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Der kindliche Schmerz
DAM
Autor:
Dr. Anita Mang, MRCPCH
Ärztin für Allgemeinmedizin<br> Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde<br> Web: www.drmang.at
30
Min. Lesezeit
19.04.2018
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<p class="article-intro">Wenn Kinder Schmerzen äußern, dann haben sie auch Beschwerden in somatischer oder somatoformer Weise und sollen in jedem Fall ernst genommen werden.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Je kleiner das Kind, umso unspezifischer wird der Schmerz in der Regel geäußert. Dies bedeutet aber selbstverständlich nicht „weniger Schmerz“. Hier ist ein gemeinsames Einschätzen der Situation durch Kind, Eltern und Arzt mit allen Sinnen gefragt. Eine gezielte individuelle Behandlung von Schmerzen kann auch beim Kind nur sinnvoll nach einer Klassifizierung des Schmerzes durch genaue Anamnese und nach sorgsamer klinischer Untersuchung erfolgen. Damit kann nicht nur die Schmerztherapie optimiert bzw. minimiert werden, sondern es können auch die unerwünschten Nebenwirkungen reduziert und die Compliance erhöht werden. Besonders wichtig erscheinen mir die rechtzeitige und ausreichende Schmerzvermeidung („do no harm“) und die Beseitigung der Schmerzursache (akuter Schmerz ist primär keine Erkrankung, sondern ein Warnsignal)!</p> <h2>Schmerzprävention</h2> <p>Im Umgang mit Kindern haben das Gewinnen von Vertrauen durch kindgerechtes Handeln und damit das Nehmen von Angst höchste Priorität – alleine dadurch werden oft Schmerzmittel überflüssig (Sicherheit geben, Zuwendung, Ehrlichkeit, Wohlfühlklima schaffen). Genauso wichtig ist es, „im Guten auseinanderzugehen“ – kleine Belohnungen können gelegentlich mitgegeben werden –, oft sind aber Lob und Anerkennung der Tapferkeit bereits genug Belohnung, Süßigkeiten werden von meiner Seite nicht empfohlen. Sind schmerzhafte Eingriffe nötig, empfiehlt sich eine rasche Abwicklung durch eine gute Vorbereitung (idealerweise außerhalb der Sichtweite des kleinen Patienten). Besonders für regelmäßige Eingriffe empfehle ich, präventiv Lokalanästhetika bzw. Zucker großzügig anzuwenden (Abb. 1).<br /><br /> <strong>„Zucker“ zur Schmerzprävention</strong> Bei Frühgeborenen, Neugeborenen und Säuglingen bis zum 6. Lebensmonat kann Glukose 33 % (25–70 % ) per os gemeinsam mit dem Schnuller verabreicht werden (oder einfach stillen); Dosierung: ca. 0,25ml/kg KG bis zu 6x tgl. p.o.; Zubereitung: 4g Glukose (entspricht standardisiertem Zuckerbriefchen) in 10ml Leitungswasser.<br /><br /> <strong>Lokalanästhetika</strong></p> <ul> <li>Xylocain Gel (ab Neugeborenenalter, >37. SSW): zur Anwendung auf der Haut bzw. Schleimhaut; 1g Gel (ca. 1ml) enthält 20mg Lidocain-Hydrochlorid; Indikation: zur Schleimhautanästhesie und als Gleitmittel für die männliche und weibliche Harnröhre zum Einführen eines Katheters; Dosierung: 6mg Lidocain (=0,3ml Gel)/kg KG (maximal 1ml alle 6h); Wirkungseintritt nach 5min, Wirkdauer 20–30 Minuten</li> <li>EMLA Creme (ab Neugeborenenalter, >37. SSW): zur Anwendung auf der Haut; 1g Creme enthält 25mg Lidocain und 25mg Prilocain; Indikation: Oberflächenanästhesie der Haut (Nadelstiche, chirurgische Eingriffe an der Haut, genitale Schleimhaut, vor Wundreinigung bei chronischen Wunden etc.); Dosierung: 1–2g Creme/Anwendung (= ca. 1–2ml); Wirkungseintritt nach 30–60min Einwirkzeit, Wirkdauer bis zu 6 Stunden (maximale Analgesie nach 30–60min)</li> <li>Xylocain Pump-Spray (Kinder ab 3 Jahren): zur Anwendung auf der Haut bzw. Schleimhaut; 10mg Lidocain/Sprühstoß; Dosierung: 3mg/kg KG; Indikation: zur Schmerzverhütung bei Reinigung von Schürfwunden, zur Oberflächenanästhesie bei lokal begrenzten Verbrennungen; Wirkungseintritt nach 1–3min, Wirkdauer 10–15min</li> <li>Hinweis: Lokalanästhetika sind wegen Vasokonstriktion bei Finger- oder Fersenstich nicht sinnvoll; Achtung bei atopischer Dermatitis, chronischer Nierenkrankheit (CKD), Herzerkrankungen, genitaler Anwendung (Dosisreduktion erforderlich).</li> </ul> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_DAM_Allgemeinm_1803_Weblinks_s32_abb1.jpg" alt="" width="945" height="702" /></p> <h2>Einschätzung der Schmerzintensität</h2> <p>Zur Einschätzung der Schmerzintensität ist das Einsetzen der ärztlichen Erfahrung mit allen fünf Sinnen gefragt – ein einzelner Messparameter ist wenig hilfreich. In der Pädiatrie kommt der genauen Beobachtung (KUSS-Skala, Tab. 1) ein hoher Stellenwert zu, aber auch dem genauen Hinhören bei Kindern und Eltern! Zur Verlaufsbeobachtung, insbesondere wenn Ihr Patient auch von anderen Berufsgruppen mitbetreut wird, ist eine Skala als Hilfsmittel je nach Entwicklungsstand sinnvoll: <4 Jahre: KUSS-Skala; 4–7 Jahre: Smiley-Skala (Abb. 2); >7 Jahre: numerische Ratingskala (NRS, Abb. 3a), visuelle Analogskala (VAS, Abb. 3b), verbale Ratingskala (VRS, Abb. 3c).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_DAM_Allgemeinm_1803_Weblinks_s32_tab1.jpg" alt="" width="945" height="1325" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_DAM_Allgemeinm_1803_Weblinks_s32_abb2.jpg" alt="" width="1417" height="357" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_DAM_Allgemeinm_1803_Weblinks_s32_abb3.jpg" alt="" width="1417" height="757" /></p> <h2>Schmerzklassifizierung</h2> <p>Schmerz wird in der Regel nach Dauer (akut, chronisch), Lokalisation (somatisch, viszeral) und Qualität (nozizeptiv, neuropathisch) eingeschätzt, diese Klassifizierung ist für eine optimale Behandlung unumgänglich.</p> <h2>Schmerztherapie</h2> <p>Nicht immer reichen Zuwendung oder Schmerzprävention aus. Gute Erfolge können mit der traditionellen europäischen Medizin (TEM), physikalischen Therapien, psychologischen Therapien, der traditionellen chinesischen Medizin (TCM), Koanalgetika, dem Einsatz von Lasertherapie u.v.m. erreicht werden. In einigen Fällen ist aber eine medikamentöse Schmerztherapie im klassischen Sinn unumgänglich.<br /><br /> <strong>Wann?</strong><br /> Eine medikamentöse Schmerztherapie ist nach klinischer Erfahrung indiziert bei zu erwartendem Schmerz zur Schmerzvermeidung sowie bei einem Schmerzscore =4 (KUSS-, Smiley-Skala, NRS/VAS/VRS).<br /><br /> <strong>Wie?</strong><br /> Zusätzlicher Schmerz sollte vermieden werden, deshalb sind nach Möglichkeit nicht invasive Darreichungsformen zu wählen. Die Dosis ist an das Körpergewicht anzupassen und die Gabe erfolgt nach Zeitplan entsprechend der Wirkdauer, wobei die Tagesrhythmik des Schmerzes zu beachten ist. Bei akuten Schmerzen, Durchbruchschmerzen, zur Dosisfindung und als Bedarfsmedikation sollten nicht retardierte Darreichungsformen gewählt werden. Als Basis der Behandlung bei chronischen Schmerzen soll jedoch eine retardierte Zubereitung Verwendung finden. Bei starken Schmerzen oder zu erwartender rascher Schmerzprogression ist die WHO-Stufe II zu überspringen (hat beim Kind kaum Stellenwert). Die Schmerztherapie sollte individuell bis zum Erreichen einer adäquaten Schmerzlinderung fortgesetzt werden. Der gleichzeitige Einsatz von Nichtopioiden und Opioiden ist sinnvoll. Häufige Nebenwirkungen sind prophylaktisch zu behandeln. Die Art der Therapie sollte abhängig vom Kind (Wunsch), dem Alter, der Schmerzart, der Schmerzstärke und -lokalisation gewählt werden. Entsprechend dem Schmerztyp ist auf allen Stufen der Einsatz eines Koanalgetikums zu überprüfen (siehe Literaturhinweise).<br /><br /> <strong>Wie viel? Womit?</strong> Passende Therapieempfehlungen sind hier zu finden:</p> <ul> <li>Schmerztherapie im Kindes- & Jugendalter, Richtlinien der AG für Pädiatrische Palliativmedizin, Österreich, 2013 (Neuauflage 2018 in Arbeit)</li> <li>Zernikow B et al.: Schmerztherapie bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. 5. Auflage, 2015</li> <li>British National Formulary (BNF) for Children 2018 (jährlich neu)</li> <li>WHO guidelines on the pharmacological treatment of persisting pain in children with medical illnesses 2012</li> <li>The Association of Paediatric Palliative Medicine Master Formulary 4th edition 2017</li> <li>www.intranasal.net</li> <li>Uhlemayr U: Wickel & Co. Bärenstarke Hausmittel für Kinder. 16. Auflage. Oy- Mittelberg: Urs-Verlag, 2013</li> </ul> <p>Insgesamt stellt die Schmerztherapie bei Kindern eine besondere Herausforderung dar, da die emotionale Komponente hier eine bedeutende Rolle spielt und die Interpretation der Symptome besonderes Fingerspitzengefühl erfordert. Hier kommt der empathischen Kompetenz des Arztes ungeheure Bedeutung zu im Sinne von Entspannung der Gesamtsituation durch Schaffung von Vertrauen. Das verstehe ich persönlich unter anderem unter „ärztlicher Kunst“, die man wohl nicht so schnell „einfach googeln“ kann.</p></p>
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