
Ataxien – Diagnose und Differenzialdiagnose
Autor:innen:
Dr. Elisabetta Indelicato, PhD
Dr. Matthias Amprosi
Daniel Bösch, BA
Priv.-Doz. Dr. Sylvia Bösch, MSc
Zentrum für seltene Bewegungsstörungen Innsbruck, Univ.-Klinik für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck; Mitglied des Europäischen Netzwerkes für Seltene Erkrankungen (ERN-RND)
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Der Begriff Ataxie leitet sich vom altgriechischen Wort áταξία („Unordnung“) ab und bezeichnet eine Störung der Bewegungskoordination. Neurodegenerative Erkrankungen, die sich klinisch mit einer Ataxie manifestieren, sind in den allermeisten Fällen genetisch bedingt und erfordern eine spezielle Diagnostik.
Das prädominante Symptom einer Ataxie ist die Gleichgewichtsstörung. Diese manifestiert sich in frühen Stadien als Unsicherheit bei der Durchführung bestimmter Aufgaben, wie beispielsweise beim Fahrradfahren oder beim Gehen auf unebenem Gelände, und führt im weiteren Verlauf meist zu einer einschränkenden Gangunsicherheit mit einem breitbasigen Gangbild und erhöhter Sturzneigung. Die Koordinationsstörung kann sich auf die Motorik der Extremitäten auswirken und zu einer Vergröberung der Feinmotorik sowie einer „Dysmetrie” in den Zeigeversuchen führen. Patienten können zudem einen Nystagmus oder eine Sprechstörung, welche sich in einer verwaschenen oder skandierenden Sprache äußert, aufweisen.
Wichtige Strukturen bei der Entstehung einer Ataxie sind das Kleinhirn, die sensiblen Bahnen und das vestibuläre System. Bei einer „sensiblen“ Ataxie, die durch eine Störung der Hinterstränge, Spinalwurzelganglien oder peripheren sensiblen Nerven verursacht wird, imponiert vorwiegend eine Gleichgewichtsstörung, die unter Aufhebung der visuellen Kontrolle, beispielsweise im Dunkeln oder beim Romberg-Test, zunimmt. Sprechstörungen und Störungen der Okulomotorik sind in der Regel nicht vorhanden, jedoch können andere Symptome wie sockenförmige Hypästhesien oder erloschene Muskeleigenreflexe auftreten. Eine sogenannte „vestibuläre Ataxie“ manifestiert sich hauptsächlich durch lageabhängigen Schwindel sowie durch ausgeprägte Störungen der Okulomotorik, die zu Oszillopsien führen können.
Zerebrovaskuläre sowie entzündliche Erkrankungen, ZNS-Infekte und Vitaminmängel können, wenn sie zu einer Läsion an den oben genannten Strukturen führen, eine Ataxie zur Folge haben.1 Die zeitliche Dynamik und die begleitenden Erscheinungen ermöglichen in der Regel eine schnelle ätiologische Zuordnung sogenannter „sekundärer“ Ursachen einer Ataxie. Neben einer sorgfältigen Anamnese und einer neurologischen Untersuchung können bei der ätiologischen Zuordnung einer Ataxie außerdem einige Zusatzuntersuchungen hilfreich sein. Eine MRT-Bildgebung des Schädels kann beispielsweise klassische Läsionen sowie Plaques im Rahmen einer multiplen Sklerose oder eine subkortikale arteriosklerotische Leukoenzephalopathie ausschließen. Mängel an Vitamin B1, B6, B12 und Folsäure können durch eine Laboruntersuchung erfasst werden. Die Diagnose chronischer infektiöser Prozesse wie einer Borreliose oder seltener autoimmuner/paraneoplastischer Enzephalitiden kann durch die Routineuntersuchung des Liquors und zusätzliche serologische Tests ermöglicht werden.
Nach Ausschluss sekundärer, potenziell behandelbarer Ursachen und bei Vorliegen einer suggestiven Anamnese (schleichender Beginn, progredienter Verlauf, positive Familienanamnese an sich nicht obligat) kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei dem vorliegenden Krankheitsbild um eine neurodegenerative Erkrankung handelt. Die weitere Differenzialdiagnostik gestaltet sich hierbei komplex. In dieser Arbeit wird speziell auf Ataxien eingegangen, die im Erwachsenenalter auftreten. Sollte der Verdacht auf eine neurodegenerative Ataxie gestellt worden sein, ist es wichtig, eine Multisystematrophie vom zerebellären Typ (MSA-C) auszuschließen und im Anschluss gezielt nach genetischen Ursachen zu suchen. Es obliegt daher den Neurologen, die Patienten optimal klinisch zu charakterisieren (auch Phänotypisierung genannt, aus dem Englischen: „deep phenotyping“). Zu diesem Zweck werden bildgebende Verfahren, elektrophysiologische Untersuchungen, Laboranalysen sowie Zusatzuntersuchungen herangezogen. Die nachfolgende Einteilung in drei Kategorien anhand des Erkrankungsbeginns und der Familienanamnese kann bei der Auswahl weiterer diagnostischer Tests hilfreich sein.
Kategorie 1: Erkrankungsbeginn <40 Jahren und Hinweise auf eine autosomal rezessive Erkrankung
Im typischen Fall handelt es sich um junge Erwachsene mit gesunden Eltern und es ist davon auszugehen, dass eine genetische Ursache vorliegt. Aus epidemiologischer Sicht muss in erster Linie eine Friedreich-Ataxie (FRDA) ausgeschlossen werden.2 Hierfür wird ein spezifischer PCR-basierter genetischer Test durchgeführt. Ist die FRDA ausgeschlossen, wird in der Regel eine „next-generation sequencing“(NGS)-basierte Testung, entweder in Form eines Panels oder der Sequenzierung des ganzen Exoms, durchgeführt. Diese Testungen ermöglichen die gleichzeitige Untersuchung einer Vielzahl an Genen. Dabei werden häufig sogenannte Varianten unklarer Signifikanz (VUS) identifiziert In diesem Fall ist es von entscheidender Bedeutung, den Genotyp durch eine genaue klinische Charakterisierung mit dem Phänotyp abzugleichen, um die Bedeutung der VUS im klinischen Kontext zu ermitteln.
Kategorie 2: Erkrankungsbeginn <40 und Hinweise auf eine autosomal dominante Erkrankung
In dieser Kategorie stellen die sogenannten spinozerebellären Ataxien (SCA) die häufigsten Erkrankungen dar.3 Den häufigsten Formen (SCA1, 2, 3, 6, 7 und 17) liegt eine Wiederholung eines CAG-Repeats zugrunde, welcher für die Aminosäure Glutamin codiert (daher auch der Begriff Polyglutaminerkrankungen). Charakteristisch bei Polyglutaminerkrankungen ist das Phänomen der Antizipation. Durch Zunahme der CAG-Repeats im Rahmen der Keimzellentstehung kommt es zu einem früheren Erkrankungsbeginn und schwereren Symptomen bei aufeinanderfolgenden Generationen. Die SCA manifestieren sich in der Regel mit einer progredienten Dysfunktion und Atrophie nicht nur des Kleinhirns, sondern auch des Hirnstamms. Klinisch zeigen sich neben der Ataxie auch positive Pyramidenbahnzeichen sowie eine ausgeprägte Dysarthrie und Dysphagie. Zudem ist im Krankheitsverlauf oft eine progrediente kognitive Beeinträchtigung zu beobachten.
Kategorie 3: Erkrankungsbeginn >40 und negative bzw. unklare/nicht informative Familienanamnese
Die Erhebung einer informativen Familienanamnese, insbesondere hinsichtlich des Vorhandenseins eines ähnlichen Krankheitsbildes bei den Eltern, erweist sich bei älteren Patienten erfahrungsgemäß meist schwierig. In allen Fällen einer Ataxie, die keine eindeutige positive Familienanamnese aufweisen, wird der Ausschluss einer MSA-C obligat.4 Die MSA-C ist eine Alpha-Synucleinopathie und gehört zu den atypischen Parkinsonsyndromen. Charakteristisch ist neben einem progredienten zerebellären Syndrom auch das Vorliegen eines Parkinsonsyndroms (Bradykinese, Rigor) sowie einer autonomen Dysfunktion im Sinne einer neurogenen orthostatischen Hypotonie und/oder von Blasentleerungsstörungen. Autonome Symptome können jedoch im Frühstadium der Erkrankung fehlen.5 Nach Ausschluss einer MSA-C gilt es aus epidemiologischer Sicht, die oben bereits genannten häufigeren Ataxieformen auszuschließen. Bei negativer Familienanamnese ist bei rezessivem Erbgang auch eine spät beginnende Friedreich-Ataxie möglich.2 Auch SCA mit niedrigen Repeatzahlen, und somit späterem Erkrankungsbeginn, könnten für den ersten manifesten Fall einer Familie ursächlich sein.
Außerdem wurden in den vergangenen fünf Jahren zwei Krankheitsbilder genetisch zugeordnet, die für einen großen Teil der bis dato ungeklärten spät beginnenden Ataxie-Fälle verantwortlich sind. Ein Syndrom ist unter dem Namen CANVAS (aus dem Englischen: „cerebellar ataxia, neuropathy and vestibular areflexia syndrome“) bekannt.6 Patienten mit dem Vollbild eines CANVAS weisen klinisch eine Mitbeteiligung aller drei der oben genannten für eine Ataxie relevanten Strukturen auf. Eine rein sensible Neuropathie ist ein klassisches Merkmal. Ursächlich für das Syndrom sind homozygote Expansionen eines Pentanukleotids im Gen RFC1.6 Das zweite Krankheitsbild ist die FGF14-Ataxie/spinozerebelläre Ataxie 27B.7 Hier liegt eine heterozygote GAA-Trinukleotid-Expansion im Gen FGF14 zugrunde.7 Typisch für diese Erkrankung sind das Vorhandensein eines Downbeat-Nystagmus, episodisch auftretende Verschlechterungen des Gleichgewichts und eine chronisch langsam progrediente Gangataxie.8 In beiden Fällen ist eine spezifische Testung auf die jeweiligen Expansionen mittels PCR-basierter Tests oder neuester moderner „Long read“-Methoden erforderlich. Die Vererbung von CANVAS erfolgt autosomal rezessiv, während die FGF14-Ataxie autosomal dominant vererbt wird. Dennoch kann die Familienanamnese bei älteren Patienten aufgrund der oben angeführten Gründe negativ oder nicht informativ sein, weshalb ggf. eine Untersuchung auf diese beiden Krankheiten stets in Betracht gezogen werden sollte.
Die Differenzialdiagnostik der neurodegenerativen Ataxien ist insgesamt komplex. Über die vielfältige molekulargenetische Landschaft hinaus können auch atypische Präsentationen die klinische Zuordnung und somit die Auswahl der genetischen Diagnostik erschweren. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die FRDA. Dabei steht in erster Linie eine progrediente, vorwiegend sensible Ataxie im Vordergrund. In der typischen Verlaufsform beginnt diese in der Adoleszenz und präsentiert sich klinisch neben der sensiblen Ataxie zusätzlich mit erloschenen Muskeleigenreflexen und typischen nichtneurologischen Manifestationen (Kardiomyopathie, Pes cavus, Skoliose). Je nach Repeatlänge kann die Erkrankung auch im Erwachsenenalter ausbrechen. In den spät beginnenden Fällen können die Muskeleigenreflexe erhalten sein und das klinische Bild kann sogar durch eine Spastizität mit Hyperreflexie geprägt sein.9 Nichtneurologische Manifestationen sind in spät beginnenden Fällen selten. Seit Kurzem ist ab dem Alter von 16 Jahren eine medikamentöse Therapie für diese Erkrankung zugelassen.10 Umso bedeutsamer erscheint es daher, diese häufige Form der Ataxie auszuschließen.
Aufgrund der regelmäßigen Beschreibung von neuen ursächlichen genetischen Varianten, welche uns z.T. auch vor Herausforderungen in der Analytik stellen, wird die Differenzialdiagnostik der Ataxieerkrankungen zunehmend komplexer. Daher ist es nach dem Ausschluss von häufigen bzw. erworbenen Ursachen einer Ataxie empfehlenswert, die Patienten an ein spezialisiertes Zentrum zuzuweisen. Dort können diese auch in internationale Patientenregister und möglicherweise sogar in klinische Studien eingeschlossen werden.
Quelle:
Dieser Bericht basiert auf einem Vortrag der Autoren bei der ÖGN-Jahrestagung 2024.
Literatur:
1 Nachbauer W et al.: Acquired ataxias: the clinical spectrum, diagnosis and management. J Neurol 2015; 262(5): 1385-93 2 Indelicato E et al.: Onset features and time to diagnosis in Friedreich’s Ataxia. Orphanet J Rare Dis 2020; 15(1): 198 3 Durr A: Autosomal dominant cerebellar ataxias: polyglutamine expansions and beyond. Lancet Neurol 2010; 9(9): 885-94 4 Giordano I et al.: Clinical and genetic characteristics of sporadic adult-onset degenerative ataxia. Neurology 2017; 89(10): 1043-9 5 Indelicato E et al.: Cardiovascular autonomic testing in the work-up of cerebellar ataxia: insight from an observational single center study. J Neurol 2020; 267(4): 1097-102 6 Cortese A et al.: Biallelic expansion of an intronic repeat in RFC1 is a common cause of late-onset ataxia. Nat Genet 2019; 51(4): 649-58 7 Pellerin D et al.: Deep Intronic FGF14 GAA Repeat Expansion in Late-Onset Cerebellar Ataxia. N Engl J Med 2023; 388(2): 128-41 8 Ashton C et al.: Spinocerebellar ataxia 27B: episodic symptoms and acetazolamide response in 34 patients. Brain Commun 2023; 5(5): fcad239 9 Parkinson MH et al.: Clinical features of Friedreich‘s ataxia: classical and atypical phenotypes. J Neurochem 2013; 126(Suppl 1): 103-17 10 Boesch S, Indelicato E: Approval of omaveloxolone for Friedreich ataxia. Nat Rev Neurol 2024; doi: 10.1038/s41582-024-00957-9. Online ahead of print
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