
©
Getty Images/iStockphoto
Die Problematik der Polypharmazie
Leading Opinions
Autor:
Prof. Dr. med. Monika Lechleitner
Primaria<br> Abteilung Innere Medizin<br> Krankenhaus Hochzirl-Natters, Hochzirl<br> E-Mail: monika.lechleitner@tirol-kliniken.at
30
Min. Lesezeit
16.05.2019
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">Die Prävalenz des Diabetes mellitus steigt mit zunehmendem Lebensalter an, rund 60 % aller Diabetiker sind über 65 Jahre alt.<sup>1</sup> Die altersassoziierte Multimorbidität führt häufig zu einer gleichzeitigen Einnahme mehrerer Medikamente, was ein erhöhtes Risiko für Arzneimittelinteraktionen mit sich bringt.<sup>2, 3</sup> Als Polypharmazie wird von der WHO die gleichzeitige Einnahme von mehr als fünf rezeptfreien, rezeptpflichtigen oder traditionellen Arzneimitteln definiert.<sup>4</sup> Anhand von Daten des National Health and Nutrition Examination Survey konnte eine Zunahme der Polypharmazie von 8,2 % im Jahr 1999 auf 15 % im Jahr 2011 beobachtet werden.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die Therapie des Diabetes mellitus sollte bei geriatrischen Patienten die Lebensqualität und den Erhalt der funktionellen Unabhängigkeit zum vorrangigen Ziel haben.</li> <li>Eine hohe Anzahl an weiteren Diagnosen (Multimorbidität) resultiert häufig in der Verordnung einer hohen Anzahl unterschiedlicher Medikamente.</li> <li>Die regelmässige kritische Überprüfung und Anpassung der Medikation an die individuellen Bedürfnisse des älteren Patienten haben einen hohen Stellenwert, um das Risiko für Arzneimittelnebenwirkungen und -interaktionen zu verringern.</li> </ul> </div> <h2>Medikamente an das Lebensalter anpassen</h2> <p>Ältere Menschen weisen aufgrund altersassoziierter Veränderungen eine erhöhte Vulnerabilität für Arzneimittelnebenwirkungen und -interaktionen auf.<sup>5</sup> Dazu zählen vor allem Einschränkungen in der renalen und hepatischen Metabolisierung und Elimination von Medikamenten. Zusätzlich können altersassoziierte Beeinträchtigungen von Gegenregulationsmechanismen das Nebenwirkungsrisiko erhöhen, wie orthostatische Probleme bei antihypertensiver Therapie oder eine verzögerte oder beeinträchtigte Hypoglykämiewahrnehmung bei antidiabetischer Therapie. Für eine Reihe von Medikamenten ergibt sich deshalb die Notwendigkeit, die Dosierung an das Lebensalter, das Körpergewicht und die Nierenfunktion anzupassen. Auch in der medikamentösen Therapie des Typ-2-Diabetes müssen altersspezifische Veränderungen und Risiken besondere Berücksichtigung finden.</p> <h2>Diabetesmedikamente im Hinblick auf ältere Menschen</h2> <p><strong>Metformin</strong><br /> Metformin gilt entsprechend nationalen und internationalen Leitlinienempfehlungen als medikamentöse Basistherapie in der Behandlung des Typ-2-Diabetes. Metformin unterliegt keiner Plasmaproteinbindung und wird praktisch unverändert renal ausgeschieden.<sup>6, 7</sup> Die Nierenfunktion stellt ein wichtiges Kriterium hinsichtlich einer Kontraindikation für Metformin bzw. der Notwendigkeit einer Dosisanpassung dar. In Österreich ist laut Zulassungstext eine Verabreichung von Metformin bei einer eGFR zwischen 45 und 59 ml/min bei Fehlen von weiteren Risikofaktoren für eine Laktatazidose in einer Dosierung von maximal 2 x 500 mg möglich.* Die Nierenfunktion muss dabei zumindest im Abstand von 3 bis 6 Monaten kontrolliert werden. Bei einer eGFR unter 45ml/min besteht eine absolute Kontraindikation für Metformin. In Bezug auf das Interaktionspotenzial von Metformin wird eine Beeinflussung der renalen Clearance durch Cimetidin beschrieben.<sup>6</sup> Zu beachten ist auch eine mögliche Akkumulation von Metformin bei gleichzeitiger Einnahme von Medikamenten, die die Nierenfunktion verschlechtern könnten, wie nichtsteroidale Antirheumatika, Cyclosporin, Aminoglykoside und Kontrastmittel.<sup>7</sup></p> <p><strong>Acarbose</strong><br /> Acarbose kann die Bioverfügbarkeit von Metformin in einem geringen Ausmass beeinträchtigen.</p> <p><strong>Pioglitazon</strong> <br />Pioglitazon wird zu 99 % an Plasmaproteine gebunden und unterliegt einer komplexen Metabolisierung über den Cytochromabbauweg (CYP2C8 und CYP3A4).<sup>7</sup> Aufgrund dieses gemeinsamen Metabolisierungsweges über das Cytochrom P450 erhöhen Gemfibrozil und Trimethoprim die Pioglitazon-Spiegel. Sulfonylharnstoff und Repaglinid Ein hohes Interaktionspotenzial weisen</p> <p><strong>Sulfonylharnstoffderivate und Repaglinid</strong><br /> auf. Diese Pharmaka werden zu über 90 % an Plasmaprotein gebunden und über den Cytochromabbauweg metabolisiert. Inhibitoren von CYP2C9, wie Fibrate, Allopurinol, Erythromycin, Antimykotika, Cimetidin, führen zu einer Wirkverstärkung und damit zu einem erhöhten Hypoglykämierisiko. Klinische Fallberichte beschreiben vor allem das erhöhte Hypoglykämierisiko bei Kombination von Sulfonylharnstoffderivaten mit Trimethoprim-Sulfamethoxazol.<sup>8</sup> Auch die Kombination von Repaglinid mit Gemfibrozil kann durch Interaktion über den CYP2C8-Metabolisierungsweg zur Wirkverstärkung führen.<sup>9</sup></p> <p><strong>DPP-4-Inhibitoren</strong><br /> DPP-4-Inhibitoren zeigen, mit Ausnahme von Saxagliptin, ein geringes Interaktionspotenzial. Saxagliptin ist ein Substrat von CYP3A4, das Risiko einer Wirkverstärkung ist bei CYP3A4-Inhibitoren (Antimykotika) gegeben, eine Wirkabschwächung ist durch CYP3A4-Induktoren (Rifampicin, Phenytoin, Johanniskraut) möglich.<sup>10</sup></p> <p><strong>GLP-1-Analoga</strong><br /> Bei Therapie mit GLP-1-Analoga ist die verzögerte Magenentleerung im Hinblick auf die Resorption weiterer Medikamente (z. B. Digoxin, Lisinopril, Antibiotika) zu berücksichtigen und ein entsprechendes Dosierungsintervall einzuhalten.<sup>11</sup></p> <p><strong>SGLT2-Inhibitoren</strong><br /> Für SGLT2-Inhibitoren wurden keine relevanten Arzneimittelinteraktionen beschrieben.<sup>12</sup> Bei älteren Patienten ist der milde diuretische und blutdrucksenkende Effekt dieser Medikamentenklasse zu beachten, eine Anpassung der Begleitmedikation kann deshalb erforderlich sein.</p> <p><em>* In der Schweiz gilt: Bei mässig eingeschränkter Nierenfunktion (eGFR 30–59 ml/min/1,73 m2) darf Metformin nur in Abwesenheit von anderen Faktoren, welche das Risiko für eine Laktatazidose erhöhen, sowie in einer Dosierung von maximal 2 x 500 mg verwendet werden. Die Nierenfunktion muss engmaschig kontrolliert werden (eGFR 44–59: alle 3–6 Monate; eGFR 30–44: mindestens alle 3 Monate). Eine eGFR unter 30 ml/min/1,73 m2 stellt eine absolute Kontraindikation dar. (Anm. Red.)<br /><br /></em></p> <p><em><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Innere_1902_Weblinks_lo_innere_1902_s39_tab1_lechleitner.jpg" alt="" width="2151" height="1126" /></em></p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Tamayo T et al.: The prevalence and incidence of diabetes in Germany. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 177-82 <strong>2</strong> Costantino S et al.: Ageing, metabolism and cardiovascular disease. J Physiol 2016; 594: 2061-73 <strong>3</strong> Atella V et al.: Trends in age-related disease burden and healthcare utilization. Aging Cell 2018; 18: e12861 <strong>4</strong> Kadam UT et al.: Conceptualizing multiple drug use in patients with comorbidity and multimorbidity: proposal for standard definitions beyond the term polypharmacy. J Clin Epidemiol 2019; 106: 98-107 <strong>5</strong> Tommelein E et al.: Potentially inappropriate prescribing in communitydwelling older people across Europe: a systematic literature review. Eur J Clin Pharmacol 2015; 71: 1415-27 <strong>6</strong> Stage TB et al.: A comprehensive review of drug-drug interactions with metformin. Clin Pharmacokinet 2015; 54: 811-24 <strong>7</strong> Tornio A et al.: Drug interactions with oral antidiabetics agents: pharmacokinetic mechanisms and clinical implications. Trends in Pharmacological Sciences 2012; 33: 312-22 <strong>8</strong> Rossio R et al.: Persistent and severe hypoglycemia associated with trimethoprim- sulfamethoxazole in a frail diabetic man in polypharmacy: a case report and literature review. Int J Clin Pharmacol Ther 2018; 56: 86-9 <strong>9</strong> Dujic TD et al.: Interaction between variants in the CYP2C9 and POR genes and the risk of sulfonylurea-induced hypoglycaemia: a Go- DARTS study. Diabetes Obes Metab 2018; 20: 211-4 <strong>10</strong> Scheen AJ.: Dipeptidylpeptidase-4 inhibitors (gliptins). Clin Pharmacokinet 2010, 49: 573-88 <strong>11</strong> Hurren KM, Pinelli NR.: Drug-drug interactions with glucagon-like peptide-I receptor agonists. Ann Pharmacother 2012, 46: 710-7 <strong>12</strong> Scheen AJ.: Drug-drug interactions with sodium-glucose cotransporters type 2 (SGLT2) inhibitors, new oral glucose-lowering agents for the management of type 2 diabetes mellitus. Clin Phamacokinet 2014; 53: 295-30 <strong>13</strong> Davies MJ et al.: Management of hyperglycaemia in type 2 diabetes, 2018. A consensus report by the American Diabetes Association (ADA) and the European Association for the Study of Diabetes (EASD). Diabetologia 2018; 61: 2461-98</p>
</div>
</p>
Das könnte Sie auch interessieren:
Wie oft wird Diabetes nicht oder spät erkannt?
Im Allgemeinen wird von einer hohen Dunkelziffer an Personen mit undiagnostiziertem Typ-2-Diabetes ausgegangen. Ein Teil davon sind von Ärzten „übersehene“ Fälle. Eine von der University ...
Neue Studiendaten zu Typ-2-Diabetes und Lebensstil
Dass gesunde Ernährung und Bewegung das Diabetesrisiko sowie verschiedene Risiken von Patienten mit Diabetes senken, ist seit Langem bekannt. Und das Detailwissen zur Bedeutung von ...
Diabetes erhöht das Sturzrisiko deutlich
Eine dänische Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sowohl Patienten mit Typ-1- als auch Patienten mit Typ-2-Diabetes öfter stürzen und häufiger Frakturen erleiden als Menschen aus einer ...