© istockphoto.com/PeopleImages

Betreuung von Menschen in fortgeschrittenen Krankheitssituationen

Palliative Care – mehr als nur Sterbebegleitung

Palliative Care ist einer der jüngsten Fachbereiche der Medizin, obwohl diese Betreuung eigentlich die älteste Behandlungsform darstellt. In früheren Jahrhunderten, als die Heilung einer Krankheit oft nicht möglich war, musste meist eine rein symptomatische Behandlung durchgeführt werden. Daher kommt wohl der Mythos, es handle sich bei der Palliative Care lediglich um Sterbebegleitung. Palliative Care ist aber viel mehr.

In der Definition der WHO zur Palliative Care wird deutlich, dass es um viel mehr geht als Sterbebegleitung.1 Im Mittelpunkt steht der Patient mit einer fortgeschrittenen, nicht heilbaren Erkrankung, aber auch seine Angehörigen gehören dazu. Es geht um eine gute Symptomkontrolle, bei welcher der Fokus jedoch nicht nur auf die Schmerzen, sondern auf sämtliche Beschwerden gelegt werden soll. Dies umfasst fünf Bereiche, nämlich die somatischen, psychischen, sozialen, spirituellen und auch die kulturellen Symptome. Man spricht dann auch von einem bio-psycho-sozio-spirituellen und kulturellen Symptomenkomplex. Somit muss eine moderne, komplexe palliativmedizinische Behandlung sämtliche Aspekte beachten. Wie eine zeitgemässe Palliative Care aussieht, soll anhand dreier Fragen weiter beleuchtet werden.

Palliative Care: wann?

Ein Mythos ist, dass Palliative Care dann zum Zug komme, wenn weiter «nichts mehr zu machen» ist bzw. sämtliche konventionellen Behandlungen abgeschlossen sind und von einem baldigen Versterben des Patienten ausgegangen wird. Gemäss Lynn handelt es sich jedoch nicht um eine sequenzielle Betreuung, sondern um eine parallele Behandlung zur üblichen Betreuung.2 Zu einer modernen Betreuung von Patienten in fortgeschrittenen Krankheitssituationen gehört ein früher Beizug der Palliative Care. Beispielsweise kann ein Patient bereits im Frühstadium einer onkologischen Therapie von einer palliativmedizinischen Behandlung profitieren, wenn es um die Linderung von Atemnot, Schmerzen oder ähnlicher Symptomatik geht. Die Patienten müssen darauf hingewiesen werden, dass eine moderne Patientenbetreuung heutzutage bereits im Frühstadium eine multiprofessionelle Behandlung mit Beteiligung verschiedener Disziplinen braucht.

Palliative Care: wo?

Ein weiteres Vorurteil stellt der Behandlungsort dar, nämlich dass die palliative Betreuung lediglich auf Palliativstationen erfolge. In den meisten Fällen möchten Patienten zu Hause behandelt werden. Eine Betreuung mit einem palliativmedizinischen Fokus stellt die Grundversorgung als den wichtigsten Partner dar. Gemäss der Nationalen Strategie für Palliative Care 2010–2012 wurde die Situation der Palliative Care in der Schweiz beleuchtet.3 Dabei wurde deutlich, dass lediglich ein kleiner Anteil der Patienten eine spezialisierte Palliative Care braucht, der Grossteil hingegen einer Palliative Care in der Grundversorgung bedarf. Die spezialisierte Behandlung kann auf einer Palliativstation oder in einem Hospiz erfolgen. Hier besteht in der Schweiz ein Mangel an Angeboten.

Palliative Care: wie?

Die palliative Betreuung ist eine Behandlung, die nicht eine Heilung des Patienten zum Ziel, sondern einen anderen Fokus hat. Laut Heller kann deshalb gemäss dem Vorurteil, dass Palliative Care eine reine Sterbebegleitung sei, jedoch gesagt werden: «Wenn nichts mehr zu machen ist, gibt es noch viel zu tun».4 Dabei wird deutlich, dass der Fokus nicht auf der Heilung liegt, sondern ein anderer ist. Ein häufig angewendetes praktisches Vorgehen ist eine Behandlung gemäss dem SENS-Modell nach Eychmüller.5

Ziel dieses Modells ist es, sämtlichen Dimensionen des bio-psycho-sozio-spirituellen und kulturellen Bereichs Beachtung zu schenken. Die vier Buchstaben des SENS-Modells entsprechen den Anfangsbuchstaben der vier Behandlungsbereiche: Symptomkontrolle, Entscheidungsfindung, Netzwerkbildung und Support der Angehörigen.

Symptomkontrolle

Der bekannteste Bereich der palliativen Behandlung ist wohl die Symptomkontrolle. Die Beschwerden, die den Patienten belasten, sollen behandelt werden. Dafür müssen diese erkannt und dokumentiert werden. Mithilfe von Scoringsystemen werden die einzelnen Symptome und deren Schweregrad regelmässig erfasst. Ein Hauptaugenmerk liegt sicherlich auf der Schmerzbehandlung, weitere Symptome sind unter anderen die Dyspnoe, die Fatigue, depressive Verstimmungen, Verdauungsstörungen usw. Hier hat die Palliativmedizin einen Schwerpunkt.

Entscheidungsfindung

Es ist bekannt, dass die moderne Medizin in den letzten Jahrzehnten grosse Fortschritte und Entwicklungen durchgemacht hat. Viele Behandlungen sind heutzutage möglich, nicht immer sind sie jedoch im Sinn des Patienten. Es konnte gezeigt werden, dass Patienten die Therapiemöglichkeiten nicht immer maximal ausschöpfen möchten, sondern eine an die Lebenssituation angepasste Behandlung wünschen. Somit muss versucht werden, eine realistische Prognose zu erstellen. Gewiss ist dies eine der schwierigsten Fragen in der Medizin, trotzdem wird die Frage der Prognose tagtäglich gestellt. Deshalb sollen die Wünsche in Bezug auf Behandlungen und Therapien mit dem Patienten besprochen, in Anbetracht der Gesamtsituation evaluiert und im Konsens gewählt und dann angegangen werden.6 In gemeinsamen Gesprächen müssen Optionen aufgezeigt werden, damit der Betroffene den für ihn richtigen Weg wählen kann. Aus diesem Grund stellt die Erstellung von Patientenverfügungen bzw. das Advance Care Planning einen wichtigen Teil der palliativen Behandlung dar.

Netzwerkbildung

Üblicherweise soll eine palliative Behandlung am bevorzugten Ort des Patienten erfolgen, meist ist dies sein Zuhause.7 Damit dies möglich ist, muss jedoch ein gutes Versorgungsnetz vorhanden sein. Sehr häufig wird deutlich, dass es allein mit Freunden, Nachbarn und der Familie nicht realisiert werden kann, obwohl die Patienten dies erwarten. Insbesondere unvorhergesehene Situationen können grosse Belastungsproben darstellen. Aus diesem Grunde muss ein Netzwerk aufgebaut werden, das die Versorgung zu Hause gewährleisten kann. Die Organisation von Rundtisch- bzw. Familiengesprächen hat sich sehr bewährt. Die Nachbetreuung soll zusammen mit den nachbetreuenden Stellen, den Angehörigen und selbstverständlich mit dem Patienten besprochen und Lücken müssen erfasst werden.

Neben den üblichen Behandlungsoptionen wie der ambulanten Pflege (z.B. Spitex) und den Hausärzten kann ein ambulanter palliativmedizinischer Dienst involviert werden, der speziell für komplexe Situationen im häuslichen Umfeld Hilfe anbieten kann. Dieser Dienst hat je nach Kanton unterschiedliche Aufgaben. Im Vordergrund steht sicherlich die Symptomkontrolle, je nach Möglichkeit wird der palliative ambulante Dienst aber auch durch andere Therapeuten wie Physiotherapeuten, Ernährungsberatung, Seelsorge u.a. unterstützt.

Support der Angehörigen

Im Falle einer Erkrankung steht der Patient selbstverständlich meist im Mittelpunkt. Je nach Konstellation kann die Krankheit zu einer Veränderung der Position innerhalb der Familie führen und der Patient kann seine gewohnten Aufgaben innerhalb der Gemeinschaft nicht mehr adäquat wahrnehmen. Die Palliativmedizin will deshalb ein besonderes Augenmerk auf die gesamte Familie legen und sämtliche Betroffenen mitbehandeln und in ihrem Leid unterstützen. Nicht selten wird den Angehörigen zu wenig Beachtung geschenkt. Im klinischen Alltag ist es deshalb eine wichtige Aufgabe, die Angehörigen nicht nur als Behandelnde, sondern als direkt Mitbetroffene anzusehen. Neben der üblichen Frage an den Patienten, wie es ihm geht, soll deshalb diese Frage auch den Angehörigen gestellt werden. Nicht selten kommt es dabei zu einer unerwarteten Reaktion und einem emotionalen Ausbruch.

Fazit

Konklusiv kann somit gesagt werden, dass eine moderne, komplexe Palliative Care mehr als lediglich Sterbebegleitung ist. Sie will den Patienten und seine Angehörigen multiprofessionell betrachten und in der fortgeschrittenen Krankheit eine adäquate Behandlung anbieten. In der heutigen Zeit ist die Palliative Care somit ein wichtiger und unerlässlicher Bestandteil der Patientenbetreuung.

1 Radbruch L et al.: Redefining palliative care – a new consensus-based definition. J Pain Symptom Manage 2020; 60: 754-64 2 Lynn J, Adamson DM: Living well at the end of life. Adapting health care to serious chronic illness in old age. Washington: RAND health, 2003 3 Bundesamt für Gesundheit (BAG): Nationale Strategie Palliative Care 2010–2012. 2009 4 Heller A et al. (Hrsg.): Wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch viel zu tun: Wie alte Menschen würdig sterben können. 2. Aufl. Freiburg: Lambertus, 2007 5 Eychmüller S: SENS macht Sinn – Der Weg zu einer neuen Assessment-Struktur in der Palliative Care. Ther Umsch 2012; 69: 87-90 6 Pautex S et al.: Advance directives and end-of-life decisions in Switzerland: role of patients, relatives and health professionals. BMJ Support Palliat Care 2018; 8: 475-84 7 Rainsford S et al.: Place of death in rural palliative care: a systematic review. Palliat Med 2016; 30: 745-63

Back to top