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Physiotherapie bei erektiler Dysfunktion – Ergebnisse aus der aktuellen Literatur
Urologik
Autor:
Barbara Gödl-Purrer, MSc, CIFK
Extern Lehrende FH Joanneum,<br> Studiengang Physiotherapie<br> Eggenberger Allee 13, 8020 Graz<br> E-Mail: barbara@goedl-purrer.at
30
Min. Lesezeit
13.12.2018
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<p class="article-intro">Sexuelle Gesundheit trägt wesentlich zur individuellen Lebensqualität bei. Das sexuelle Erleben und Verhalten zeigt bei Mann und Frau grundsätzlich vier Reaktionsphasen,<sup>1</sup> ist jedoch individuell sehr unterschiedlich. Behandlungsansätze mit dem Ziel der Erhaltung oder Verbesserung der Sexualfunktion erfordern ein einfühlsames und umfassendes Vorgehen. Die erektile Funktion (EF) ist unter anderem von der Ansteuerungsfähigkeit spezifischer Beckenmuskeln sowie von einer positiven Wahrnehmung des Becken- und Genitalbereichs und dessen Integration in das männliche Körperbild abhängig.<sup>2, 3</sup> Physiotherapie kann in diesen Bereichen wirksame Behandlungsansätze anbieten.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die Beckenbodenmuskulatur ist bei der gesunden männlichen Erektionsfunktion spontan aktiv und unterstützt die vaskuläre Stauung sowie die penile Rigidität.</li> <li>Selektives Üben und Training der männlichen Beckenbodenmuskulatur ist möglich. Physiotherapeuten können sich dies bei der Behandlung von ED zunutze machen.</li> <li>Die Ergebnisse der aktuellen Forschung unterstützen den Einsatz von Physiotherapie bei ED.</li> </ul> </div> <h2>Die männliche Sexualfunktion</h2> <p>In den ersten sexuellen Erregungsphasen kommt es zu autonom regulierten vaskulären Reaktionen im männlichen Genitalbereich. Diese bewirken eine vermehrte Blutzufuhr und Stauung in den Schwellkörpern und führen zur Anschwellung des Penis. Bei weiterer sexueller Aktivität steigert sich die penile Rigidität.<sup>4</sup> In dieser Phase sind Muskeln des Beckenbodens, insbesondere die Cavernosusmuskulatur (M. bulbocavernosus [BCM], Mm. Ischiocavernosus [ICM]), aktiviert.<sup>3</sup> Sie tragen zur Steigerung des Drucks in den Schwellkörpern bei und unterstützen die Erektion des Penis. Die Penetration und eine befriedigende sexuelle Aktivität werden so ermöglicht. In der Orgasmusphase kommt es zur Erregungssteigerung bis zum „point of no return“, an dem die Ejakulation zwingend erfolgt. Der Ejakulationszeitpunkt kann vom gesunden, sexuell erfahrenen Mann kontrolliert werden und so situativ der Form und den Bedürfnissen in der sexuellen Betätigung angepasst werden.<sup>2 </sup></p> <h2>Selektive Aktivierung der Beckenbodenmuskulatur und erektile Funktion</h2> <p>Die mehrschichtig aufgebaute Beckenbodenmuskulatur kann willentlich selektiv aktiviert werden (Abb. 1, Tab. 1).<sup>5</sup> Somit ist ein differenziertes Üben und Training der an der erektilen Funktion hauptsächlich beteiligten Muskeln des Cavernosuskomplexes (BCM, ICM) möglich. Bereits 1986 wurde nachgewiesen, dass eine positive Korrelation zwischen der isolierten Kontraktion des ICM und dem intracavernösen Druck (ICP) besteht.<sup>6</sup> Dieselben Autoren konnten in einer observativen Studie bei 108 Männern mit mehr als 6 Monate bestehender erektiler Dysfunktion (ED) durch gezieltes Training des ICM eine signifikante Erhöhung des ICP feststellen. Die Auswirkung auf die subjektive Verbesserung der Sexualfunktion wurde in diesem Zusammenhang nicht erhoben.<sup>7</sup> <br />Dorey et al. führten eine randomisierte kontrollierte Studie bei 55 Männern mit ED durch. Die Interventionsgruppe bekam eine kombinierte Therapie mit Beckenbodenmuskeltraining, Biofeedback, kontrolliertem Üben (BFB) und Lebensstilberatung. Das Muskeltraining wurde in drei Sitzungen erlernt und über Biofeedback und Manometriemessungen evaluiert. Eine exakte Aussage über die in den Übungen fokussierte Muskelgruppe fehlt. Aus der Beschreibung der Interventionen lässt sich ableiten, dass eine globale Aktivierung des M. levator ani (LAM) und über die Instruktion zum aktiven Beenden der Miktion eine spezifische Anspannung des M. sphincter urethrae externus (SUE) und BCM erfolgte. Die Übungen wurden über den Tag verteilt und in alltagstypische Situationen eingebaut. Im Ergebnis konnte im Vergleich zur Kontrollgruppe, die ausschließlich Lebensstilberatung bekam, in der Interventionsgruppe nach 3 Monaten eine signifikant höhere Verbesserung der EF gemessen am International Index of Erectile Dysfunction (IIEF) erreicht werden (p=0,004). Dieses Ergebnis zeigte sich auch für die Kontrollgruppe, die nach 3 Monaten ebenfalls über 12 Wochen das Training durchführte. Insgesamt wurde die ED nach 6 Monaten bei 40 % der Männer normalisiert, 34,5 % der Teilnehmer verbesserten die EF und bei 25,5 % trat kein Effekt ein.<sup>8</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Urologik_Uro_1804_Weblinks_s17_abb1.jpg" alt="" width="1053" height="867" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Urologik_Uro_1804_Weblinks_s17_tab1.jpg" alt="" width="1417" height="1033" /></p> <h2>Beckenbodentraining bei ED nach Prostataoperationen</h2> <p>Die ED sowie die Harninkontinenz (UI) sind häufige Komplikationen nach radikaler Prostatektomie (RPE). Aus ärztlicher Sicht wird eine medikamentöse Therapie (PDE5i) eingesetzt und durch den Einsatz von Vakuumpumpen ergänzt. Bei intraoperativer Schonung des neurovaskulären Bündels im Rahmen der RPE wird in der Zeit der Regeneration der neuralen Strukturen die Therapie darauf ausgerichtet, eine ausreichende Oxygenierung des Schwellkörpergewebes und das Erhaltenbleiben der Elastizität der penilen Gefäße zu gewährleisten. Auch bei ungünstiger Prognose zur Rückgewinnung der penilen Erektionsfähigkeit wird über diese Maßnahmen die Gewebefunktion im Penisbereich bewahrt und der Dystrophie des Penis sowie dem Verlust an Elastizität der Harnröhre in die Elongation vorgebeugt.<sup>9</sup> Physiotherapeutische Behandlungsansätze beinhalten selektives Beckenbodenmuskeltraining, Wahrnehmungs- und Sensibilitätstraining. Bezogen auf die ED werden Maßnahmen zur Erhaltung der Schwellkörperfunktion angeleitet. <br />Prota et al. untersuchten die Wirkung von supervidiertem postoperativem Beckenmuskeltraining und einem strukturierten Heimprogramm als ausschließliche Therapieanwendungen über drei Monate auf die Rehabilitation der ED und der UI bis zu 12 Monate post RPE. Die Trainingssets beinhalteten schnelle und gehaltene Kontraktionen, verbunden mit verlängerten Ausatemmanövern. Es werden keine klaren Aussagen über die Zielmuskulatur des Trainings gegeben, jedoch impliziert die Arbeit mit analer Sonde, dass das Training sich auf die Levator-ani- Muskulatur (LAM) konzentriert. Eine Kontrollgruppe wurde ausschließlich mit einem schriftlichen Anleitungsbogen versorgt. Die Ergebnisevaluierung über den IIEF-5-Score zeigt eine ausreichende Verbesserung der EF nach 12 Monaten bei 47 % der Probanden in der Interventionsgruppe und bei 12,5 % in der Kontrollgruppe (p=0,032).<sup>10</sup><br /> Geraerts et al. führten eine randomisierte, kontrollierte Studie bei Männern mit persistierender ED 12 Monate nach RPE durch. Auch diese Studie bestätigte, dass ein über 12 Wochen durchgeführtes selektives Beckenbodentraining zu einem signifikant höheren Anstieg der EF gemessen über den IIEF-Score führt (p=0,025). Der Effekt blieb auch über einen therapiefreien Kontrollzeitraum von bis zu 6 Monaten erhalten. Die Autoren konnten zudem eine signifikante Verbesserung der Climacturia bei den behandelten Probanden nachweisen.<sup>11</sup> <br />In einer Studie von Laurienzo et al. wurden Männer ein Monat nach RPE in drei Gruppen randomisiert zugeordnet. Die zwei Interventionsgruppen führten allgemeine Gymnastik für die Hüft- und Beckenmuskeln oder Gymnastik gekoppelt mit Elektrotherapie mit analer Sonde durch. Die Kontrollgruppe erhielt das allgemeine Nachsorgeschema nach RPE. Die Forschergruppe konnte keine signifikanten Unterschiede in der Rehabilitation der EF nach 1,3 und 6 Monaten feststellen.<sup>12 </sup></p> <h2>Zusammenfassung</h2> <p>Es gibt gute Hinweise, dass Physiotherapie bei ED zur Verbesserung der Erektionsfunktion allgemein und spezifisch nach RPE wirksam eingesetzt werden kann. Aus den hier vorgestellten Studien kann geschlossen werden, dass spezifische Programme zur selektiven Ansteuerung der Beckenbodenmuskulatur, vor allem der Cavernosusmuskulatur, eher wirksam sind als allgemeine Hüft- und Beckenmuskel-kräftigende Programme. Die in den Studien verwendeten Trainingsprotokolle für die spezifische pelvine Muskulatur sind bezogen auf die aktivierte Zielmuskulatur sowie die Intensität, Dauer und Durchführung der Übungen uneinheitlich. Dies macht es nicht möglich, eine Aussage über die beste Therapiemethode zu machen. Über die Auswirkung von Sensibilitätsund Wahrnehmungsübungen gibt es keine Untersuchungen. <br />Es wäre wichtig, für weitere Studien die physiotherapeutischen Maßnahmen zu standardisieren und die Wirkeffekte in Patientensubgruppen zu untersuchen, um so die spezifischen Einsatzstärken für physiotherapeutische Maßnahmen zu erforschen. Aktuell kann aus der zusammengefassten Literatur die Durchführung von selektivem Training der Beckenbodenmuskulatur mit Fokus auf die Cavernosusmuskulatur bei ED empfohlen werden. Die Wirksamkeit von erweiterten Maßnahmen wie Wahrnehmungsschulung und Sensibilitätstraining u.v.m. ist bis dato noch unerforscht.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Masters WH et al.: Die sexuelle Reaktion. Reinbek: Rowohlt, 1980 <strong>2</strong> Gehrig P, Bischof K (Hrsg.): Leitfaden Sexualberatung für die ärztliche Praxis. Zürich: Pfizer AG, 2010 <strong>3</strong> Chambers SK et al.: Erectile dysfunction, masculinity, and psychosocial outcomes: a review of the experiences of men after prostate cancer treatment. Transl Androl Urol 2017; 6(1): 60-6 <strong>4</strong> Giuliano F, Rampin O: Neural control of erection. Physiol Behav 2004; 83(2): 189-201 <strong>5</strong> Stafford RE et al.: Pattern of activation of pelvic floor muscles in men differs with verbal instructions. Neurourol Urodyn 2016; 35(4): 457-63 <strong>6</strong> Lavoisier P et al.: Correlation between intracavernous pressure and contraction of the ischiocavernosus muscle in man. J Urol 1986; 136(4): 936-9 <strong>7</strong> Lavoisier P et al.: Pelvic-floor muscle rehabilitation in erectile dysfunction and premature ejaculation. Phys Ther 2014; 94(12): 1731-43 <strong>8</strong> Dorey G et al.: Randomised controlled trial of pelvic floor muscle exercises and manometric biofeedback for erectile dysfunction. Br J Gen Pract 2004; 54(508): 819-25 <strong>9</strong> Hatzimouratidis K et al.: Guidelines on male sexual dysfunction: erectile dysfunction and premature ejaculation. Eur Urol 2016 <strong>10</strong> Prota C et al.: Early postoperative pelvic-floor biofeedback improves erectile function in men undergoing radical prostatectomy: a prospective, randomized, controlled trial. Int J Impot Res 2012; 24: 174-8 <strong>11</strong> Geraerts I et al.: Pelvic floor muscle training for erectile dysfunction and climacturia 1 year after nerve sparing radical prostatectomy: a randomized controlled trial. Int J Impot Res 2016; 28(1): 9-13 <strong>12</strong> Laurienzo CE et al.: Pelvic floor muscle training and electrical stimulation as rehabilitation after radical prostatectomy: a randomized controlled trial. J Phys Ther Sci 2018; 30(6): 825-31</p>
</div>
</p>
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