behandelbar, eine situationsbezogene Genese muss nicht immer behandelt werden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Urologik_Uro_1603_Weblinks_seite21.jpg" alt="" width="738" height="412" /></p> <h2>Therapieformen</h2> <p>Eine kausale Therapie ist eher selten möglich. Einen manifesten Hormonmangel gilt es auszugleichen (Testosteron, Schilddrüse). Ein Prolaktin produzierender Tumor der Hirnanhangsdrüse kann meistens konservativ beherrscht werden (z.B. mit Cabergolin 2x 0,5mg/Woche). Ist die Störung bedingt durch eine SSRI-Nebenwirkung, ist eine Dosisreduktion bzw. ein Präparatwechsel (z.B. Bupro­pion, Bu­spiron oder Duloxetin) – immer in Abstimmung mit dem Neurologen – hilfreich. Die Aufklärung über mögliche Zusammenhänge wie Ernährung, Abbau von Stress, Noxen etc. ist essenziell. Eine Änderung der Lebensführung kann sich lohnen. Der Einfluss von Über- bzw. Untergewicht soll ebenso wie der Abbau von Stress und Noxen thematisiert werden. Eine Verhaltenstherapie (Masters und Johnson, Kaplan), oft als Paartherapie („Hamburger Modell“, syndiastische Sexualtherapie), Fokustherapie, Mind-Body- und Entspannungsübungen sind für den langfristigen Therapieerfolg unabdingbar.<br /> Bei der Labordiagnostik ist der Testosteronspiegel beim Mann richtungsweisend, die Libidostörung ist ein Hauptmerkmal des Hypogonadismus. Im Graubereich (8–12ng/dl) wird eine Bestimmung des biologisch verfügbaren Testosterons (bzw. des freien Androgen-Indexes durch Mitbestimmung des sexualhormonbindenden Globulins) gemessen. Nur die Behebung eines manifesten Testosteronmangels hat Aussicht auf Wirkung. Potenzmittel (Yohimbin, PDE-5-Hemmer) sind im Allgemeinen unwirksam (und nur im Sinne einer „psychischen Krücke“ oder bei gleichzeitiger Erektionsstörung einzusetzen).<br /> Bei der Frau, deren Testosteronspiegel um mehr als 1/10 niedriger liegt, ist die Substitution immer eine klinische Entscheidung und muss sehr streng gestellt werden. Anders als beim Mann, bei dem das Testosteron mit dem Alter kontinuierlich sinkt, bleibt der Testosteronspiegel der Frau in der Postmenopause lange Zeit stabil. Dies konnte das Melbourne Women’s Midlife Health Project, eine australische Studie über die hormonellen Veränderungen, nachweisen. Nicht umsonst ist der Intrinsa-Patch mit 2mg Testosteron bei uns nicht mehr verfügbar, auch wenn einige Frauen (nach Ovarektomie oder bei Nebenniereninsuffizienz) davon profitiert haben. In den USA empfiehlt die Endo­crine Society weiterhin bei evidentem Mangel (z.B. bei verminderter Libido nach Ovarektomie) eine eher kurzzeitige (über 3 Monate), hochphysiologische Gabe von Testosteron mit klinischen Kontrollen hinsichtlich eines Testosteronüberschusses. Weit verbreitet ist dort auch die Anwendung von DHEA (initial 5–10mg/Tag). Aufgrund von fehlender Evidenz ist dieses Konzept bei uns nur „off-label“ möglich.</p> <h2>Pharmaka- und Phytotherapie</h2> <p>Die Substitution in Verbindung mit Wechseljahresbeschwerden erfolgt zumeist mit Östrogenen (bei vorhandener Gebärmutter in Kombination mit Gestagenen), die oral, transdermal oder bei ausschließlicher Genitalsymptomatik am besten lokal, transvaginal, angewendet werden. Zur Substitution bei der postmenopausalen Frau vereint Tibolon (Liviella®) Östrogen-, Gestagen- und androgene Wirkung. <br /> Im Internet wird auch bei uns für Frauen mit Erregungsstörung Sildenafil als „Viagra für die Frau“ unter verschiedenen Namen (Ladygra®, Lovegra® bzw. Lybrido®) beworben. Es soll die Lubrikation und Durchblutung der Organe im kleinen Becken fördern. In Kombination mit Testosteron (Lybrido®) oder als Ly­bridos® (Buspiron mit Testosteron), welches als Anxiolytikum kurzfristig einen antiserotoninergen Effekt hat, entsprechen diese Medikamente in keiner Weise einer evidenzbasierten Medizin und sind mit Vorsicht anzuwenden. Entsprechend den Kontraindikationen beim Mann müssen die Nebenwirkungen auch für die Frau (Mammakarzinom, Interaktionen mit Nitroverbindungen etc.) berücksichtigt werden. <br /> Das „nihil nocere“ muss auch bei der Einnahme eines frei verkäuflichen Aphrodisiakums gelten. Nicht umsonst ist die „Spanische Fliege“, bedingt durch die enthaltene nieren- und lebertoxische Substanz Cantharidin, vom Markt verschwunden. Zahlreiche weitere Substanzen versprechen Wirkung ohne Reue. Dazu zählen die peruanische Maca-Wurzel, der Heilpilz Cordyceps aus der traditionellen chinesischen Medizin, der asiatische Ginseng, das westafrikanische Yohimbin, die Muira-Puama-Pflanze aus Brasilien, die Damiana (Turnera diffusa), die mexikanische Yams-Wurzel, der wilde Hafer (Avena sativa), Kürbiskerne und der Granatapfel; Nahrungsergänzung mit L-Arginin/Kiefernextrakt und Zink. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Der Nachweis der Wirksamkeit der Mittel über den Placeboeffekt hinaus gestaltet sich schwierig. Eine Auswirkung auf den Hormonhaushalt ließ sich in zahlreichen Studien nicht finden.<br /> Anders bei Flibanserin (Addyi®), einer Novität aus der Gruppe der Antidepressiva, das 2015 in den USA für die prämenopausale Frau zugelassen wurde (und damit über die internationale Apotheke beziehbar ist). Ursprünglich von Boehringer Ingelheim entwickelt, wurde es nach Zulassungsproblemen 2010 an ein US-Unternehmen verkauft, das die Weiterentwicklung und Zulassung in den USA übernahm. Das Medikament senkt den Serotoninspiegel im Gehirn und hebt den Dopaminspiegel an. Es muss in einer Dosis 100mg täglich über etwa vier Wochen eingenommen werden. Die Anzahl der befriedigenden sexuellen Ereignisse wird nach Studienlage (bei einem Durchschnitt von 2,7) bei der Studienpopulation um 0,5–1 pro Monat gesteigert. Der Bevölkerungsdurchschnitt liegt bei etwa 6 pro Monat. Die „Normwerte“ des Sexualvollzugs variieren altersbezogen und liegen bei über 150-mal pro Jahr im Alter bis 30 und unter 100-mal pro Jahr im Alter ab 40; knapp jede zweite Frau über 50 wird mehrmals im Monat intim. Die Wirkung von Flibanserin geht allerdings einher mit einer rund vierfach höheren Rate an Schwindel und Müdigkeit sowie einer 2,4-mal höheren Rate an Übelkeit im Vergleich mit Placebo. Synkopen treten vor allem in Kombination mit Alkohol auf. Mittlerweile gibt es viele kritische Stimmen in Bezug auf das ungünstige Nutzen-Nebenwirkungs-Verhältnis.</p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Ungeachtet weiterer pharmakologischer Entwicklungen, die insbesondere auf die Libidostörung der Frau abzielen, wird eine Tablette allein die gute partnerschaftliche Beziehung, geprägt von gegenseitiger Wertschätzung im Sinne der „amoris laetitia“, nicht ersetzen können.</p> </div></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p>• Beier K, Loewit K: Praxisleitfaden Sexualmedizin. Springer 2011 • Bitzer J et al: Sexual desire and hypoactive sexual desire disorder in women. Introduction and overview. Standard operating procedure (SOP Part 1). J Sex Med 2013; 10: 36-49 • Giraldi A et al: Female sexual arousal disorders. J Sex Med 2013; 10: 58-73 • Porst H, Reisman Y: The ESSM Syllabus of Sexual Medicine. 2nd ed. 2015 • Schwindl B: Gibt es die Wechseljahre des Mannes? In: Pharmakon, DPhG 6/2015 • Schwindl B: Andrologische Fragestellungen im Kontext der Reproduktionsmedizin. In: Meyer-Lewis B, Rupp M (Hg.): Der unerfüllte Kinderwunsch. Interdisziplinäre Perspektiven. Leverkusen: Budrich, 2015 • Strauß B: Psychotherapie der Sexualstörung. Stuttgart: Thieme, 1998, 2004</p>
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