
Lateralisierung bei inverser Endoprothetik der Schulter
Autor:
Dr. med. Florian Freislederer
Schulter- und Ellbogenchirurgie, Schulthess Klinik, Zürich
E-Mail: florian.freislederer@kws.ch
Fortgeschrittene Defektarthropathien stellen die klassische Indikation für die Implantation inverser Schulterprothesen dar. Nun wurde anhand eines homogenen Patientenkollektivs das lateralisierte mit dem nicht lateralisierten Grammont-Design verglichen. Welche Unterschiede zeigen sich im Outcome hinsichtlich Schulterbeweglichkeit, Kraft und funktioneller Parameter?
Die inverse Schulterprothese basiert auf dem Konzept von Paul Grammont aus den 1980er-Jahren. Die Medialisierung und Kaudalisierung des Drehzentrums durch eine Glenosphäre reduzieren die Scherkräfte auf die Verankerung und verbessern die Hebelwirkung des Deltamuskels. Zusätzlich wird durch die humerale Kaudalisierung (155° Hals-Schaft-Winkel) eine grössere Vorspannung des Deltamuskels erreicht, welche eine grössere Hebelwirkung erzeugt und das Defizit der insuffizienten Rotatorenmanschette teilweise kompensiert. Aufgrund der grossen Patientenzufriedenheit und der guten kurz- und mittelfristigen Ergebnisse bei Patienten mit Defektarthropathien erhielt die inverse Prothese schon früh viel Aufmerksamkeit und Popularität. Das Konzept revolutionierte die Behandlung dieser stark funktionseingeschränkten und schmerzgeplagten Patienten.
Inverse Prothesen bei Defektarthropathien
Fortgeschrittene Defektarthropathien gehen, neben der durch die arthrotische Abnutzung bedingten humeralen Kranialisierung, auch mit einer Gelenksmedialisierung mit oft bedeutendem Glenoidverbrauch einher.3 Beim originalen Grammont-Konzept stellten sich Scapular Notching, Instabilität sowie eine begrenzte axiale Rotation als Probleme heraus.4,5 Durch Verringern der Schaft-Hals-Neigung der Prothese (auf 135°) und Lateralisieren des Rotationszentrums sollte die Rate des Notchings zurückgehen und insbesondere axiale Rotationen – aufgrund einer besseren Spannung der verbliebenen Rotatorenmanschette, Rekrutierung der posterioren Deltaanteile und eines grösseren impingementfreien Bewegungsumfanges – verbessert werden.6–9
Bedenken hinsichtlich höherer Gelenkkompressions- und Scherkräfte mit einer potenziellen Gefahr für die Langlebigkeit und Stabilität der Prothese und erhöhtem Polyethylenverschleiss, höheren Deltakräften, die zur Erzielung der Bewegung erforderlich sind, einer Zunahme von Skapulafrakturen und subakromialem Impingement sowie Probleme durch Overstuffing sind theoretische Gefahren des lateralisierten Designs.
Nur wenige Studien haben die Ergebnisse der inversen Prothese rein für die fortgeschrittene Defektarthropathie, welche die klassische Indikation für die Versorgung mit einer inversen Prothese darstellt, untersucht.3,10–12 Die meisten der vorhandenen Studien schlossen eher heterogene Patientengruppen ein. Des Weiteren bestehen viele Faktoren, die die Beweglichkeit und ein mögliches Skapulaimpingement, v.a. das Scapular Notching, beeinflussen können. Die Skapulaanatomie, das Design und die Grösse der Glenosphäre sowie die Art der Rotatorenmanschettenruptur müssen für einen echten Vergleich berücksichtigt werden. Diese Faktoren zu bedenken und mögliche Unterschiede komplett auszuschalten war das Ziel unserer Studie beim Vergleich dieser beiden Designs.
Die Rolle des Designs
In einer Vorstudie haben wir bereits mit den gleichen methodischen Vorgaben inverse Prothesen bei irreparablen Rotatorenmanschetten untersucht.13 Das Kollektiv dieser Studie war eine sehr homogene Patientenkohorte mit fortgeschrittener Defektarthropathie Hamada 4 und 5,1,2 Patienten, welche entweder mit einer lateralisierten oder einer klassischen nicht lateralisierten inversen Schulterprothese nach dem Grammont-Design versorgt wurden. Wir haben versucht, die Frage zu beantworten, welchen Unterschied das Design macht.
Studiendesign und -population
Es handelt sich um eine retrospektive Kohortenstudie. Wir schlossen nur Patienten mit fortgeschrittener Defektarthropathie Hamada 4–5 aus unserem Schulterregister ein.14 Um ein möglichst vergleichbares Patientenkollektiv zu untersuchen, hatte der Grossteil unserer Patienten eine postero-superiore Rotatorenmanschettenläsion ohne kompletten Subscapularis- und Teres-minor-Riss und keine höhergradige fettige Degeneration des Subscapularis.15 Die lateralisierte Gruppe hatte eine Prothese mit 135° Inklination und 4mm lateralisierter Glenosphäre. Die nicht lateralisierte (Grammont-)Gruppe wurde mit einer Prothese mit 155° Inklination und exzentrischer Glenosphäre versorgt (Abb. 1).
Abb. 1: Prä- und postoperative (2 Jahre nach Operation) A.p.-Röntgenaufnahmen von zwei Patienten mit fortgeschrittener Defektarthropathie mit glenohumeraler Arthritis aus der nicht lateralisierten (a/c) und der lateralisierten Gruppe (b/d)
Es konnten 20 Patienten in die lateralisierte Gruppe L und 8 Patienten in die nicht lateralisierte Grammont-Gruppe G eingeschlossen werden.
Methoden
Röntgenbilder wurden präoperativ und 2 Jahre postoperativ ausgewertet und funktionelle Scores erhoben. Radiologisch evaluierten wir A.p.-Röntgenbilder mit detaillierten, umfangreichen Parametern: Zur Bestimmung der präoperativen Anatomie dienten die Glenoidhöhe, der Skapulahalswinkel und die Skapulahalslänge sowie die glenoidale Inklination, der humerale Offset sowie der LSA («lateralisation shoulder angle») und der DSA («distalisation shoulder angle»).18
2 Jahre nach Implantation wurden erneut Lateralisierungs- und Distalisierungsparameter sowie Messungen zur Prothesenposition bestimmt. Um radiologische Komplikationen genau zu erfassen, wurden durch einen internationalen Konsensus festgelegte Parameter in den postoperativen Röntgenbildern bestimmt.17 Baseline-Parameter zeigten keine signifikanten Unterschiede und eine ähnliche Verteilung. In Gruppe L waren mit 95% überwiegend weibliche Patienten eingeschlossen, in Gruppe G waren 75% weiblich. Über 80% der Rupturen in beiden Gruppen waren postero-superiore Rotatorenmaschettenrupturen. Hamada-4B-Läsionen machten in beiden Gruppen den Hauptanteil aus. Bezüglich des präoperativen Bewegungsumfanges zeigte sich eine nicht signifikante dezent bessere Aussenrotation in Gruppe L.
Ergebnisse
Bei ähnlichen Verläufen zeigten sich in beiden Gruppen nach Prothesenimplantation deutliche Verbesserungen der Constant- und SPADI-Scores sowie der Flexion und Abduktion (Abb. 2).
Die lateralisierte Gruppe zeigte im Vergleich zur nicht lateralisierten Gruppe eine um 15° signifikant bessere Aussenrotation nach 2 Jahren. Der Anteil der Patienten, die im Schürzengriff LWK3 erreichten, betrug in der lateralisierten Gruppe 79% gegenüber 25% in der nicht lateralisierten Gruppe. Dieses Ergebnis war ebenfalls knapp signifikant.
Radiologische Baseline-Parameter waren vergleichbar. Nach 2 Jahren Follow-up zeigten die Prothesengruppen nur in den direkten und indirekten Distalisierungs- und Lateralisierungsparametern, nämlich dem humeralen Offset, dem LSA und DSA und der Medialisierung des Rotationszentrums, signifikante radiologische Unterschiede. Nach Prothesenimplantation war der untere Überhang der Glenosphäre in der nicht lateralisierten Gruppe mit exzentrischen Glenosphären verständlicherweise signifikant höher.
Bezüglich der Rate des Scapular Notchings bestand ein Unterschied zugunsten der lateralisierten Gruppe. Insgesamt wurden nur niedrige Grade des Notchings beobachtet (Grad I und II)16. Die nicht lateralisierte Gruppe hatte bezüglich des Notchings eine doppelt so hohe Quote. Hier ist erneut zu bedenken, dass die nicht lateralisierte Gruppe eine exzentrische Glenosphäre implantiert bekommen hatte. Bei 2 Patienten der Gruppe L wurde ein Notching II. Grades beobachtet; in Gruppe G lediglich Notching I. Grades, dieses jedoch bei 50% der Patienten.
Conclusio
Durch Minimierung anatomischer und radiologischer Störfaktoren konnten wir einen möglichst genauen Vergleich zwischen einem Grammont-Design und einem lateralisierten Design realisieren. Unsere Daten bestärken die Hypothese, dass die Implantation einer inversen Prothese mit einer Schaft-Hals-Inklination von 135° und einer lateralisierten Glenosphäre im Vergleich zu einer nicht lateralisierten Prothese mit exzentrischer Glenosphäre eine bessere Rotation, vor allem eine bessere Aussenrotation, und weniger Scapular Notching ermöglicht. Die nicht lateralisierte Gruppe zeigte eine Abnahme der Aussenrotation um 2° nach der Prothesenimplantation, wohingegen die Aussenrotation in der lateralisierten Gruppe bei der abschliessenden Nachuntersuchung nach 2 Jahren um 27% zunahm. Der Unterschied in der postoperativen Aussenrotationsbewegung zwischen den beiden Gruppen war auf einen Unterschied in der aktiven Bewegung zurückzuführen (siehe Abb. 2). Die Outcome-Scores der Patienten zeigten keinen signifikanten Unterschied. Beide Patientengruppen zeigten sich sehr zufrieden und verzeichneten eine signifikante Verbesserung der Schulterfunktion.
Die Inhalte dieses Artikels waren Thema beim Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU), 26.–29. Oktober 2021, Berlin
Literatur:
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