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Urgency: von der Physiopathologie zur Therapie
Urologik
Autor:
Priv.-Doz. Dr. Orietta Dalpiaz, FEBU
Universitätsklinik für Urologie<br> Medizinische Universität Graz<br> E-Mail: orietta.dalpiaz@medunigraz.at
30
Min. Lesezeit
13.12.2018
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<p class="article-intro">Urgency ist als imperativer Harndrang definiert. Die International Continence Society (ICS) definiert Urgency wie folgt: „a sudden compelling desire to pass urine which is difficult to defer“.<sup>1</sup> Dieses Symptom beeinflusst stark die Lebensqualität und für die Patienten scheint dies störender als die Inkontinenz zu sein. Die Definition von imperativem Harndrang ist aber noch heute nicht ganz klar und einheitlich, und wenn man gesunde oder betroffene Leute befragt, was sie mit imperativem Drang meinen, bekommt man die unterschiedlichsten Antworten, wie z.B. schnell urinieren, Brennen beim Urinieren, inkomplette Blasenentleerung, Schmerzen usw.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Urgency ist ein imperativer Harndrang. Diese Definition ist heute noch nicht einheitlich, da sie auch eine subjektive Interpretation beinhaltet.</li> <li>Die Diagnose des imperativen Harndranges ist eine Ausschlussdiagnose und die Voraussetzung für die Therapieentscheidung.</li> <li>Die individuelle Wahrnehmung des imperativen Harndranges und mögliche Chronifizierungsfaktoren müssen in die Diagnose und die Therapie miteinbezogen werden.</li> </ul> </div> <h2>Physiologie des Harndrangs</h2> <p>Die Wahrnehmung von Harndrang ist ein physiologisches Ereignis und wurde ausführlich erforscht. Im Jahr 2002 wurden durch urodynamische Studien bei gesunden Probanden drei normale Blasensensationen definiert: erste Wahrnehmung der Blasenfüllung (FSF, „first sensation of filling“), erster Harndrang (FDV, „first desire to void“) und starker Harndrang (SDV, „strong desire to void“).<sup>2</sup> Diese Terminologie wurde von der ICS übernommen und zugelassen. Wie entstehen diese Sensationen? Die willentlich adäquate Kontrolle der Blasenfüllung und -entleerung ist ein komplexes Geschehen, das von autonom gesteuerten viszeralen Funktionen und von willkürlich gesteuerten motorischen Kontrollfunktionen abhängig ist und von emotionalen sowie kognitiven Verhaltensfaktoren beeinflusst wird (Abb. 1).</p> <h2>Periphere Innervation</h2> <p>Bei der Blasenfüllung reagieren Mechanosensoren in der Blasenwand und der Urethra auf die entstehende Dehnung und Druckveränderung. Über β-adrenerge Rezeptoren in der Blasenwand wird eine Hemmung der Detrusoraktivität erreicht. Selektive α-adrenerge Rezeptoren stimulieren den Blasenhals, wodurch bei zunehmender Blasenfüllung einerseits eine Ruhigstellung des Detrusors, andererseits eine zunehmende Tonisierung des Blasenhalses und der proximalen Urethra als Teil des Kontinenzmechanismus erreicht wird. Über Mechanorezeptoren der myofaszialen Strukturen des Beckenbodens wird auch auf somatischer Ebene deren Tonus reguliert. Dieser Vorgang ist nahezu wahrnehmungsfrei. Über das zentral gelegene pontine Miktionszentrum kann durch willkürliche Hemmung des Miktionsreflexes die Detrusorkontraktion so lange unterdrückt werden, bis die äußeren Umstände eine Blasenentleerung zulassen.</p> <p><strong>Zentrale Steuerung</strong><br />Im zentralen Nervensystem wird die Koordination afferenter und efferenter Signale gesteuert und die Wahrnehmung und Interpretation des Harndranges bestimmt. Während der Füllung der Harnblase werden afferente Signale über das Rückenmark in den Hirnstamm (pontines Miktionszentrum = PMC, periaquäduktales Grau = PAG) und zentralen Kortex und durch exterozeptive Reize (Schmerz, Temperatur, Berührung) wie auch propriozeptive Reize (Dehnungs-, Kontraktionszustand) der intramuskulären und mukösen Rezeptoren der Blasenwand zum Thalamus geleitet und informieren über Blasenfüllungsgefühl und Harndrang. In den letzten Jahren konnten dank der Entwicklung der Neuroradiologie und durch funktionelle Magnetresonanz (fMRI) verschiedene zuständige Gehirnregionen in der Füllungsphase der Blase beschrieben werden.<sup>3</sup> Während der Füllung der Harnblase werden Afferenzen im PAG und in der Insula verarbeitet. Der anteriore zinguläre Kortex (ACC) ist in das Monitoring und die Kontrolle der afferenten Informationen involviert. Der präfrontale Kortex beeinflusst die Entscheidung zum Harnlassen. Insula und ACC sind auch für die Wahrnehmung und die Interpretation des Dranges zuständig (Abb. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Urologik_Uro_1804_Weblinks_uro_1804_s20_abb1.jpg" alt="" width="650" /></p> <h2>Klinik</h2> <p>Urgency ist ein Symptom, kommt als solches bei verschiedensten Pathologien vor und hängt auch vom Lebensstil ab (Tab. 1). Primäre Noxen in der Blase oder Urethra, in den myofaszialen oder neurogenen Strukturen im Becken können zu erhöhter Mechanosensitivität führen und so auch bei geringer Füllung bereits ein Dranggefühl allein oder begleitet von anderen Symptomen hervorrufen. Bei inflammatorischen Prozessen oder Schmerzsyndromen kann die Füllung der Blase als schmerzhaft erlebt werden.<br /> Urgency verursacht andere Symptome wie Nykturie, Pollakisurie und Inkontinenz und führt zu Veränderungen des Verhaltens (weniger trinken, häufige Toilettengänge, Einschränkung der Aktivitäten, sozialer Rückzug) und zu einer konsequenten Verschlechterung der Lebensqualität.<br /> Die Symptome imperativer Harndrang, Pollakisurie und Dranginkontinenz wurden von der ICS als „overactive bladder“ (OAB) zusammengefasst.<sup>1</sup></p> <h2>Chronifizierung</h2> <p>Die Wahrnehmung von Harndrang bei der Blasenfüllung ist ein physiologisches Ereignis. Im zentralen Nervensystem wird die Interpretation von Drang als normales oder imperatives Signal von emotionalen und kognitiven Faktoren beeinflusst (limbisches System). Dies zeigt sich in der Praxis, in der Drang individuell unterschiedlich beschrieben (Druck, Spannung, Schmerz, Wärme usw.) und unterschiedlich emotional bewertet wird. Wird die Wahrnehmung von Drang mit Harnverlust oder/und Schmerz verbunden, so kann es zum erlernten Verhalten von Angst und zur zentralen Chronifizierung des Symptoms kommen. Daher ist Urgency in der chronischen Form ähnlich zu behandeln wie andere Chronifizierungsprozesse.</p> <h2>Diagnose</h2> <p>Die Diagnose ist wegen der fehlenden Spezifität der Symptomatik eine Ausschlussdiagnose. Die Grunderkrankung, die zum Drangsymptom geführt hat, muss ausgeschlossen werden, wie z.B. unspezifische Infektionen, anatomische Anomalien, subvesikale Obstruktion, Tumoren oder metabolische Störungen (Tab. 1). Wichtig für die Diagnose sind eventuelle Komorbiditäten oder Chronifizierungsfaktoren. Voraussetzung für die Diagnose ist, das Miktionsverhalten der Patienten zu erfassen. Dazu dienen Miktionstagebuch oder Miktionsprotokoll, wobei die Trinkzeiten und -mengen sowie Blasenentleerungszeiten und die Urinmenge täglich notiert werden.<br /> Zur Messung der Urgency stehen verschiedene Skalen zur Verfügung, wie die Indevus Urgency Severity Scale (IUSS), die Urgency Perception Scale (UPS) und der Overactive Bladder Questionnaire (OAB-q). Die Patient Perception of Intensity of Urgency Scale (PPIUS) ist die meistbenutzte Skala zur Bestimmung des Schweregrades von Drang und Dranginkontinenz. Der Total Urgency and Frequency Score (TUFS) ist ähnlich der PPIUS und misst Drang und Pollakisurie.<sup>4</sup><br /> Eine funktionelle Abklärung und die Klassifikation der Pathophysiologie einer gestörten Speicherfunktion der Harnblase erfolgen durch die urodynamische Untersuchung. Das Ziel der urodynamischen Untersuchung ist, die Symptome zu reproduzieren und Faktoren, welche die Therapie beeinflussen können, zu identifizieren.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Urologik_Uro_1804_Weblinks_uro_1804_s20_tab1.jpg" alt="" width="650" height="410" /></p> <h2>Therapie</h2> <p>Die klinische Diagnose ist die Voraussetzung für die Therapieentscheidung. Eine Verhaltenstherapie im Sinne einer Änderung des persönlichen Lebensstils, der Wahrnehmung der Harnblase und des Miktionsverhaltens sollte bei jedem Patienten eingeleitet werden. Voraussetzungen dafür sind die hohe Motivation von Ärzten und Patienten und eine engmaschige Betreuung der Patienten. Auch die Physiotherapie wird als primäre Therapie eingesetzt. In einer aktuellen Revision der Literatur wurde die Wirksamkeit des Beckenbodentrainings in der Verbesserung der OAB-Symptome untersucht. Trotz inhomogener Daten zeigte sich eine nachweisliche Verbesserung der Lebensqualität.<sup>5</sup> Beim Symptom Urgency ist die Pharmakotherapie die Behandlung der ersten Wahl. Die Antagonisten der Muskarinrezeptoren sind die meistbenutzten in der Therapie der Urgency und OAB. Der Wirkmechanismus ist die Hemmung der Blasendetrusorkontraktionen durch die Blockade von Muskarinrezeptoren. β3- Agonisten, wie Mirabegron, wurden von der Food and Drug Administration (FDA) 2012 zugelassen. Die Aktivierung der β3- Rezeptoren bewirkt eine Detrusorrelaxation und somit eine Begünstigung des Speichervermögens der Blase.<br /> Die Monotherapie mit Antimuskarinika zeigte Erfolge bei 40 % der Patienten nach 12 Wochen. Viele Studien zeigten, dass Patienten unter Mirabegron-Behandlung länger unter der Therapie bleiben im Vergleich zu Anticholinergika, die häufiger zu belastenden Nebenwirkungen führen. Unter Mirabegron wurden jedoch schwerwiegende Fälle von Hypertonie berichtet. Das Ansprechen auf einzelne Präparate ist sehr individuell, sodass durchaus ein probatorisches Wechseln innerhalb einer Substanzgruppe oder eine Kombination von Präparaten sinnvoll ist. Die Studien Symphony, BESIDE und SYNERGY zeigten eine signifikante Besserung der Symptome und der Lebensqualität unter einer Kombinationstherapie versus Monotherapie.<sup>6</sup> Auch in der medikamentösen Therapie spielen verschiedene Aspekte sowie das subjektive Empfinden eine Rolle. In der Behandlung der chronifizierten Urgency müssen Maßnahmen zur Beeinflussung des Erlebens und Verhaltens, der kognitiven Verknüpfung der Drangwahrnehmung und der daraus subjektiven Bewertung von Drang einbezogen werden.<br /> Mit dem Ziel, die Aktivität des Detrusors zu verringern, zeigt auch die intravesikale Anwendung von Botulinumtoxin A eine signifikante und klinisch relevante Besserung der Drangsymptomatik.<br /> Neuromodulationsverfahren wie die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), die perkutane/transkutane tibiale Nervenstimulation (PTNS/TTNS) und die sakrale Neuromodulation (SNM) stellen sich auch bei Urgency als vielversprechende Zweitlinientherapie dar. Durch die Stimulation von peripheren Afferenzen kommt es zu einer Modulation von Rückenmarksreflexen und Gehirnzentren. Eine aktuelle Studie verglich die Gehirnaktivität vor und nach SNM bei OAB-Patienten und zeigte eine signifikante Reduktion der Aktivität im ACC, in der Insula und im präfrontalen Kortex nach SNM.<sup>7</sup></p> <p><br />Zusammenfassend kann geschlossen werden, dass uns heute viele Therapien in der Behandlung der Urgency als Symptom zur Verfügung stehen. Individuelle Wahrnehmung und subjektive Interpretation der Urgency sollten in die Diagnose und Therapie unserer Patienten miteinbezogen werden.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Abrams P et al.: The standardisation of terminology of lower urinary tract function: report from the Standardisation Sub-committee of the International Continence Society. Neurourol Urodyn 2002; 21: 167-78 <strong>2</strong> Wyndaele JJ, De Wachter S: Cystometrical sensory data from a normal population: comparison of two groups of young healthy volunteers examined with 5 years interval. Eur Urol 2002; 42(1): 34-8 <strong>3</strong> Griffiths D, Tadic SD: Bladder control, urgency, and urge incontinence: evidence from functional brain imaging. Neurourol Urodyn 2008; 27(6): 466-74 <strong>4</strong> Notte SM et al.: Content validity and test-retest reliability of Patient Perception of Intensity of Urgency Scale (PPIUS) for overactive bladder. BMC Urol 2012; 12: 26 <strong>5</strong> Monteiro S et al.: Efficacy of pelvic floor muscle training in women with overactive bladder syndrome: a systematic review. Int Urogynecol J 2018; 29(11): 1565-73 <strong>6</strong> Andersson KE et al.: The efficacy of mirabegron in the treatment of urgency and the potential utility of combination therapy. Ther Adv Urol 2018; 10(8): 243-56 <strong>7</strong> Weissbart SJ et al.: Specific changes in brain activity during urgency in women with overactive bladder after successful sacral neuromodulation: a functional magnetic resonance imaging study. J Urol 2018; 200(2): 382-8</p>
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