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Lipödem – (k)eine klare Diagnose
Jatros
Autor:
Dr. Spiro Silvester Schuller
FA für Dermatologie und Venerologie<br> VENEX – Zentrum für HAUT & VENEN,<br> Ästhetische Hautchirurgie, Wien<br> E-Mail: info@venex.at<br> www.venex.at
30
Min. Lesezeit
23.11.2017
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<p class="article-intro">Das Lipödem ist eine oft zitierte, aber vielfach fehldiagnostizierte Erkrankung, die ausschließlich das weibliche Geschlecht betrifft. Die genauen Pathomechanismen sind ungeklärt. Die Vielzahl der für das Krankheitsbild verwendeten Begriffe lässt auf große Unsicherheit in Diagnose und Behandlung schließen.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Stellen Sie die Diagnose!</li> <li>Das Lipödem ist eine vererbte Erkrankung, wobei die betroffenen Gene noch nicht identifiziert sind. Es wird von einer multifaktoriellen Genese ausgegangen, wobei vermutet wird, dass Östrogen und lymphovaskuläre Veränderungen eine entscheidende Rolle im Krankheitsverlauf spielen.</li> <li>Die Erkrankung ist stark unterdiagnostiziert und wird häufig als Adipositas oder Lymphödem fehldiagnostiziert und folglich auch fehltherapiert.</li> <li>Es ist daher äußerst wichtig, dass diese Erkrankung bei Vorliegen auch dezidiert diagnostiziert wird.</li> <li>Die Liposuktion ist eine sehr effektive Behandlungsmethode. Die Komplikationsrate ist gering und die postoperativen Resultate sind sehr gut, wie die hohe Patientenzufriedenheit zeigt, nicht zuletzt durch die ausbleibende Rezidivneigung.</li> </ul> </div> <h2>Was ist ein Lipödem?</h2> <p>Per definitionem handelt es sich um eine chronische progrediente Erkrankung, charakterisiert durch eine Fettgewebsverteilungsstörung mit deutlicher Dysproportion zwischen Stamm und Extremitäten. Die Entstehung erfolgt durch umschriebene, symmetrisch lokalisierte Unterhautfettgewebsvermehrung der unteren und/oder oberen Extremitäten. Bereits Anfang der 1940er-Jahre wurde der Begriff durch Allen und Hines erstmals publiziert. Die propagierten Diagnosekriterien werden bis heute verwendet: ausschließliches Auftreten bei Frauen, beidseitig und symmetrisch, fakultative Ödemneigung, Druck- und/oder Spontanschmerz, Hämatomneigung. Synonym gebräuchliche Begriffe wie Adipositas dolorosa, Lipalgia dolorosa, Lipohyperplasia dolorosa, schmerzhaftes Säulenbein etc. sollten wegen Verwechslungsgefahr mit anderen vererbbaren oder syndromalen Lipodystrophien bzw. Lipomatosen eher vermieden werden.</p> <h2>Klassifikation und Diagnose</h2> <p>Das Lipödem ist eine unterdiagnostizierte Erkrankung! Obwohl bereits durch verschiedene Autoren und Fachgruppen sowohl Diagnosekriterien als auch Einteilungen hinsichtlich Morphologie und Verlauf publiziert worden sind, gibt es für eine sichere Diagnose keinerlei erhebbare Testparameter (sei es aus dem Blut oder Harn) bzw. spezifische histopathologische oder genetische Nachweise.<br /><br /> Einteilung des Lipödems nach Lokalisation</p> <ul> <li>Typ I: Becken, Gesäß, Hüfte</li> <li>Typ II: Gesäß bis Knie, mit Fettwülsten im Bereich der Knieinnenseiten</li> <li>Typ III: Gesäß bis Knöchel</li> <li>Typ IV: Arme</li> <li>Typ V: Unterschenkel isoliert</li> </ul> <p>Stadien des Lipödems nach Morphologie</p> <ul> <li>Stadium 1: glatte Hautoberfläche mit gleichmäßig verdickter, homogen imponierender Subkutis</li> <li>Stadium 2: unebene wellenartige Hautoberfläche mit knotigen Strukturen im verdickten Subkutanbereich</li> <li>Stadium 3: voluminöse Fettwülste, welche schwere Konturdeformitäten im Bereich der Fesseln und Knie verursachen</li> <li>Stadium 4: Vorliegen eines Lipolymphödems (Abb. 1)</li> </ul> <p>Das Lipödem ist nicht nur unterdiagnostiziert, sondern wird auch häufig als Lymphödem oder Fettsucht fehldiagnostiziert. Ein weiteres Problem ist die Tatsache, dass eine zusätzliche Adipositas ein Lipödem maskieren kann. Dennoch gibt es einige klinische und anamnestische Fakten, welche uns zur Diagnose führen können.</p> <ul> <li>Erkrankung tritt ausschließlich bei Frauen auf</li> <li>familiäre Disposition</li> <li>Beginn meist mit Pubertät, Schwangerschaft oder Menopause</li> <li>Druck- und/oder Spontanschmerz</li> <li>beidseitiges symmetrisches Auftreten</li> <li>säulenförmige Unterschenkel („Egyptian column“)</li> <li>Bracelet-Phänomen (Einschnürungen an den Knöcheln) (Abb. 2)</li> <li>X-Bein-Stellung (Abb. 3)</li> <li>Hände und Füße bleiben ausgespart</li> <li>Druckschmerz/Spontanschmerz</li> <li>Spannungsgefühl</li> <li>Hämatomneigung</li> <li>keine interstitielle Ödeme (initial)</li> <li>Lymphszintigrafie meistens normal</li> <li>Stemmer’sches Zeichen neg. (sofern kein zusätzliches Lymphödem vorliegt!)</li> <li>schlechtes Ansprechen auf konservative Therapie oder Gewichtsabnahme</li> </ul> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Derma_1704_Weblinks_s64_abb_1_2_3.jpg" alt="" width="2149" height="574" /></p> <h2>Stigma Lipödem</h2> <p>Depressionen oder Angststörungen bei Lipödempatienten sind keine Seltenheit, nicht zuletzt durch die manchmal teils rapide Metamorphose des Körpers, und das meist völlige Unverständnis der Umgebung (leider auch von Ärzten!), dass es sich hierbei um eine Erkrankung handelt. Ein anderes häufiges Problem sind Begleiterscheinungen wie Gelenksschmerzen, X-Bein-Stellung (bedingt durch Kniefettwülste) und in weiterer Folge Arthritiden durch die Fettpolster-bedingte Achsenverschiebung. Spontane Hämatome, Ekchymosen, Druck- und/oder Spontanschmerzen verstärken den Leidensdruck der Patientinnen. Die Lebensqualität ist deutlich vermindert, und das auch häufig schon bei klinisch vermeintlich schwach ausgeprägter Form.</p> <h2>Lymphe als Motor für die Fettgewebsvermehrung?</h2> <p>In verschiedenen Publikationen wird über die Rolle der Lymphe sowie die pathologischen Veränderungen des Lymphabflusses bzw. die erhöhte Kapillarpermeabilität der Blutgefäße und damit verbundenen vermehrten Übertritt proteinreicher Flüssigkeit und Blut ins Interstitium diskutiert. Weiters wird von einem zunehmenden Elastizitätsverlust des Bindegewebes berichtet, was in weiterer Folge zu einer Zunahme des venösen Staus und einem allmählichen Zusammenbruch des Lymphgefäßsystems führt und schließlich in eine beschleunigte Hypertrophie und Hyperplasie der Fettzellen mündet.<br /> Tierversuche und In-vitro-Versuche zeigen, dass freie Lymphe das Fettwachstum anregen kann. Genetische Veränderungen von VEGFR-3 („vascular endothelial growth factor-3“), welcher zu einer Hypoplasie von Lymphgefäßen führt, sowie von PROX-1 („prospero-related homeobox-1“) und EMILIN-1, welche die Durchlässigkeit der Lymphgefäße erhöhen, könnten im konkreten Fall als potenzielle Targets für weitere Forschungen dienen. Dennoch scheint der Lymphabfluss bei Lipödempatienten trotz gelegentlich szintigrafisch nachgewiesenen veränderten Lymphabflussmusters zumindest initial normal zu sein.</p> <h2>Histopathologische Eigenschaften des Lipödems</h2> <p>Eine Gruppe aus Japan konnte 2009 durch immunhistochemische Analysen gleichzeitig stattfindende degenerative und regenerative Veränderungen des Lipödemgewebes, welche durch eine „kronenartige“ Struktur und eine Proliferation von sogenannten „adipose-derived stem/progenitor/stromal cells“ charakterisiert waren, nachweisen.<br /> Dies bedeutet, dass die vermehrte Adipogenese aus einer Nekrose der Adipozyten und folgender Makrophageneinwanderung resultiert, die Nekrose wiederum aus Hypoxie durch Kompression der Kapillaren. Die Mikroangiopathie ist eine der frühesten histopathologischen Veränderungen des Lipödemgewebes.</p> <h2>Östrogen als steuerndes Hormon</h2> <p>Das fast ausschließliche Vorkommen bei Frauen ist zwar noch kein Beweis hierfür, die Ausnahmen könnten aber in diesem Fall die Regel bestätigen. In den extrem seltenen Fällen, in denen Männer betroffen waren, sind nämlich stets Begleiterkrankungen wie Hypogonadismus oder Leberfunktionsschäden ursächlich gewesen. Auch der Beginn oder die Progression in der Pubertät/Schwangerschaft/ Menopause deuten darauf hin. Östrogen wirkt über spezifische Östrogenrezeptoren am weißen Fettgewebe, und das bekannterweise körperregionsabhängig (androgener und gynoider Fetttyp). Es wird vermutet, dass Östrogen durch Rezeptormutation als regulierender Faktor einerseits zentral durch eine Imbalance der Gewichtskontrolle und andererseits peripher durch die regionsspezifische Dysregulation von Lipogenese und Lipolyse eine entscheidende Rolle beim Pathomechanismus des Lipödems spielt. Auch der postmenopausale Switch von gynoidem auf androgenen Fetttyp fällt dabei aus und aggraviert das Lipödem.</p> <h2>Ätiologie</h2> <p>Familiäre Prädisposition und ausschließliches Vorkommen beim weiblichen Geschlecht sind offensichtlich. Die verantwortlichen Gene konnten bisher nicht identifiziert werden, eine polygenetische Genese mit autosomal-dominantem Erbgang wird angenommen.<br /> A. H. Child et al. lieferten 2010 deutliche Hinweise in diese Richtung. Anhand einer Kohorte bestehend aus 67 Familienmitgliedern konnte bei 15 % ein Lipödem nachgewiesen werden. Mehr als die Hälfte berichtete über einen Beginn bzw. eine rapide Verschlechterung der Erkrankung mit Beginn der Pubertät, 96 % berichteten von erfolglosen Diäten, zwei Drittel klagten über rezidivierende Schmerzen und Hämatomneigung, alle betroffenen Familienmitglieder waren weiblich.</p> <h2>Differenzialdiagnosen</h2> <p>Im klinischen Alltag ist vor allem die Abgrenzung zu Adipositas, Lymphödem oder Stauungsödem (venös/kardial) relevant. Dennoch gibt es, wenn auch deutlich seltener, verschiedene vererbbare oder syndromale Lipodystrophien bzw. Lipomatosen, welche es unbedingt von einem Lipödem zu unterscheiden gilt. Zu den wichtigsten zählen hier die familiäre partielle Lipodystrophie (Köbberling-Typ-1-/ Dunnigan-Typ-2-Lipodystrophie), die erworbene partielle Lipodystrophie (Barraquer- Simons-Syndrom), die multiple symmetrische Lipomatose (Madelung-Syndrom) sowie Morbus Dercum (Lipomatosis dolorosa) und die HIV-assoziierte Lipodystrophie. Bei Letzterer kommt es bei manchen HIV-positiven Frauen im Bereich der Oberarme zu einer Fettgewebsvermehrung, im Gegensatz zu betroffenen Männern, die gewöhnlich eine Lipatrophie in dieser Region aufweisen, was eine Östrogen- und/oder Progesteronkomponente hinsichtlich der Fettverteilung vermuten lässt.</p> <h2>Behandlung</h2> <p>Da es sich beim Lipödem um eine krankhafte lokalisierte Fettgewebsvermehrung handelt, verwundert es nicht, dass Gewichtsreduktion kaum einen Effekt hat, dennoch sehen sich viele Patienten veranlasst, teils von ihrem Umfeld genötigt, Diät zu halten. Weitere sehr häufig verordnete Behandlungen mit nur minimalem Effekt sind Lymphdrainagen und Kompression. Beide können zwar vorübergehend Linderung schaffen, behandeln das Problem aber in keiner Weise an der „Wurzel“. Von der Einnahme von Diuretika wird allgemein abgeraten, Massagen bringen keinen Effekt und die Lipektomie ist obsolet. Die Liposuktion ist die einzige Methode, die nicht nur effektiv ist, sondern auch sehr gute Langzeitergebnisse vorzuweisen hat (Abb. 4 und 5).<br /><br /> <strong>Liposuktion</strong><br /> Die schonendste Methode der Liposuktion beim Lipödem ist jene in Tumeszenz- Lokalanästhesie-Technik. Die Patientinnen können ambulant behandelt werden.<br /> Hierbei wird nach Infiltration der Tumeszenz- Lokalanästhesie über mehrere 2–3mm-Hautschnitte mit kleinen atraumatischen Kanülen das Fettgewebe mittels sogenannter „suction-assisted liposuction“ in Criss-cross-Technik abgesaugt. Sehr häufig kommen hier zusätzliche „devices“, seien es Vibrationskanülen („power-assisted liposuction“, PAL) oder andere Hilfsmittel wie Laser, Ultraschall oder Wasserdruck (LAL, UAL, WAL), zum Einsatz.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Derma_1704_Weblinks_s64_abb_4_5.jpg" alt="" width="1417" height="1246" /></p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p>• Allen EV, Hines EA Jr: Lipedema of the legs: a syndrome characterized by fat legs and orthostatic edema. Proc Staff Meet Mayo Clin 1940; 15: 184-7 • Bilancini S et al.: Functional lymphatic alterations in patients suffering from lipedema. Angiology 1995; 46(4): 333-9 • Child AH et al.: Lipedema: an inherited condition. Am J Med Genet A 2010; 152A(4): 970-6. doi: 10.1002/ajmg.a.33313 • Fife CE et al.: Lipedema: a frequently missdiagnosed and missunderstood fatty deposition syndrome. Adv Skin Wound Care 2010; 23: 81-92 • Földi M. et al.: Földi’s Textbook of Lymphology. Elsevier, 2006 • Harvey NL et al.: Lymphatic vascular defects promoted by Prox1 haploinsufficiency cause adult-onset obesity. Nat Genet 2005; 37(10): 1072- 81. Epub 2005 Sep 18 • Herbst KL et al.: Rare adipose disorders (RADs) masquerading as obesity. Acta Pharmacol Sin 2012; 33(2): 155-72. doi: 10.1038/aps.2011.153 • Partsch H et al.: Clinical use of indirect lymphography in different forms of leg edema. Lymphology 1988; 21(3): 152-60 • Szél E et al.: Pathophysiological dilemmas of lipedema. Med Hypotheses 2014; 83(5): 599-606. doi: 10.1016 • Schneider M et al.: „Lymph makes you fat“. Nat Genet 2005; 37: 1023-4 • Suga H et al.: Adipose tissue remodeling in lipedema: adipocyte death and concurrent regeneration. J Cutan Pathol 2009; 36(12): 1293-8. doi: 10.1111/j.1600-0560.2009.01256.x • Wold LE, Hines EA, Allen EV: Lipedema of the legs: a syndrome characterized by fat legs and edema. Ann Intern Med 1951; 34(5): 1243- 40</p>
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