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Therapie über Minoxidil hinaus
Leading Opinions
Autor:
Dr. med. Pierre A. de Viragh
Universitätsklinik für Dermatologie<br> Inselspital Bern & Praxis Zürich<br> E-Mail: pierredeviragh@bluewin.ch
30
Min. Lesezeit
19.12.2019
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<p class="article-intro">Das Konzept, wonach die androgenetische Alopezie (AGA) bei der Frau eine grundlegend andere Kondition als beim Mann darstelle, ist zwischenzeitlich wieder überholt. Grundsätzlich ist sie – allerdings komplizierter als beim Mann – ein Sexualhormon-bedingter Haarausfall. </p>
<hr />
<p class="article-content"><h2>Endokrinologische Grundsätze</h2> <p>Bei ererbter Konstitution – also durch genetische Polymorphismen bedingter individueller Empfindlichkeit auf die Hormone – bewirkt ein ungünstiges Verhältnis der endogenen und exogenen Sexualhormone zueinander, vorab der Androgene gegenüber den Östrogenen, eine übersteigerte Antwort der Haartalgdrüseneinheit. Dies kann sich einzeln oder kombiniert an der Talgdrüse (Akne), am Körperhaar (Hirsutismus) oder eben am Kopfhaar zeigen: AGA. Eine Therapie muss deswegen individualisiert grundlegende endokrinologische Mechanismen und die Variationen in den verschiedenen Lebensabschnitten berücksichtigen. Ovar, Nebenniere und periphere Kompartimente, insbesondere die Haut und hier speziell der Haarfollikel, sind Orte der Synthese und Metabolisierung von Androgenen und Östrogenen (Abb. 1). Grundsätzlich sind Östrogene für das Wachstum des Kopfhaares positiv und Androgene negativ, wobei die Regulierung komplex individuell, altersabhängig und interdependent im Follikel selbst erfolgt. Das komplexe Zusammenspiel erklärt auch die AGA bei Androgeninsensitivität. Die hormonmodulierenden Faktoren (Menge, Aktivität: 5-α-Reduktase, Aromatase, Androgenrezeptoren etc.) sind je nach Topografie unterschiedlich angelegt, was das «pattern» der AGA erklärt.<br /> Es ist vorwiegend das Gestagen, viel weniger Östrogen, auch als Komponente der Antibabypille, welches die Gonadotropine und so die Synthese aller Sexualhormone im Ovar hemmt (Östrogene, Progesteron, Androgene). Östrogen ist dagegen der einzige Hemmer der Androgensynthese in der Nebenniere. Es gibt kein negatives Feedback der Androgensynthese durch die Androgene selbst. Die Östrogenproduktion nimmt zur Menopause schnell sehr deutlich ab (Knochenschwund etc.). Das DHEA nimmt zwar ab einem Alter von 30 Jahren bereits langsam ab, wohingegen die Androgensynthese im Ovar nur verzögert abklingt und gegenüber dem perimenopausal stark erniedrigten Östrogen eine relativ verstärkte Wirkung erhält; nichtsdestoweniger bewirkt das Absinken des Testosterons auch eine verminderte Lipolyse und so einen Trend zur Adipositas. Letzteres ist mitverantwortlich für eine erhöhte Insulinresistenz bei 20 % der 55- bis 65-jährigen Frauen, was wiederum eine verstärkte Insulin- und IGF1-bedingte Androgensynthese bedeutet. Dies erklärt das häufig spärliche Haar bei Übergewichtigen (Abb. 2).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Derma_1903_Weblinks_lo_derma_1903_s36_abb1_deviragh.jpg" alt="" width="500" height="301" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Derma_1903_Weblinks_lo_derma_1903_s36_abb2_deviragh.jpg" alt="" width="500" height="320" /> </p> <h2>Pest statt Cholera: hypoöstrogener Haarausfall</h2> <p>Bei der AGA konzentrieren sich viele nur auf den Ausschluss bzw. die Therapie eines absoluten oder relativen Hyperandrogenismus. Nicht weniger wichtig ist, dass ein Zuwenig an Östrogen ebenfalls Haarausfall auslöst, gut illustriert am Haar ausfall unter Antiöstrogenen und Anti aromatasen bei Mammakarzinom oder beim postpartalen Haarausfall. In der Menopause kann der menopausale Hypogonadismus derart dramatisch sein, dass das Östrogen unmessbar tief absackt, mit gleichzeitig stark erniedrigtem Testosteron. Die negative Auswirkung auf das Haar ist dann die harmloseste Konsequenz (Osteoporose, vaskuläre, mentale und emotionale Gesundheit). Diese Patientinnen müssen dem Gynäkologen zum Hormonersatz (HRT) vorgestellt werden.<br /> Iatrogen kann eine analoge Situation unter Minipillen (nur Gestagen) und auch unter kombinierter oraler Kontrazeption (KOK) entstehen, hier wenn individuell das exogen zugeführte Ethinylestradiol nicht in allen Kompartimenten alle Funktionen des endogenen Östrogens (Estradiol, E2) übernimmt; dies ist auch aus der ungenügenden Knochenmineralisation junger Frauen unter KOK bekannt und dürfte beim Haar analog ablaufen. Das die Gonadotropine hemmende Gestagen der KOK erniedrigt das E2 normalerweise auf das niedrigste Niveau im ovulatorischen (spontanen) Zyklus. Bei deutlich darunter liegendem Wert ist bei Haarausfall trotz antiandrogener KOK ein iatrogenes hypoöstrogenes Effluvium anzunehmen. Es wäre also grundfalsch, in einer solchen Situation der KOK zusätzlich Cyproteronacetat/Androcur® zuzusetzen. Vielmehr muss die KOK gestoppt werden (Abb. 3).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Derma_1903_Weblinks_lo_derma_1903_s37_abb3_deviragh.jpg" alt="" width="500" height="245" /></p> <h2>Abklärungen</h2> <p>Die diagnostischen Schritte bei AGA sind anderswo im Detail dargelegt worden (Ausschluss einer Hyperandrogenämie bei Zyklusstörungen, meist PCO, oder zusätzlichen Androgensierungszeichen; Ausschluss eines die AGA verstärkenden diffusen Effluviums, z. B. durch Mangelzustände (Ferritin <50ng/ml, Zink, Biotin) oder internistische Erkrankungen (TSH, ANA); Simulatoren der AGA durch Eisenmangel (eisenabhängige Enzyme der Hormonsynthese) und Vitamin-B12-Mangel (Androgenrezeptoren demethyliert und so aktiviert), Letzteres vor allem bei Metformin- oder Cyproteronacetat-Therapie).<br /> Zusätzlich sollten bei Adipositas die Insulinresistenz (HOMA-Index: NüchternGlukose und C-Peptid) bestimmt werden. Bei Haarausfall trotz einer antiandrogenen KOK ist während der Pilleneinnahme (nicht in der Pause) bzw. in der Menopause ohne HRT das Östrogen (E2) zu bestimmen. Cave: Unter Biotin, das viele Haarpatientinnen als OTC-Therapie blind einnehmen, ist laborbedingt E2 falsch hoch und TSH falsch niedrig; ein paar Tage vorher Biotineinnahme stoppen.</p> <h2>Basistherapie</h2> <p>Die wichtigste Massnahme ist androgenisierende Behandlungen, meist eine KOK oder HRT mit androgener Teilwirkung zu eliminieren und durch antiandrogene Therapeutika zu ersetzen (Tab. 1 und 2). Bei verstärktem Haarausfall unter bereits durchgeführter antiandrogener KOK ist vorgängig das E2 zu kontrollieren, bei dessen übermässiger Erniedrigung die KOK zu stoppen. Bei Haarausfall in der Menopause mit abnorm starkem Hypogonadismus ist eine HRT einzuführen. Erstverschreibungen der «Pille» sollten durch den Gynäkologen erfolgen, den Wechsel kann, wenn keine besonderen Risiken erkennbar sind, auch der Dermatologe einleiten. Die Grundregeln der Pillenverordnung bzw. die Kriterien zur Evaluation, ob Hormone als Therapie der AGA überhaupt infrage kommen, sind in den Tabellen 3 und 4 aufgeführt.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Derma_1903_Weblinks_lo_derma_1903_s37_tab1_deviragh.jpg" alt="" width="500" height="323" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Derma_1903_Weblinks_lo_derma_1903_s37_tab2_deviragh.jpg" alt="" width="500" height="354" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Derma_1903_Weblinks_lo_derma_1903_s38_tab3_deviragh.jpg" alt="" width="500" height="204" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Derma_1903_Weblinks_lo_derma_1903_s38_tab4_deviragh.jpg" alt="" width="500" height="263" /></p> <h2>Lokaltherapie</h2> <p>Grundlage der Lokaltherapie und der AGA-Behandlung überhaupt ist Minoxidil-Lösung 2 % 2x/d. Eine verbesserte Wirkung der 5 % -Lösung 2x/d ist bei Frauen nicht nachgewiesen worden, weswegen es weltweit von keiner Arzneimittelbehörde hierfür zugelassen wurde; eine 5 % -Lösung nur 1x/d dürfte eine verminderte Wirkung haben. Minoxidil 5 % -Schaum 1x/d ist dagegen äquivalent, was die Compliance verbessern kann und vor allem Platz lässt für zusätzlich Alfatradiol/17-α-Estradiol-Lösung 1x/d; bei schwacher Wirksamkeit ist ein immerhin additiver Effekt möglich; es wirkt als lokaler 5-α-Reduktase-Hemmer. Minoxidil ist vor Abschluss der Familienplanung ungünstig, weil «lebenslang» bei jungen Frauen sehr lange ist und wegen des Rebounds beim Absetzen vor einer Schwangerschaft.</p> <h2>Systemtherapie</h2> <p>Die Therapie sollte an den Schweregrad und an die Lebenssituation angepasst werden (ist sowieso eine Verhütung notwendig? Wird ohnehin eine antihypertensive Therapie durchgeführt? etc.). Grundsätzlich ist jede nicht androgenisierende HRT oder KOK positiv: Das Ovar wird gehemmt und das SHBG gesteigert. Das antiandrogene Gestagen der KOK wirkt allerdings fast nur zentral und ist für eine periphere Wirkung am Haar unterdosiert. Sie allein erlaubt deswegen nur eine Trendumkehr bei milder AGA-Diathese und ist bei fort geschrittener AGA ungenügend. Die Optionen für eine eigentliche antiandrogene Behandlung sind in Abb. 4 und Tab. 5 dar gestellt. Von schwersten Fällen abgesehen, sollten diese schrittweise eingeführt werden, um die Wirksamkeit abschätzen zu können: Therapiewechsel bei Ineffizienz oder Nebenwirkungen; Kombinationen bei ungenügender Wirkung; bevorzugt mit multifaktoriellen Therapeutika (Cyproteronacetat, Spironolacton) beginnen (Abb. 5 und 6). Die AGA reagiert sehr träge und erst innert 12–18 Monaten (Hirsutismus: 3–8 Monate); die Patientinnen sollten deswegen nicht zu früh nachkontrolliert werden (Erwartungshaltung temperieren), standardisierte Fotos zum objektiven Vergleich sind sinnvoll.<br /> Mit überlegten Massnahmen statt reflexartiger Standardabfertigung sind in der Therapie der AGA von Frauen oft gute Ergebnisse zu erreichen. Wichtig ist, bei erneuter Verschlechterung das Auftreten von negativen Kofaktoren des Haarausfalls auszuschliessen und die Behandlung dem Lebensabschnitt der Patientin anzupassen. Auf der Basis medizinischer Massnahmen können dann zusätzliche haarstimulierende Therapien wie PRP (plättchenreiches Plasma) sinnvoll sein.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Derma_1903_Weblinks_lo_derma_1903_s38_abb4_deviragh.jpg" alt="" width="500" height="320" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Derma_1903_Weblinks_lo_derma_1903_s39_tab5_deviragh.jpg" alt="" width="850" height="1049" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Derma_1903_Weblinks_lo_derma_1903_s40_abb5_deviragh.jpg" alt="" width="850" height="251" /></p></p>
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<p>beim Verfasser</p>
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