
Ist die minimal invasive Wirbelsäulenchirurgie sinnvoll?
Jatros
Autor:
Dr. Michael Huber
Korrespondierender Autor<br> Abteilung für Orthopädie Landesklinikum Amstetten<br> E-Mail: michael.huber@amstetten.lknoe.at
Autor:
HR Prim. Dr. Christian Meznik
Autor:
OA Dr. Wolfgang Senker
30
Min. Lesezeit
07.07.2016
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<p class="article-intro">Von der Chirurgie wird immer gefordert, minimal invasiv ähnlich gute Ergebnisse zu bringen wie durch offene Verfahren. Diese offenen Verfahren gelten nach wie vor als Goldstandard, wobei ihre Begleitmorbidität oft nicht unerheblich ist. Dieser Artikel soll die gängige minimal invasive Wirbelsäulenchirurgie bei degenerativen Erkrankungen erklären und deren Vorteile beleuchten.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Minimal invasive chirurgische Behandlungen von Wirbelsäulenleiden gibt es schon seit Langem. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurden Chymopapain zur Chemonukleolyse sowie die perkutane Nukleotomie zum ersten Mal eingesetzt. In den frühen 1980er-Jahren verwendete Magerl das erste Mal perkutane Pedikelschrauben. In den 1990er- und in den 2000er-Jahren wurden das erste Mal eine minimal invasive ALIF („anterior lumbar interbody fusion“) sowie die ersten lateralen Trans-Psoas-Zugänge für TLIF („transforaminal interbody fusion“) und XLIF („lateral lumbar interbody fusion“) verwendet. Weiters wurden minimal invasive lumbale Laminektomieverfahren für die Stenose und auch die ersten intraspinösen Implantate eingeführt. 2001 führte Foley ein perkutanes Pedikelschraubensystem ein, bei dem die Implantatshilfe zum Einführen des perkutanen Längsstabes einem Sextanten gleicht. 2003 wurden von dem gleichen Autor tubuläre Spreizer zur Diskektomie eingeführt.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1604_Weblinks_Seite56_1.jpg" alt="" width="788" height="563" /></p> <h2>Wie lautet das Leitbild der minimal invasiven Chirurgie?</h2> <p>Das Leitbild der minimal invasiven Chirurgie in nahezu allen chirurgischen Fächern ist es, Weichteilschäden zu vermeiden und auch Knochenverluste so gut wie möglich zu verhindern.<br /> Bei der lumbalen Fusion kann man, um einen Interbody-Cage zu implantieren, die Wirbelsäule minimal invasiv von verschiedenen Richtungen erreichen. Man kann insbesondere in den unteren lumbalen Segmenten die Wirbelsäule durch einen minimal invasiven retroperitonealen Zugang erreichen. Von diesem Zugangsweg wurde in letzter Zeit ein sogenannter Trans-Psoas-Approach postuliert. Dieser Zugang ist nur unter Neuromonitoring zu empfehlen, da der lumbale Plexus im Bereich des Musculus psoas sehr vulnerabel ist. So wurden in rezenten Studien postoperative Hüftflexionsschwächen bis zu 27 % berichtet. 17 % klagten über Sensibilitätsdefizite im Bereich der Leisten, welche teilweise 12 Monate und länger bestanden. Aus diesem Grund werden auch sogenannte Oblique-Cages eingesetzt, welche von schräg ventral, unmittelbar vor dem Musculus psoas kommend, implantiert werden. All diese Cages zeichnen sich durch einen großen Footprint und ein damit vermindertes Risiko der Sinterung aus.<br /> Bei von dorsal durchgeführten Eingriffen bedeutet Minimalinvasivität vor allem, den Musculus multifidus zu schonen. Dieser „key stabilizer“ ist einer der wichtigsten posterioren Stabilisatoren der Wirbelsäule. Er entspringt am Processus spinosus und setzt am lateralen Anteil des Processus articularis superior zwei Etagen tiefer an. Literaturdaten zeigen einen Zusammenhang zwischen dem Verlust von Muskelmasse und Kreuzschmerz. So hat man in MRT-Studien bei chronischen Lumbagopatienten einen signifikant kleineren Multifidus-Querschnitt im Bereich der unteren zwei lumbalen Segmente festgestellt. Der kleinere Querschnitt befand sich immer auf der angegebenen Schmerzseite. Anhand von T2-gewichteten MRT-Bildern bei Patienten mit degenerativem Flachrücken konnte man außerdem eine signifikante Fettinfiltration finden.<sup>1, 2</sup> Des Weiteren scheint der intramuskuläre Druck bei minimal invasiven Retraktoren signifikant niedriger als bei offenen Retraktoren zu sein. Postoperativ zeigten sich nach minimal invasiven lumbalen Fusionen in MRT-Studien weniger Muskelödeme.<sup>3</sup> In einer Studie von 2006 konnten Kim et al zeigen, dass die Werte von Enzymen, die das Muskeltrauma repräsentieren – wie Kreatinkinase, Aldolase sowie für Entzündungen verantwortliche Zytokine (Interleukin 1, 6, 8, 10) –, bei mini-open-lumbalen Fusionen innerhalb der ersten Woche deutlich niedriger waren als bei herkömmlichen offenen Operationen.<sup>4</sup><br /> Von dorsal kommend, bieten sich PLIF- oder TLIF-Cages an, welche sehr gut durch einen tubulären Retraktor implantiert werden können. Der Nachteil der PLIF-Cages ist, dass man von beiden Seiten kommend je einen Cage implantieren muss, bei der TLIF und ihren Varianten (Bananen-Cage usw.) ist ein unilateraler Zugang ausreichend. Diese Cages bieten sich auch an, wenn eine fortgeschrittene Spinalkanalstenose erweitert werden muss. Nachteil dieser Cages ist der relativ kleine Footprint.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1604_Weblinks_Seite56_2.jpg" alt="" width="445" height="683" /></p> <h2>Indikationen</h2> <p>Die Indikationen für minimal invasive Verfahren sind im Wesentlichen dieselben Krankheitsbilder wie für offene Techniken. Beispiele hierfür sind die degenerative Spondylolisthese, zentrale oder foraminelle Stenosen, zentrale oder foraminelle Diskusherniationen oder die „isolated degenerative disc/joint disease“.<br /> Dorsale Verfahren bieten sich an, wenn eine fortgeschrittene Spinalkanalstenose erweitert werden muss. Bei moderaten Stenosen werden jedoch auch laterale und ventrale Verfahren zur „indirekten Dekompression“ verwendet. Durch die Distraktion des Segmentes kommt es dabei zu einer Verminderung des Volumens sowohl der vorgewölbten Bandscheibe als auch des Ligamentum flavum und damit zu einer relativen Erweiterung des Wirbelkanals.<br /> In einer großen, 255 Patienten umfassenden Studie, die sich mit der Indikation der dorsalen Fusion bei degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen, ein oder zwei Segmente betreffend, mit PLIF oder TLIF sowie minimal invasiven Schraubensystemen auseinandersetzte, konnte gezeigt werden, dass die Patienten postoperativ nach 1,3 Tagen das erste Mal mobilisiert wurden und im Durchschnitt nach 6,3 Tagen das Spital verlassen konnten.<sup>5</sup> Der durchschnittliche Blutverlust betrug in der 1-Segment-Gruppe 163ml, in der 2-Segment-Gruppe 233ml. Nur ein Patient in der 2-Segment-Gruppe benötigte postoperativ eine Blutkonserve. Auffällig war, dass die Schmerzscores (VAS) und auch die Scores, die Lebensqualität (ODI, EQ 5D) betreffen, sehr rasch eine deutliche Verbesserung zeigten und in einem Nachuntersuchungszeitraum von einem Jahr auf diesem Niveau persistierten.<br /> Minimal invasive Fusionsmethoden eignen sich weiters gut bei adipösen Patienten. Verglichen mit Studiendaten, in denen gezeigt werden konnte, dass bei adipösen Patienten nach lumbalen offenen Fusionsoperationen signifikant höhere Komplikationsraten festzustellen sind,<sup>6</sup> konnte in einer in unserem Haus durchgeführten Studie, die 72 Patienten inkludierte, demonstriert werden, dass es bei minimal invasiven dorsalen Fusionen bezüglich der Komplikationsrate keinen Unterschied zwischen normalgewichtigen, übergewichtigen und adipösen Patienten gibt.<sup>7</sup> In der Gruppe der adipösen Patienten, die sich einer minimal invasiven Fusion unterzogen, traten weder Infektionen noch Wundheilungsstörungen auf. Zwischen den verschiedenen Gewichtsgruppen konnte kein Unterschied im Blutverlust oder in der Länge des Krankenhausaufenthalts festgestellt werden. Ähnliches wird auch über den Einsatz von minimal invasiven Fusionsmethoden bei älteren Patienten berichtet.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1604_Weblinks_Seite58.jpg" alt="" width="876" height="637" /></p> <h2>Fazit</h2> <p>Die minimal invasive Versorgung der Wirbelsäule scheint eine gute Alternative zu sein. An unserer Abteilung werden minimal invasive Techniken bei Fusionen bis zu 4 Etagen mit guten bis sehr guten Ergebnissen angewandt. Eine große Herausforderung stellen höhergradige Skoliosen bzw. ein stärkeres sagittales Malalignment dar, wobei hier auch minimalinvasiv von lateral eingebrachte Cages mit großer Oberfläche ihren Einsatz finden. Im Falle von Deformitäten, bei denen eine Osteotomie vonnöten ist, wird an unserer Abteilung ein offenes Verfahren gewählt.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Hides J et al: Multifidus size and symmetry among chronic LBP and healthy asymptomatic subjects. Man Ther 2008; 13(1): 43-9<br /><strong>2</strong> Lee JC et al: Quantitative analysis of back muscle degeneration in the patients with the degenerative lumbar flat back using a digital image analysis: comparison with the normal controls. Spine 2008; 33(3): 318-25<br /><strong>3</strong> Stevens KJ et al: Comparison of minimally invasive and conventional open posterolateral lumbar fusion using magnetic resonance imaging and retraction pressure studies. J Spinal Disord Tech 2006; 19(2): 77-86<br /><strong>4</strong> Kim KT et al: The quantitative analysis of tissue injury markers after mini-open lumbar fusion. Spine (Phila Pa 1976) 2006; 31(6): 712-6<br /><strong>5</strong> A prospective, multicenter observational study on MAST™ (Minimal Access Spinal Technologies) fusion procedures for the treatment of the degenerative lumbar Spine (MASTERS-D); ClinicalTrials.gov: NCT01143324<br /><strong>6</strong> Buerba RA et al: Obese Class III patients at significantly greater risk of multiple complications after lumbar surgery: an analysis of 10,387 patients in the ACS NSQIP database. Spine J 2014; 14(9): 2008-18<br /><strong>7</strong> Senker W et al: Perioperative morbidity and complications in minimal access surgery techniques in obese patients with degenerative lumbar disease. Eur Spine J 2011</p>
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