AC102: ein vielversprechender Wirkstoffkandidat bei Hörsturz
Autoren:
Prof. Dr. Christoph Arnoldner
Abteilung für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie
Allgemeines Krankenhaus Wien
Medizinische Universität Wien
Dr. Reimar Schlingensiepen
AudioCure Pharma GmbH
Berlin
E-Mail: rs@audiocure.com
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Hörsturz führt häufig zu dauerhaftem Hörverlust und Begleiterkrankungen wie Tinnitus. Glukokortikoide werden für den Off-Label-Einsatz verschrieben, obwohl es keine klinischen Beweise für den Nutzen gibt. Der niedermolekulare Wirkstoff AC102 wird derzeit in einer Phase-II-Studie untersucht. Präklinisch konnte AC102den Hörverlust nach einem Lärmtrauma rückgängig machen, indemes Sinneshaarzellen schützt und neue neuronale Verbindungenim Innenohr fördert.
Keypoints
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Hörsturz führt zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität der Patienten.
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AC102 ist ein niedermolekularer Wirkstoffkandidat, der in Tiermodellen das Gehör schützt und das Nachwachsen von neuronalen Kontakten fördert.
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AC102 wird derzeit in einer laufenden europäischen Phase-II-Studie bei SSNHL untersucht.
Hörsturz („sudden sensorineural hearingloss“; SSNHL) ist eine Erkrankung, vonder jährlich etwa 5 bis 20 von 100000 Personen betroffen sind. Er wird meist plötzlich oder schrittweise bemerkt und wird in den meisten Fällen einen Besuch beim HNO-Spezialisten bewirken. Die Ätiologie des SSNHL ist unbekannt, aber als mögliche Ursachen werden Gefäßverschlüsse, Virusinfektionen oder Brüche der Labyrinthmembran genannt.
Die Behandlung des SSNHL ist nach wie vor eines der problematischsten Themen in der modernen HNO-Heilkunde.1 Es wurden kleine Studien durchgeführt, die zu unterschiedlichen Behandlungsrichtlinien geführt haben. Es gibt jedoch keine einheitlichen Behandlungsstandards, weder für die Wahl der Medikamente noch für die Dauer und Art der Verabreichung. Bei etwa der Hälfte der Betroffenen kommt es zu einer teilweisen oder vollständigen Genesung, während der Rest mit einem lebenslangen Hörverlust zu kämpfen hat, der häufig von Tinnitus und der Notwendigkeit von Hörgeräten begleitet wird.
Glukokortikoide – Behandlung mit Sicherheitsbedenken
Orale Steroide galten trotz fehlender klinischer Nachweise und fehlender Zulassung als Standardtherapie für SSNHL.2 Eine kürzlich im New England Journal of Medicine Evidence veröffentlichte klinische Studie (HODOKORT) hat die Wirksamkeit unterschiedlicher Glukokortikoiddosen untersucht.3 HODOKORT war eine randomisierte Doppelblindstudie mit 325 SSNHL-Patienten, die entweder hoch dosiertes intravenöses Prednisolon (250mg/d), hoch dosiertes orales Dexamethason (40mg/d) oder normal dosiertes orales Prednisolon (60mg/d) erhielten.
Die Verbesserung der Hörschwellen unterschied sich nicht zwischen den Gruppen, was darauf hindeutet, dass die hohe Dosis der Standardbehandlung nicht überlegen war. Unerwarteterweise traten unerwünschte Ereignisse im Bereich der Ohren in den hochdosierten Gruppen häufiger auf. Besonders besorgniserregend waren die schlechte Spracherkennung und das Auftreten von Tinnitus, die in den hochdosierten Gruppen signifikant häufiger vorkamen.
Trotz sofortiger Behandlung blieben die Hörsymptome bei den meisten Patienten in allen Gruppen über den gesamten Beobachtungszeitraum von sechs Monaten bestehen. Bei der Standardtherapie erholten sich nicht mehr als 40% vollständig, in der Hochdosisgruppe sogar weniger als 25%. Bei einem Drittel der Patienten, die eine Standarddosis erhielten, wurde am Ende der Studie (6 Monate) ein Hörgerät oder ein Cochlea-Implantat empfohlen. Die Hälfte der Patienten in der Hochdosisgruppe benötigte ein Hörgerät.
Die Ergebnisse der HODOKORT-Studie deuten darauf hin, dass Glukokortikoide bei der Behandlung des SSNHL möglicherweise nicht ausreichend wirksam sind und unerwünschte Nebenwirkungen haben können. Das Ergebnis dieser Studie unterstreicht den Bedarf an neuen Medikamenten mit soliden Nachweisen für die klinische Wirksamkeit und Sicherheit.
Entstehung des Hörverlusts
Im Corti-Organ verstärken äußere Haarzellen („outer hair cells“; OHC) leise Töne durch Elektromotilität, wobei die Zellen ihre Länge als Reaktion auf Vibrationen verändern.4 OHC spielen auch eine Rolle bei der Feinabstimmung der Frequenzantwort der Cochlea, um zwischen verschiedenen Tonhöhen zu unterscheiden. Die OHC arbeiten mit den sensorischen inneren Haarzellen (IHC) zusammen, die die verstärkten Schwingungen in elektrische Signale umwandeln, die über die Neuriten des Hörnervs an das Gehirn weitergeleitet werden.
Die Mechanismen des Hörverlusts wurden in erster Linie in Tiermodellen mit akutem Lärmtrauma erforscht. Kurz nach der Lärmbelastung werden signifikante Verschiebungen der Hörschwellen festgestellt. Studien an isolierten Corti-Organen haben durchwegs einen dramatischen Anstieg toxischer reaktiver Sauerstoffspezies (ROS; „Sauerstoffradikale“) in den Cochleae von lärmexponierten Tieren gezeigt, der eine Woche oder länger erhöht bleiben kann.5 Erhöhte ROS können zum Absterben der OHC führen, hauptsächlich durch Apoptose. IHC sind resistenter gegen direkte Schäden. Allerdings können sich die sogenannten Bandsynapsen („ribbon synpases“), die die IHC mit den peripheren Neuriten des Spiralganglions verbinden, zurückbilden, was zu einer sogenannten cochleären Synaptopathie führt. Die Schädigung der OHC ist verantwortlich für Schwellenverschiebungen, die durch Audiometrie festgestellt werden. Andererseits scheint die cochleäre Synaptopathie ein wichtiger Mechanismus zu sein, der der sogenannten versteckten Schwerhörigkeit („hidden hearing loss“; HHL) zugrunde liegt. HHL wird bei der Reintonaudiometrie nicht erkannt, zeigt sich aber häufig bei Spracherkennungstests. Die Patienten berichten in der Regel über Schwierigkeiten beim Verstehen von gesprochener Sprache, insbesondere bei Hintergrundgeräuschen.
AC102 bei Hörsturz
Ein idealer Arzneimittelkandidat sollte die meisten oder alle Aspekte der Cochlea-Pathologie ansprechen, einschließlich der Verringerung des oxidativen Stresses, der Verhinderung der OHC-Apoptose, der IHC-Synaptopathie und der neuralen Degeneration. AC102 ist ein neuartiger niedermolekularer Pyridoindol-Wirkstoff, der von der AudioCure Pharma GmbH für die Behandlung von SSNHL entwickelt wird.6 AC102 wird durch Injektion durch das Trommelfell in das Innenohr verabreicht. Die Formulierung geht in ein Gel über, das über einen längeren Zeitraum mit dem runden Fenster der Cochlea in Kontakt bleibt und so seine Verteilung entlang der gesamten tonotopischen Achse der Cochlea fördert.
Präklinische Daten
Präklinische Daten belegen die Wirkung von AC102 in einem Modell für lärmbedingten Hörverlust bei Meerschweinchen. Eine einmalige Verabreichung von AC102 stellt das Hörvermögen 14 Tage nach der Behandlung fast vollständig wieder her (Abb. 1).6 AC102 verhinderte den Verlust äußerer Haarzellen nach Lärmbelastung und verringerte die IHC-Synaptopathie, was auf eine Wiederherstellung der Hörneuronen zu den sensorischen Zielzellen hindeutet.
Abb. 1: Hörverlust als unmittelbare Folge eines Lärmtraumas wird durch den Verlust von äußeren Haarzellen („outer hair cells“) sowie durch Synaptopathie verursacht. In-vivo-Studien an Meerschweinchen, die einem Lärmtrauma ausgesetzt waren, zeigten, dass AC102 den Verlust von OHC verhindern, Synaptopathie rückgängig machen und das Gehör nach einer Lärmbelastung wiederherstellen kann (modifiziert nach Rommelspacher H et al. 2024)6
Mechanistische Studien wurden in vitro durchgeführt. In einem neuronalen Schadensmodell mit kultivierten Zellen förderte AC102 signifikant das Nachwachsen von Neuriten. Diese Effekte gingen mit einer Verringerung der Sauerstoffradikale, einer Erhöhung der ATP-Produktion und einer Verringerung des Zelltods durch Apoptose einher(Abb. 2). Diese Daten stehen im Einklang mit dem in der Meerschweinchenstudie beobachteten Nachwachsen von Band-Synapsen und deuten darauf hin, dass AC102 auch bei bereits bestehender Synaptopathie von Nutzen sein könnte. Diese Konstellation positiver Eigenschaften spricht sehr für eine Weiterentwicklung von AC102 als potenzielle Behandlung von SSNHL. AC102 könnte auch bei anderen Arten von akutem Hörverlust von Nutzen sein, z.B. bei Lärmtrauma und dem Verlust des Restgehörs, der häufig bei Cochlea-Implantationen auftritt.7
Abb. 2: In-vitro-Experimente zeigten neuroprotektive und neuroregenerative Eigenschaften von AC102 und offenbarten eine Verringerung von ROS und eine Erhöhung von ATP als mögliche molekulare Mechanismen, die sowohl die In-vitro- als auch die In-vivo-Ergebnisse erklären könnten (modifiziert nach Rommelspacher H et al. 2024)6
Klinische Phase-II-Studie
AC102 wird derzeit in einer europaweiten Phase-II-Studie bei Patienten mit SSNHL untersucht (Abb. 3).8 Ziel der Studie ist es, festzustellen, ob AC102 im Vergleich zu Glukokortikoiden die Erholung des Gehörs signifikant verbessern kann, und die Sicherheit und Verträglichkeit in der Patientenpopulation zu bewerten. Der primäre Endpunkt ist die Veränderung der Hörschwellen, die mittels Reintonaudiometrie vom Ausgangswert bis zum Tag 28 bestimmt wird. Ein sekundäres Ergebnis ist die Verbesserung der Spracherkennung in Ruhe am Tag 84 im Vergleich zum Ausgangswert.
Abb. 3: Ein Überblick über die klinische Studie AC102, einschließlich Einschluss-/Ausschlusskriterien, Behandlungsgruppen und Bewertungen
Bei der Studie handelt es sich um eine doppelblinde, placebokontrollierte Studie an etwa 200 Patienten mit mittelschwerem bis schwerem idiopathischem SSNHL.
AC102 wird als einmalige intratympanale Injektion innerhalb von fünf Tagen nach Auftreten der Symptome verabreicht. Die Studie wird an bis zu 45 Studienzentren in ganz Europa durchgeführt, darunter Österreich, Deutschland, die Tschechische Republik, die Niederlande, Polen, Serbien und die Ukraine.
Zusammenfassung
Hörsturz führt zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität der Patient:innen. AC102 ist ein niedermolekularer Wirkstoffkandidat, der in Tiermodellen das Gehör schützt und das Nachwachsen von neuronalen Kontakten fördert. AC102 wird derzeit in einer laufenden europäischen Phase-II-Studie bei SSNHL untersucht. Wir stehen Ihnen gerne für Informationen über AC102 und die Studie zur Verfügung.
Literatur:
1 Murray DH et al.: Idiopathischer plötzlicher sensorineuraler Hörverlust: eine Kritik an der Kortikosteroidtherapie. Hear Res 2022; 422: 108565 2 Plontke SK et al.: Intratympanic corticosteroids for sudden sensorineural hearing loss. Cochrane Database Syst Rev 2022; 7(7): CD008080 3 Plontke SK et al.: High-dose glucocorticoids for the treatment of sudden hearing loss. NEJM Evid 2024; 3(1): EVIDoa2300172 4 Santos-Sacchi J et al.: Die Elektromotilität der äußeren Haarzelle wird im Verhältnis zu den molekularen Konformationsänderungen, die nichtlineare Kapazität erzeugen, tiefpassgefiltert. J Gen Physiol 2019; 151(12): 1369-85 5 Zhou Y et al.: Redox homeostasis dysregulation in noise-induced hearing loss: oxidative stress and antioxidant treatment. J of Otolaryngol Head Neck Surg 2023; 52(1): 78 6 Rommelspacher H et al.: A single dose of AC102 restores hearing in a guinea pig model of noise-induced hearing loss to almost prenoise levels. Proc Natl Acad Sci U S A 2024; 121(15): e2314763121 7 Nieratschker et al.: A preoperative dose of the pyridoindole AC102 improves the recovery of residual hearing in a gerbil animal model of cochlear implantation. Cell Death Dis 2024; 15(7): 531 8 Wirksamkeit und Sicherheit von AC102 im Vergleich zu Steroiden bei Erwachsenen mit idiopathischem plötzlichem sensorineuralem Hörverlust (ISSNHL). https://clinicaltrials.gov/study/NCT05776459 ; zuletzt aufgerufen am 9.10.2024
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