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Ein tief verwurzeltes Problem mit weitreichenden Folgen

Weibliche Genitalverstümmelung

Nicht alles, was wir als kulturelles Erbe erhalten, ist ein Geschenk, das wir weitergeben sollten. Weibliche Genitalverstümmelung ist ein deutliches Beispiel dafür. Wenn wir uns entschliessen, diese Praxis infrage zu stellen und den Kreislauf zu durchbrechen, gewinnen wir mehr, als wir verlieren. Dieser Artikel beleuchtet nicht nur die schädlichen körperlichen und seelischen Folgen von FGM, sondern auch die Geschichten der Betroffenen – aus der Perspektive einer Frau, die diese Praxis am eigenen Leib erfahren hat.

Persönlicher Erfahrungsbericht einer Betroffenen

Ich schreibe diesen Artikel nicht aus der Perspektive einer Ärztin, Journalistin oder Expertin – ich schreibe ihn als Betroffene. Im Alter von sieben Jahren wurde ich in Äthiopien beschnitten. Dieses traumatische Erlebnis hat tiefe Spuren in mir hinterlassen, die mich bis heute begleiten.

Mit zwölf Jahren kam ich in die Schweiz und fand hier die Unterstützung, die mir half, den schwierigen Weg der Heilung zu beginnen. Doch dieser Weg war lang und alles andere als einfach.

Trotz medizinischer Fortschritte fehlt vielen Ärzt:innen und Psycholog:innen das Wissen über die komplexen körperlichen und psychischen Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung («female genital mutilation», FGM). Oft bleibt eine Beschneidung unentdeckt, da sie schwer zu erkennen ist – vor allem, wenn medizinisches Fachpersonal nicht gezielt nachfragt oder die Sensibilität fehlt, das Thema anzusprechen.Für viele Betroffene bleibt die Beschneidungals verdrängte Erinnerung im Verborgenen

Doch Verdrängung hat ihren Preis. Wenn wir das Erlebte nicht verarbeiten, drohen wir diesen Schmerz unbewusst weiterzugeben – und mit ihm die Tradition, die uns so viel Leid zugefügt hat. Betroffene, die ihr Trauma nicht heilen, tragen die Last dieses Traumas weiter. Das bekannte Sprichwort «Verletzte Menschen verletzen andere Menschen» beschreibt dies nur allzu treffend. Genau diesen Kreislauf möchte ich durchbrechen.

Heute stehe ich nicht nur als Überlebende vor Ihnen, sondern auch als Autorin des Buches «Ich, die Kämpferin», als Protagonistin des Films «Do You Remember Me?» und als Gründerin der Stiftung Sara Aduse. Mit meiner Arbeit versuche ich, das Bewusstsein für die Komplexität von FGM zu schärfen und den betroffenen Frauen eine Stimme zu geben, die allzu oft nicht gehört wird. Heute möchte ich mit Ihnen darüber sprechen, wie wir als Gesellschaft nicht nur mit den körperlichen Folgen von FGM umgehen, sondern auch die sozialen und kulturellen Dynamiken verstehen können, die zu dieser Praxis führen.

Globale Dimension von FGM

Weltweit haben über 230 Millionen Mädchen und Frauen die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung überlebt. Die Auswirkungen sind gravierend: Neben den unerträglichen Schmerzen und den oft tödlichen Blutungen kann FGM langfristige physische und psychische Schäden verursachen. Zu den häufigsten Komplikationen gehören Infektionen, Unfruchtbarkeit und posttraumatische Belastungsstörungen. Darüber hinaus sind viele betroffene Frauen während der Geburt mit schwerwiegenden Komplikationen konfrontiert, darunter postpartale Blutungen, Totgeburten und eine erhöhte Säuglingssterblichkeit.

Das Alter der Mädchen, die dieser Prozedur unterzogen werden, reicht von der frühen Kindheit bis zur Pubertät. Auch die Art der Beschneidung variiert stark. Die schwerwiegendste Form, die Infibulation, besteht darin, dass die Schnittkanten der Labien zusammengenäht werden. Für Geschlechtsverkehr oder die Geburt müssen sie wieder geöffnet werden. Leichtere Formen wie das Anritzen oder Stechen der Genitalien sind symbolische Handlungen, die jedoch ebenfalls schmerzhaft und traumatisierend sein können.

Was ist FGM?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert FGM als alle Verfahren, bei denen ohne medizinischen Grund die äusseren weiblichen Genitalien teilweise oder vollständig entfernt werden. Diese Praxis wird in verschiedene Typen unterteilt, die unterschiedliche Schweregrade aufweisen (Abb. 1):

  • Typ Ia: partielle oder vollständige Entfernung der Klitorisvorhaut (Sunna)

  • Typ Ib: zusätzliche Entfernung der Klitoris

  • Typ IIa–c: Entfernung der kleinen und/oder grossen Schamlippen, mit oder ohne Klitorisentfernung

  • Typ III: Einengung der Vaginalöffnung (Infibulation), wobei die Klitoris entweder entfernt wird oder nicht

  • Typ IV: andere schädliche Praktiken wie das Einstechen, Einritzen oder Verbrennen der Genitalien

Abb. 1: Unterschiedliche Typen von FGM mit unterschiedlichen Schweregraden (I–IV)

Die Durchführung der Prozedur

FGM wird in den meisten Fällen von Frauen an anderen Frauen durchgeführt. Häufig werden unsterile Instrumente wie Rasierklingen, Messer oder Glasscherben verwendet. Die Eingriffe erfolgen ohne Betäubung oder antiseptische Massnahmen. Zur Blutstillung werden häufig Asche, Kräuter oder Tierdung verwendet. Die Beine der Mädchen werden oft tagelang zusammengebunden, um den Heilungsprozess zu fördern. Dies führt jedoch häufig zu Infektionen, chronischen Schmerzen und bleibenden Schäden. Studien zeigen, dass etwa 10% der Betroffenen an den direkten Folgen der Beschneidung sterben, weitere 20% an sekundären Komplikationen.1

Soziokultureller Hintergrund

Weibliche Genitalverstümmelung ist in vielen Gesellschaften tief verwurzelt und oft mit traditionellen Vorstellungen verbunden, nach denen Frauen erst durch die Beschneidung rein oder heiratsfähig werden. In einigen Regionen Afrikas und Asiens gilt die Beschneidung als Voraussetzung für eine Heirat, da unbeschnittene Frauen als unrein oder unehrenhaft gelten. Familien, die in Armut leben, sehen in der Beschneidung eine Möglichkeit, den Brautpreis für ihre Töchter zu erhöhen. Darüber hinaus spielt die Zugehörigkeit zu ethnischen Gruppen eine wichtige Rolle. FGM ist kein rein religiöses Phänomen, sondern wird vor allem in Gemeinschaften mit stark patriarchalischen Strukturen praktiziert. Interessanterweise war die Beschneidung bis in die 1970er-Jahre auch in Europa und den USA verbreitet, wo sie als Behandlung für «weibliche Hysterie», Homosexualität oder «unmoralisches Verhalten» galt.2

Die Rolle des Gesundheitswesens

Eine angemessene Betreuung von Frauen, die FGM überlebt haben, erfordert gut ausgebildetes und sensibles medizinisches Personal. Da viele der Betroffenen traumatisiert sind und die kulturellen Implikationen der Praktik nur schwer verstehen, ist es wichtig, dass Ärzt:innen sowie Psycholog:innen auf diese spezifischen Bedürfnisse eingehen. Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede erfordern oft den Einsatz von Dolmetscher:innen oder Begleitpersonen.

Projekte der Sara Aduse Foundation

Die Vision der Sara Aduse Foundation ist es, FGM durch gezielte Projekte weltweit und dauerhaft zu beenden.

Hope for Harari Girls

Die äthiopischen Mädchen sind Teil unseres Bildungsprogramms, das ihnen nicht nur eine Schulbildung, sondern auch eine sichere Zukunftsperspektive bietet. Mit den Eltern treffen wir schriftliche Vereinbarungen, die sicherstellen, dass die Mädchen nicht beschnitten werden. Wir übernehmen die Kosten für ihre Ausbildung und klären sie gleichzeitig über die schädlichen Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung auf. Durch diese Aufklärung befähigen wir sie, ihr Leben bewusst zu gestalten und eine aktive Rolle in der Prävention zu übernehmen. Mehr Informationen zu unserem Aufklärungsprojekt und den bisherigen Erfolgen – mit bereits 138 aufgenommenen Mädchen – finden Sie unter: https://saraadusefoundation.org/elementor-12112/

© Mohamed Ahmed
Nina House

Weibliche Genitalverstümmelung entsteht oft aus einem Mangel an Bildung und Wissen. Mit dem «Nina House», das wir 2025 in Äthiopien realisieren werden, wollen wir die Menschen über die verheerenden Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung aufklären. Das Projekt soll einen offenen Dialog zwischen Frauen und Männern über FGM/C fördern, um tief verwurzelte kulturelle Normen und Missverständnisse zu überwinden.

Im Nina House begegnen wir den Menschen auf Augenhöhe und holen sie dort ab, wo sie stehen. Dazu arbeiten wir eng mit Expert:innen wie Religionslehrer:innen, Ärzt:innen und Psycholog:innen zusammen, die in die Aufklärungsarbeit eingebunden sind. Diese Fachkräfte bieten fundierte und ehrliche Informationen, die die Grundlage für ein gemeinsames Verständnis und nachhaltige Veränderungen schaffen. Durch diesen Dialog und die professionelle Aufklärung fördern wir eine Gemeinschaft, die Hand in Hand daran arbeitet, FGM/C ein für alle Mal zu beenden. Weitere Informationen zum Nina House finden Sie hier: https://saraadusefoundation.org/counter/

Sara Aduse Foundation

Die Sara Aduse Foundation hat es sich zum Ziel gemacht, FGM weltweit und nachhaltig zu beenden. Bitte unterstützen Sie uns bei dieser wichtigen Arbeit. Ihre Spende trägt direkt dazu bei, das Leben von Mädchen und Frauen sicherer und freier zu machen und ihnen eine Zukunft in Würde zu ermöglichen. Spenden Sie jetzt und bewirken Sie etwas:

https://saraadusefoundation.org/

1 United Nations Children’s Fund (UNICEF): Female Genital Mutilation. A Global Concern. 2024 Update. UNICEF 2024; verfügbar unter https://data.unicef.org/resources/female-genital-mutilation-a-global-concern-2024/ (zuletzt aufgerufen am 11.11.2024)2 Mirastschijski U, Remmel E: Rekonstruktion nach Beschneidung. In: Intimchirurgie. Springer 2018

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