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Moderne Schmerztherapie
DAM
Autor:
Priv.-Doz. Dr. Christopher Gonano, MBA, MSc, MLS
Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin<br> Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger, Wien<br> E-Mail: c.gonano@schmerzordination.at
30
Min. Lesezeit
30.05.2018
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<p class="article-intro">Jeder vierte Österreicher hat chronische oder rezidivierende Schmerzen, jeder zehnte leidet unter der Schmerzkrankheit als Zeichen der Chronifi zierung erlittener Schmerzen. Das Angebot an öff entlichen Schmerzambulanzen wird jedoch laufend reduziert. Niemand kennt die Situation besser als die Allgemeinmediziner, deren Ordinationen von Schmerzpatienten überquellen. Oft müssen sie binnen weniger Minuten ungefährliche von gefährlichen Schmerzen unterscheiden und die richtige Diagnostik und Therapie einleiten.</p>
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<p class="article-content"><p>Medizinisches Wissen hat aktuell eine Halbwertszeit von vier Jahren, und so verwundert es nicht, dass sich auch die Schmerztherapie laufend weiterentwickelt. Moderne Schmerztherapie hat sich aus dem klinischen Überlappungsgebiet zwischen Neurologen, Orthopäden, Anästhesisten, Internisten und physikalischen Medizinern mit Einflüssen von Neurophysiologen und Psychologen zu einem hochkomplexen, selbstständigen Fachbereich entwickelt.</p> <h2>Rückenschmerzen</h2> <p>In Österreich leiden circa 40 % der Bevölkerung an „Kreuzweh“. Die häufigste Art ist der unspezifische Rückenschmerz, bei dem entsprechend den Leitlinien keine weitere Diagnostik vonnöten ist und dessen Symptomatik in der Regel bei begleitender Schmerztherapie und aktivierender Physiotherapie nach wenigen Wochen verschwindet. Im medizinischen Alltag helfen „red flags“ und „yellow flags“, nichts Wichtiges zu übersehen (Tab. 1 und 2).<sup>1</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_DAM_Allgemeinm_1804_Weblinks_dam_1804_s26_tab1+2.jpg" alt="" width="1417" height="2194" /></p> <h2>Kopfschmerzen</h2> <p>Aktuell werden entsprechend der „International Classification of Headache Disorders“ mehr als 350 verschiedene Kopfschmerzarten unterschieden. Circa 90 % der primären Kopfschmerzen sind Spannungskopfschmerzen und Migräne. Gefährliche Kopfschmerzen sind dagegen selten.<br /> Die Differenzialdiagnostik der Kopfschmerzen kommt weitestgehend ohne aufwendige Untersuchungen aus und konzentriert sich hauptsächlich auf eine ausführliche Schmerzanamnese. Zeitkritische Erkrankungen wie Tumoren, Blutungen oder Infektionen sind sehr selten, müssen aber bedacht werden. Aufmerksam sollte man werden, wenn Kopfschmerzen plötzlich, donnerschlagartig oder langsam progredient über Tage bzw. mit Symptomen wie Erbrechen, Infektionen, Trauma, Hypertonie oder neurologischen Auffälligkeiten einhergehend auftreten.</p> <h2>Neuropathische Schmerzen</h2> <p>Aus medizinischer Sicht ein besonders spannendes Feld sind Nervenschmerzen. Neuropathische Schmerzen sind in ihrer Komplexität für das Behandlungsteam am aufwendigsten zu diagnostizieren, muss doch gezielt nicht nur nach Schmerzen (Hyperalgie) oder veränderter Wahrnehmung (Allodynie), sondern auch nach Minusphänomenen (Hypästhesie, vermindertes Kalt-/Warm-Diskriminierungsvermögen, Vibrationsempfindlichkeit) geforscht werden. Die klassische Messung der Nervenleitgeschwindigkeit ist hier nur wenig zielführend, werden doch dabei nicht alle relevanten Nervenfasern erfasst.</p> <h2>Therapie</h2> <p>Erster Schritt einer erfolgreichen Schmerztherapie ist immer eine ausführliche Schmerzanamnese. Dabei ist es wesentlich, nicht nur die richtigen Fragen zu stellen, sondern auch aufmerksam zuzuhören. Bei Folgeterminen ist dezidiert nach der Compliance der Patienten und etwaigen Nebenwirkungen der Schmerztherapie zu fragen.</p> <h2>Medikamentöse therapie</h2> <p>Das WHO-Stufenschema wurde weitestgehend verlassen und so wird aktuell empfohlen, die Schmerzmedikamente entsprechend ihrem Wirkprofil zu verschreiben.<br /> Neben den bekannten nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR), Cox-2-Hemmern, Opioiden bzw. Triptanen in der Migränetherapie haben sich Antidepressiva und Antiepileptika zu wesentlichen Bestandteilen einer effektiven Schmerztherapie entwickelt. Die Behandlung neuropathischer Schmerzen kommt ohne Antiepileptika (Pregabalin, Gabapentin) nur in Ausnahmefällen aus. „Antidepressiva“ (selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer [SSRI], selektive Serotonin-Noradrenalin- Wiederaufnahmehemmer [SNRI], trizyklische Antidepressiva usw.) zeigen neben einer verbesserten Schmerzverarbeitung auch eine direkt schmerzreduzierende Funktion über Normalisierung schmerzrelevanter Botenstoffe.<br /> Die topische Anwendung von Capsaicin (Chili-Pflaster; Qutenza<sup>®</sup>) als Pflaster kann bei lokalen neuropathischen Schmerzen Linderung für Monate bringen. Botulinumtoxin wird heute sowohl in der Therapie spezieller neuropathischer Schmerzen als auch in der Migränetherapie verwendet. Unnötig, darauf hinzuweisen, dass die Kosten der letztgenannten Medikamente nur mit einem zusätzlichen bürokratischen Aufwand von den Krankenkassen übernommen werden.<br /> Wechselwirkungen von Schmerzmedikamenten untereinander oder mit bestehender Begleitmedikation, das in milder Ausprägung nicht selten auftretende serotonerge Syndrom (SSRI plus MAO-Hemmer oder Opioide, Triptane oder trizyklische Antidepressiva) oder Enzyminduktionen (Cytochrom P450 3A4) untermauern die Komplexität einer erfolgreichen Schmerztherapie.</p> <h2>Psychosozialer Aspekt</h2> <p>Schmerz kann auch psychische Gründe haben, und das differenzierte Verständnis des vom Patienten unterschiedlich bewerteten Stellenwertes von Schmerz im Alltag ist essenziell. Als Extrembeispiel: Wer Schmerzen hat, ist nicht nur „ein Klotz und Bremser“ im Familienleben, nein, er bestimmt damit auch das Tempo der Familie und kann so psychischen Druck und damit auch Macht auf seine Umwelt ausüben. Chronische Schmerzen werden von der Umwelt nicht so wahrgenommen wie z.B. ein eingegipstes Bein, das bei vielen Mitmenschen ein interessiertes Nachfragen und Mitleid hervorruft.<br /> Eine verständnisvolle, aber kritische Würdigung auch dieses Aspektes ist für eine umfassende Therapie unumgänglich, eine begleitende psychologische, psychotherapeutische Therapie daher nahezu immer indiziert.</p> <h2>Physikalische/physiotherapeutische Therapie</h2> <p>Auf den Stellenwert von Bewegung sei hierorts nur in aller Kürze hingewiesen, ist er doch zu Recht integraler Bestandteil nahezu jeder Schmerztherapie besonders des Bewegungsapparates.</p> <h2>Zusammenfassung</h2> <p>Schmerztherapie für chronische oder komplexe Schmerzen ist eine Spezialdisziplin, die in die Hände von Experten – gleich welcher Fachdisziplin – gehört. Schmerztherapie scheitert nicht nur an der Kompetenz von uns Ärzten, sondern oft auch an der Compliance unserer Patienten, deren Bereitschaft zur Lebensstiländerung, dem starken Hang zu „Doctor- Shopping“ oder Eigenmedikation, wenn die empfohlenen Medikamente die seit Jahren bestehenden Schmerzen nicht innerhalb eines Tages wie „durch Zauberhand“ verschwinden lassen.<br /> Schmerztherapie ist vielschichtig, sind doch viele, einander häufig beeinflussende Ursachen zu adressieren und zeitintensiv zu therapieren.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Friedrich M et al.: Update der evidenz- und konsensusbasierten österreichischen Leitlinien für das Management akuter und chronischer unspezifischer Kreuzschmerzen 2011. http://www.oegpmr.at/, letzter Zugriff: 19. März 2018 • weitere Literatur beim Verfasser</p>
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