
Mit den Gedanken umgehen lernen
Bericht:
Dr. med. Lydia Unger-Hunt
Zwangsstörungen können ähnlich belastend sein wie eine schwere Schizophrenie: Betroffene ziehen sich zurück, Depression und sogar Suizidalität können die Folgen sein. Die kognitive Verhaltenstherapie ist effektiv, häufig halten Schamgefühle die Patient:innen jedoch davon ab, ärztliche Hilfe zu suchen. Nützlich sind demgegenüber das aktive Nachfragen von ärztlicher Seite sowie die anonym zugänglichen Informationen im Netz.
Zwangsstörungen zählen mit einer Lebenszeitprävalenz von 1,5 bis 3,5% zu den vier häufigsten psychischen Störungen, berichtet Prof.Dr.med. Michael Rufer, Chefarzt an der Klinik Zugersee. Der Beginn liegt dabei entweder rund um das elfte Lebensjahr oder zwischen dem 18. und dem 25. Lebensjahr; Männer und Frauen sind etwa gleich stark betroffen.
Neuklassifizierung in der ICD-11
Die Erkrankung kann mit grossen Einschränkungen verbunden sein, laut Studien «ist die Einschränkung der Lebensqualität vergleichbar mit der schweren Schizophrenie». Die neue ICD-11 ermöglicht ein besseres diagnostisches Verständnis der Zwangsstörung und die revidierte S3-Leitlinie, die «nicht nur randomisiert kontrollierte Trials, sondern auch viele Fachmeinungen mit entsprechender klinischer Erfahrung» berücksichtigte, gibt sinnvolle Vorgaben für die Behandlung.1,2
Eine wesentliche Änderung im Vergleich zur ICD-10 ist die Klassifizierung der Zwangsstörungen als Teil einer Gruppe von Zwangsspektrumsstörungen («Zwangs-störung oder verwandte Störungen»), die nun auch die körperdysmorphe Störung, Eigengeruchswahn, Hypochondrie, pathologisches Horten und körperbezogene repetitive Verhaltensstörungen umfasst, die wichtige Ähnlichkeiten, aber auch interessante Unterschiede aufweisen. Ebenfalls neu in der ICD-11 ist die Berücksichtigung der Minderheit von Patient:innen mit Zwangsstörungen ohne Krankheitseinsicht («die überwiegende Mehrheit ist einsichtig»). Zwangsstörungen ohne Krankheitseinsicht müssen differenzialdiagnostisch vom Wahn abgegrenzt werden, was vor allem auch aus therapeutischer Sicht wichtig ist: «Nur wenn die Störung als Zwang diagnostiziert wird, kann die richtige Therapie geplant werden. Die bei Wahn eingesetzten Neuroleptika helfen bei Zwangsstörungen beispielsweise nicht.»
Erkrankung im Verborgenen
Zwangsstörung ist durch eine seltene Spontanremission charakterisiert. Die Hälfte der Patient:innen entwickelt eine komorbide Depression. Das ist verständlich: Zwangsgedanken und -handlungen schränken ein und vermindern die Lebensqualität. Manche Betroffene verlassen die Wohnung nicht mehr und haben nur noch das Internet als Tor zur Welt. Sekundär entsteht dann die Depression, und Hoffnungslosigkeit und Resignation können bis hin zur Suizidalität gehen. Auch auf psychosomatische Symptome ist zu achten, beispielsweise im dermatologischen Bereich (typisch sind beispielsweise Ekzeme aufgrund des häufigen Händewaschens).
Die Zwangsstörung ist zudem eine Erkrankung im Verborgenen: «Viele Patient:innen verheimlichen sie. Die meisten wissen im Prinzip, dass ihre Zwänge unsinnig sind, müssen sie aber immer wieder durchführen. Aus Scham und Peinlichkeit ist es nicht möglich, jemandem davon zu erzählen», gibt Prof. Rufer einen Einblick in Schilderungen von Menschen mit Zwangsstörungen.
Zwang oder nette Macke?
Die kürzlich revidierte S3-Leitlinie zur Zwangsstörung enthält sechs Screeningfragen, «das ist für die Praxis wichtig, da manche Patient:innen von sich aus nichts erzählen». Oberste Priorität haben die Fragen nach Wasch-, Putz- oder anderen Kontrollzwängen sowie nach «quälenden Gedanken, die sie gerne loswerden möchten, aber nicht können». Mit diesen Screeningfragen lassen sich Prof. Rufers Erfahrung nach mehr als 80% aller Patient:innen erkennen.
Hilfreich kann ausserdem die Nachfrage sein, ob diese Gedanken beziehungsweise Zwänge zu einer «erheblichen Beeinträchtigung im Alltag» führten. Damit lassen sich Zwänge von einem «Spleen oder einer Macke» unterscheiden: Stundenlang eine Briefmarkensammlung zu sortieren ist «kein Zwang, wenn man es gerne macht». Zur Erfassung der Zwangssymptome empfiehlt Prof. Rufer die Y-BOCS: Das als zweiteiliges Interview strukturierte Instrument ist «anerkannt und in der Praxis gut nutzbar». Weitere Skalen sind das OCI-R und das HZI-(K), beide beruhen auf der Selbstbeurteilung.3 Zu den Differenzialdiagnosen der Zwangsstörungen zählen unter anderem Psychosen, Schizophrenie, Persönlichkeitsstörung oder generalisierte Angststörung. Und cave: Bei Erkrankungsbeginn nach dem 50. Lebensjahr ist eine hirnorganische Abklärung durchzuführen.
Einen Lichtblick für Betroffene stellt die (Weiter-)Entwicklung der Digitalisierung im medizinischen Bereich dar, da sie das anonyme Einholen von Informationen ermöglicht. Prof. Rufer nennt die Website der Schweizerischen Gesellschaft für Zwangsstörungen www.zwaenge.ch und empfiehlt ganz konkret www.ocdland.com , das auch Interviews mit Patient:innen enthält. Wie geht es nach der Diagnose weiter? Wichtig ist das Verständnis der verschiedenen Formen der Zwangsgedanken, zum Beispiel Ansteckungsgefahr: «Diese Türklinke hat zuvor ein HIV-positiver Mensch berührt»; aggressive oder sexuelle Gedanken: «Ich könnte mein Baby erstechen oder meine Tochter vergewaltigen»; Unglück: «Ich könnte jemanden überfahren», aber auch magisches Denken: «Die Zahl 7 bedeutet Unglück.»3 Im Gespräch ist daher klar zu erklären, dass solche Gedanken nicht unbewussten Wünschen entsprechen und vor allem auch, dass «die Betroffenen diese Gedanken nicht ausführen», so Michael Rufer. Nachsatz: «Natürlich muss man sich diagnostisch sicher sein.»
Kognitive Verhaltenstherapie
Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) mit Exposition ist die leitliniengerechte Behandlung der ersten Wahl. Liegt gleichzeitig eine mindestens mittelgradige Depression vor oder ist ein schnellerer Wirkungseintritt wichtig (etwa weil ein wichtiges Lebensereignis, zum Beispiel eine Abschlussprüfung, bevorsteht), kann die KVT mit der Pharmakotherapie kombiniert werden. Diese besteht aus selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI). SSRI können auch als Monotherapie eingesetzt werden, allerdings nur bei Ablehnung der KVT, wenn diese nicht durchführbar ist oder wenn dadurch die Bereitschaft für die KVT erhöht werden kann. Cave: Bei Absetzen der alleinigen Pharmakotherapie kommt die Zwangsstörung bei 80 bis 90% der Fälle zurück, so Prof. Rufer. Hingegen ist bei der Kombination mit der KVT quasi ein Rückfallschutz eingebaut: «Patient:innen lernen, was sie tun können, wenn Zwänge auftreten, sie haben ein Repertoire zum aktiven Management.» Bei unzureichender Wirkung erfolgt die Dosiserhöhung bis zur maximal empfohlenen Dosis. Ist dies ebenfalls unzureichend, ist ein Wechsel auf einen anderen SSRI oder Clomipramin/Venlafaxin möglich; alternativ kann die Augmentation mit einem atypischen Neuroleptikum erwogen werden: «Hier ist nach wenigen Wochen erkennbar, ob es wirkt; wenn nicht, ist das Neuroleptikum abzusetzen.» Ungefähr ein Drittel der vorher therapieresistenten Patient:innen spricht noch auf ein Neuroleptikum an, weiss Michael Rufer, bei Ticstörung sind es sogar noch mehr.
Zu welchem Zeitpunkt die Exposition im Rahmen der KVT zum Einsatz kommt, ist individuell unterschiedlich: «In diese Entscheidung fliessen viele Facetten aus der Biografie ein: ein mögliches kindliches Trauma, aktuelle Beziehungen, die Familie.» Ein Modell, welches für die Exposition eine wichtige Rolle spielt, erklärt die Aufrechterhaltung von Zwängen (Abb. 1).
Abb. 1: Das Erklärungsmodell für die Aufrechterhaltung von Zwängen (mod. nach Salkovskis, Warwick 1988)4
Alternative Sichtweisen anbieten
Als erster Schritt erhält also ein aufdringlicher Gedanke viel Aufmerksamkeit, dann wird das Risiko als hoch angesehen, dass das Vorgestellte tatsächlich passiert. Die Angst, den Ekel oder auch eine bestimmte «Just not right»-Erfahrung ertragen die Patient:innen nicht und setzen daher neutralisierende Handlungen ein. «Direkte Ansatzpunkte der KVT-Interventionen sind weder der 1. noch der 3. Kasten. Beides haben Patient:innen schon erfolgslos versucht: Die Gedanken nicht aufkommen zu lassen oder nicht mit Angst oder anderen unangenehmen Emotionen zu reagieren – das funktioniert nicht», stellt Prof. Rufer klar.
Daher wird einerseits an der Bedeutung gearbeitet: «Wie wahrscheinlich ist es, dass dieses Ereignis passiert? Ist es schon einmal vorgekommen? Wäre vielleicht noch jemand dafür verantwortlich?» Andererseits erfolgt immer die Exposition: In Therapeut:innenbegleitung unterlassen Patient:innen die neutralisierende Handlung (Kasten 4 in Abb. 1). Man arbeitet beispielsweise mit einer Patientin daran, jetzt nicht anzurufen, obwohl der Gedanke besteht, dass zu Hause gerade der Herd in Flammen steht. «Wenn die Patientin das durchhält, stellt sie fest, dass ein Anrufen nicht erforderlich war – und das erhöht die Chance, dass es ihr nächstes Mal etwas leichter fällt, nicht mit der Zwangshandlung zu reagieren.» Die in Abb.1 gezeigte Kette erfährt dadurch eine Veränderung: So schlimm ist es nicht, das Risiko ist doch nicht so hoch, ich halte das aus oder auch: Man muss nicht jedes Risiko immer ausschalten.
Gleichzeitig werden alternative Sichtweisen angeboten: Der ursprüngliche Gedanke im 1. Kasten ist «nur» ein Zwangsgedanke, «der nicht wirklich bedeutet, was er sagt, sondern ein Ausdruck meiner Zwangsstörung ist – ich distanziere mich also», präzisiert Rufer. Und: «Nur weil ich das denke, steigt nicht die Wahrscheinlichkeit, dass es tatsächlich passiert. Ich kann den Gedanken nicht verhindern, muss ihm aber auch keine Aufmerksamkeit schenken. Es ist meine Entscheidung, wie ich auf ihn reagiere.»
Im Kern geht es bei der Exposition genau darum: «Ziel ist die Entwertung der aufdringlichen Gedanken: Ich lasse mich durch sie nicht schockieren und kann wählen, welche Reaktion ich zeige», schliesst Prof. Rufer.
Quelle:
FOMF – Psychiatrie und Psychotherapie Update Refresher, 6.–8. Juni 2024, Zürich
Literatur:
1 https://icd.who.int/en 2 https://register.awmf.org/assets/guidelines/038_017l_S3_Zwangsstörungen_2022-07.pdf 3 Voderholzer U, Rufer M: Zwangsstörungen. In: Bauer M et al. (Hrsg.): Referenz Psychische Störungen. Stuttgart: Georg Thieme Verlag, 2021. 300-13 4 Salkovskis PM, Warwick HMC: Cognitive therapy of obsessive-compulsive disorder. In: Perris C et al. (eds.): Cognitive Psychotherapy: Theory and Practice. Berlin, Heidelberg: Springer Verlag, 1988
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