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Wie groß ist die Suizidgefahr durch Isotretinoin?
Jatros
30
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27.02.2020
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<p class="article-intro">In Großbritannien ist erneut die Diskussion hochgekocht, ob das Aknemittel Isotretinoin Suizide auslöst. Europäische Behörden untersuchten das Thema schon vor Längerem, aber es ist nach wie vor nicht klar, ob das Medikament oder die Krankheit selbst neuropsychologische Veränderungen verursacht.</p>
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<p class="article-content"><p>Verursacht das Aknemedikament Isotretinoin Depressionen und gar Suizide? Diese Frage beschäftigt europäische Behörden seit einigen Jahren. Doch Wissenschaft und Industrie sind bisher daran gescheitert, dies eindeutig zu klären. Aufgewirbelt wurde die Geschichte durch Berichte im Internet. So berichtete kurz vor Jahresende die britische Tageszeitung „The Guardian“ über Isotretinoin. Als Aknepatient hätte man das Mittel vermutlich sofort abgesetzt. Zehn Menschen, die Isotretinoin eingenommen hatten, haben sich 2019 in Großbritannien umgebracht, meldete die zuständige Behörde – das sollen mehr als in jedem Jahr zuvor seit 1983 gewesen sein. Eltern in Großbritannien gehen vor Gericht und machen Isotretinoin für die Suizide ihrer Kinder verantwortlich. Natürlich seien Suizide von Jugendlichen immer tragisch und für die Eltern ein furchtbares Ereignis, sagte Gregor Hasler, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Freiburg und Präsident der Schweizer Gesellschaft für Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie. „Man kann für die Suizide aber nicht automatisch Isotretinoin verantwortlich machen.“ Er habe sich gewundert, dass das Thema wieder hochgekocht werde. „Dass unter Isotretinoin neuropsychologische Veränderungen hervorgerufen werden können, wissen wir schon seit Jahren. Es ist aber nach wie vor nicht klar, ob das wirklich am Medikament liegt oder an der Natur der Krankheit.“<br /> Leichte Akne lässt sich mit Cremes, Gelen oder Lotionen behandeln, die Benzoylperoxid, Azelainsäure, Antibiotika oder Retinoide enthalten. Auch Isotretinoin gehört zu den Retinoiden. Diese dämpfen die Überaktivität der Talgdrüsen, reduzieren die Talgmenge, wirken antientzündlich und indirekt antibakteriell, weil sie den Bakterien ihre Nahrung nehmen, nämlich den Talg. Isotretinoin ist die wirksamste orale Behandlungsform bei schwerer Akne. „Für viele Patienten ist das Medikament eine enorme Erleichterung“, sagte Prof. Christos Zouboulis, Chefdermatologe am Städtischen Klinikum in Dessau. Mindestens die Hälfte der Patienten hat ein Jahr nach Therapiebeginn eine deutlich bessere Haut. Man dürfe nicht unterschätzen, sagte Zouboulis, wie sehr eine schwere Akne die Lebensqualität der jungen Patienten einschränke. „Ich bekomme in meiner Sprechstunde oft mit, wie sehr die Betroffenen darunter leiden. Schlimm finde ich auch, wenn ältere Patienten mit furchtbaren Aknenarben zu mir kommen, weil sie nicht die Therapie bekommen haben, die dem Schweregrad ihrer Akne angepasst war. Die Narben bleiben lebenslang.“</p> <h2>Isotretinoin ändert den Stoffwechsel im Hirn</h2> <p>Aber was ist mit dem Suizidrisiko? Einen Überblick über die Diskussion gibt ein Review von Forschern aus Portugal.<sup>1</sup> Bedenken, dass Isotretinoin sich negativ auf die Stimmung auswirken könnte, gab es bereits in den 1980er- und 1990er-Jahren. Ratten und Mäuse zeigten mehr Depressions-artiges Verhalten unter einer Isotretinoin-Therapie. Aknepatienten bekamen Depressionen, die sich besserten, wenn sie das Medikament absetzten. Manchmal flammte die Depression wieder auf, sobald Isotretinoin wieder gestartet wurde. Einen weiteren Hinweis meinten die Forscher in der Tatsache zu finden, dass die chemische Struktur von Isotretinoin der von Vitamin A ähnelt. Eine Vitamin-A-Vergiftung löste in Einzelbeschreibungen Depressionen, psychotische Beschwerden, Persönlichkeitsveränderungen oder Aggressionen aus. Auch hier verschwanden die Symptome, wenn das Vitamin A abgesetzt wurde. 2005 untersuchten Forscher aus Atlanta 28 Aknepatienten mit Positronen-Emissionstomografie.<sup>2</sup> Nach einer vierwöchigen Isotretinoin-Therapie fanden sie einen verringerten Stoffwechsel in den Hirnbereichen, in denen Depressionen entstehen sollen. Patienten, die Antibiotika statt Isotretinoin nahmen, hatten keine solchen Veränderungen. In einer Laborstudie änderte Isotretinoin den Serotonin-Stoffwechsel. Dieser ist auch bei Depressionen durcheinander.<br /> Theoretisch klingt es also plausibel, dass Isotretinoin für Depressionen und Suizide verantwortlich ist. Auf der anderen Seite ist die Pubertät das Alter, in dem viele Jugendliche per se unter Stimmungsschwankungen, Unsicherheit oder Ängsten leiden. „Hat jemand eine Anlage dafür, könnte Akne durchaus zum Ausbruch einer handfesten Depression führen“, sagte Psychiater Hasler. In einer Untersuchung aus Oslo mit 3775 18- und 19-Jährigen zeigten diejenigen mit Akne in einem standardisierten Fragebogen mehr als doppelt so häufig Symptome von Ängsten und Depressionen wie diejenigen mit gesunder Haut – und zwar je mehr, je schlimmer die Akne war.<sup>3</sup> Mädchen mit schwerer Akne berichteten doppelt so häufig über Suizidgedanken wie diejenigen mit keiner oder nur milder Akne, Buben sogar dreimal so oft. „Jugendliche denken per se oft darüber nach, sich das Leben zu nehmen“, sagte Prof. Paul Plener, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik in Wien. „Die Hormone spielen verrückt, im Gehirn finden neurobiologische Umbauvorgänge statt, die jungen Leute wollen sich von zu Hause ablösen und müssen ihren Platz unter Gleichaltrigen finden – das kann psychisch ganz schön belasten.“</p> <h2>Depressiv durch die Krankheit selbst?</h2> <p>Seit Jahren versuchen die Forscher, den Zusammenhang zwischen Isotretinoin und Suiziden zu klären. Das Fazit: Ein klares Ergebnis gibt es immer noch nicht. Eine der umfangreichsten Analysen aus Boston erschien im Sommer 2019.<sup>4</sup> Die Wissenschaftler hatten Daten der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA von 1997 bis 2017 ausgewertet. Patienten, die Isotretinoin eingenommen hatten, nahmen sich seltener das Leben als die amerikanische Bevölkerung im Durchschnitt. Mehr als die Hälfte der Nebenwirkungen, die im Rahmen einer Isotretinoin-Behandlung gemeldet wurden, betraf jedoch Depressionen und Suizidgedanken. Diese Risiken hätten womöglich mehr mit der psychischen Belastung durch die Krankheit zu tun, schlussfolgerten die Autoren, und weniger mit der Behandlung. Möglich wäre auch, dass die jungen Leute unter anderen psychischen Problemen litten, die ebenfalls mit Depressionen und Suizidalität einhergingen, etwa emotionale Instabilität oder bipolare Störungen. „Auf der anderen Seite könnte es auch sein, dass bestimmte junge Leute psychisch so vulnerabel sind, dass Isotretinoin bei ihnen Depressionen auslöst“, sagte Psychiater Hasler. Ärzte aus China bescheinigten Isotretinoin gar eine positive Wirkung.<sup>5</sup> In ihrer Metaanalyse aus 20 Studien hatten Patienten mit dem Medikament weniger depressive Symptome. Ein potenziell erhöhtes Risiko für Depressionen, hypothetisieren die Autoren, könnte durch die heilende Wirkung von Isotretinoin auf die Akne kompensiert werden. Forscher aus Portugal fanden in Einzelberichten und in Studien, die Patientendaten im Rückblick auswerteten, ein erhöhtes Risiko für Depressionen unter Isotretinoin, in prospektiven Studien, in denen die Probanden ab einem bestimmten Zeitpunkt beobachtet werden, jedoch nicht. Eine Erklärung könnte sein, dass in den prospektiven Studien Patienten ausgeschlossen wurden, die ein erhöhtes Risiko für psychische Krankheiten haben und für die Isotretinoin womöglich einen größeren Effekt hätte. „Wie man es dreht und wendet – wir haben einfach zu wenige Daten für eine klare Aussage“, sagte Gregor Hasler. Valide Daten würde man mit einer sauberen randomisierten Studie bekommen: Die eine Hälfte der Aknepatienten bekommt Isotretinoin, die andere verblindet Placebo, und nach einigen Jahren schaut man, wer Depressionen bekommen hat. Dermatologe Zouboulis zeigte sich skeptisch. „Kennen Sie jemanden, der bereit wäre, ein paar Millionen in eine solche Studie zu investieren? Die Isotretinoin-Hersteller sicherlich nicht.“</p> <h2>Jeden Patienten auf Depressionen checken</h2> <p>Die Arzneimittel-Behörden haben schon vor Jahren auf ein mögliches erhöhtes Depressionsrisiko hingewiesen. In Deutschland wurde beispielsweise ein Hinweis bereits 2001 und 2004 in die Packungsbeilagen zweier Isotretinoin-Präparate geschrieben, und 2006 veröffentlichte das deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Sicherheitsmaßnahmen für den verordnenden Arzt. 2016 beantragte dann die britische Arzneimittelbehörde bei der europäischen Behörde EMA, die Problematik nochmals zu untersuchen. Der entsprechende EMAAusschuss (PRAC) bewertete Umfang und Art der Warnhinweise, um sicherzustellen, dass sie die verfügbare Datenlage widerspiegeln und einheitlich sind. 2018 war die Bewertung abgeschlossen. Die Daten seien limitiert und es könne nicht eindeutig nachgewiesen werden, ob das Risiko für neuropsychiatrische Erkrankungen durch Isotretinoin hervorgerufen werde. Patienten mit schwerer Akne seien aufgrund der Art der Erkrankung möglicherweise gefährdeter. Die Beipackzettel sollten deshalb vor diesem Risiko warnen und mögliche Symptome beschreiben, etwa Stimmungsschwankungen oder Verhaltensänderungen. Im September 2019 veröffentlichten Pharmafirmen nochmals ein Informationsblatt mit Warnhinweisen für Ärzte, und das PRAC untersucht weiterhin den Zusammenhang zwischen Isotretinoin und neuropsychiatrischen Krankheiten. Ein Ergebnisbericht soll 2021 vorliegen. Die Swissmedic hat 2017 eine HPC (Healthcare Professional Communication) aufgeschaltet, die sowohl auf die teratogenen als auch auf die psychiatrischen Risiken, einschließlich Suizidversuchen und Suiziden, hinweist.<sup>6</sup> Bei der Swissmedic heißt es, man berücksichtige bei der Definition von risikomindernden Maßnahmen neben den Daten aus der Schweiz auch die Empfehlungen anderer Arzneimittelbehörden. Die Maßnahmen der EMA seien ebenfalls in der Schweiz umgesetzt worden und die entsprechenden Hinweise seien in der Arzneimittelinformation enthalten.<br /> „Jeder Kollege, der Isotretinoin verschreibt, sollte seinen Patienten vorher auf Depressionen checken“, riet Gregor Hasler. Das gehe einfach und schnell mit standardisierten Fragebögen. Dem Patienten solle man zu engmaschigen Kontrollen beim Arzt raten, damit dieser frühzeitig Hinweise auf Depressionen oder gar suizidale Gedanken erkennen könne. „Berichtet ein junger Mensch, er habe in der letzten Zeit keine Lust mehr auf das, was ihm sonst Freude bereitete, fühle sich zunehmend als Versager und spüre keine Energie mehr, sind das Alarmzeichen“, so Hasler. – Übrigens egal ob ein Jugendlicher Isotretinoin nimmt oder nicht.</p></p>
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<p><strong>1</strong> Oliveira JM et al.: J Cutan Med Surg 2018; 22(1): 58-64 <strong>2</strong> Bremner JD et al.: Am J Psychiatry 2005; 162: 983-91 <strong>3</strong> Halvorsen JA et al.: BMC Public Health 2009; 9: 340 <strong>4</strong> Singer S et al.: JAMA Dermatol 2019; 155: 1162-6 <strong>5</strong> Li C et al.: BMJ Open 2019; 9(1): e021549 <strong>6</strong> Swissmedic: Die sichere Anwendung von Retinoiden in der Dermatologie, abrufbar unter www.swissmedic.ch, letzter Zugriff 12. 2. 2020</p>
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