Mythos und Tatsachen der Knochenverlängerung

Die Wiederherstellung eines tragfähigen Knochens nach Segmentverlust und der Ausgleich von Achsenfehlstellungen und Extremitätenverkürzungen werden durch die Methode der Kallusdistraktion ermöglicht. Hierbei spielen neben extrinsischen auch intrinsische Faktoren eine wesentliche Rolle. Anhand eines plakativen Falles werden die Grenzen einer schwierigen Beinrekonstruktion erläutert.

Das chirurgische Verfahren der Knochenverlängerung wird als Kallusdistraktion bezeichnet. Dabei wird der Knochen durchtrennt. Anschließend werden die Knochenenden kontrolliert auseinandergezogen. In dem sich bildenden Distraktionsspalt entsteht Kallus, der sich zu neuem Knochengewebe umformt. Die Zielgruppe für Knochenverlängerungen sind Patienten, die unfallbedingt irreparable Knochenschäden und/oder angeborene Arm- bzw. Beinlängendifferenzen aufweisen. Des Weiteren wird auch die kosmetische Beinverlängerung propagiert. Ebenso profitieren kleinwüchsige Menschen von der Kallusdistraktion.

In den letzten Jahren hat sich die Verlängerungstechnik der langen Röhrenknochen komplett gewandelt. Neue Implantate haben zu einem Paradigmenwechsel von externen, klobigen Rahmen zu den intramedullären Teleskopnägeln geführt. Diese beruhen auf mechanischen Ratschen-, Elektromotor-betriebenen und Servomotor-betriebenen Verlängerungsnägeln. Beim Letztgenannten wird über ein externes Steuergerät der Nagel verlängert.

An der Knochenbiologie hat sich bekanntermaßen nichts geändert. Die Grundprinzipien sind weiterhin zu beachten. Diese sind: eine Ruhephase nach der Knochendurchtrennung von 5–7 Tagen und anschließend eine Verlängerung von maximal einem Millimeter pro Tag. Zu beachten ist jedoch auch, dass die Regeneratbildung und -reifung noch durch weitere patientenabhängige Faktoren beeinflusst werden. Hierzu zählen unter anderem Patientenalter, Gefäßsituation, lokaler Weichteilzustand, Nebenerkrankungen und vor allem Nikotinabusus.

Fallbeschreibung

Nachfolgend wird die erfolgreiche Behandlung eines Patienten vorgestellt, bei dem alle negativen Voraussetzungen einer Beinverlängerung gegeben waren und letztlich eine Unterschenkelamputation im Raum stand.

Der 58-jährige Arbeiter stürzte von der Leiter und zog sich einen 2° offenen distalen Unterschenkelbruch zu, der am Unfalltag in offener Wunde eingerichtet und mittels Platte und Schrauben stabilisiert wurde. Zusätzlich wurde ein externer Rahmen im Bereich des Sprunggelenkes montiert. Trotz mehrerer operativer Revisionen und Anwendung von Stoßwellentherapie während der nächsten 20 Monate wurde der Betroffene mit einer bestehenden fistelnden Pseudarthrose zum Hausarzt zur zweimal wöchentlich durchzuführenden lokalen Wundbehandlung aus der Spitalsbehandlung entlassen. Im Rahmen einer Begutachtung nach 2 Jahren zeigte sich der in den klinischen Bildern und Röntgenaufnahmen dokumentierte Befund (Abb.1).

Abb. 1: Präoperativer radiologischer und klinischer Ausgangsbefund im Frühjahr 2015 mit osteomyelitischer fistelnder distaler Unterschenkelpseudarthrose. Der Pfeil zeigt auf die freiliegende infizierte Tibia

Nach ausführlichen Gesprächen mit dem in der Zwischenzeit 60-jährigen Betroffenen erfolgte die operative Versorgung der in O-Bein-Stellung infizierten distalen Unterschenkelpseudarthrose mit Korrektur der Fehlstellung, Stabilisierung mit einem Ringfixateur und Bohrdrahtung der Wadenbeinosteotomie. Es resultierte jedoch eine Beinverkürzung von 7cm (Abb.2), die 7 Monate später mit einer Oberschenkelosteotomie und einem retrograden Teleskopnagel korrigiert wurde. Die Implantation erfolgte über das Knie, da beim Betroffenen eine iliofemorale Gefäßprothese vorlag. Bei gleichzeitiger Oberschenkelverlängerung und lokaler Unterdruckbehandlung im Bereich der rechten körperfernen innenseitigen Unterschenkelfistel wurde die Beinlängendifferenz ausgeglichen und der Hautdefekt geheilt.

Abb. 2: Klinischer und radiologischer Befund im Frühjahr 2016 (Beinverkürzung 7cm)

Im weiteren Verlauf kam es zum Schraubenbruch im Bereich der Platte am Außenknöchel und zur Hautperforation des distalen Plattenendes. Es wurde daher zunächst die Platte problemlos entfernt. In der Folge trat eine Varusfehlstellung im Bereich der distalen nicht geheilten Unterschenkelpseudarthrose auf. Im Alter von 62 Jahren erfolgte als letzter Eingriff eine retrograde Sprunggelenksarthrodese, welche nach einem weiteren Jahr knöchern konsolidierte, bei einem intakten unauffälligen Hautmantel. Nach 5 Operationen und 4 Jahren Therapie war letztlich das Behandlungsziel erreicht und die Behandlung erfolgreich abgeschlossen (Abb.3). Zu diesem Zeitpunkt war der Betroffene voll belastend ohne Gehhilfe gut mobil, wobei jedoch der Kniegelenksspalt im Vergleich zur Gegenseite um 6cm nach körperfern verschoben war, bedingt durch die Oberschenkelverlängerung.

Abb. 3: Klinischer und radiologischer Endbefund im Frühjahr 2020

Diskussion

Gerade die intrinsischen Faktoren sind von der individuellen Konstellation des Patienten abhängig und beeinflussen die Knochenverlängerung. Unter anderem wird das Patientenalter als limitierender Faktor der Kallusdistraktion angeführt (Hamanishi 1994). In einer eigenen Studie zeigte sich jedoch, dass die Knochenheilung auch im fortgeschrittenen Alter gut möglich ist, allerdings dauert die Aushärtungsphase des neu gebildeten Kallus länger. Unser ältester Patient war 74 Jahre alt, eine Kallusdistraktion von 4,2cm an der Tibia konnte erfolgreich durchgeführt werden.

Die Vaskularität des umgebenden Weichteilmantels ist ohne Zweifel die Voraussetzung für eine erfolgreiche Knochenverlängerung. Im vorliegenden Fall wurde eine innovative Methode der Osteomyelitisbehandlung angewendet. Hierbei wurde die infizierte distale Tibia verkürzt und ipsilateral der Oberschenkel verlängert. Diese Behandlungsmethode erfordert jedoch eine umfangreiche Aufklärung, da die Kniegelenkslinie verschoben wird. Funktionell ist jedoch nur eine geringe klinische Einschränkung zu beobachten. Der große Vorteil dabei ist die Verlängerung an einem gesunden und nicht vorgeschädigten Knochen.

Letztlich wird der Nikotinkonsum als wesentlicher Ausschließungsgrund für die Knochenverlängerung postuliert. In der eigenen Patientenstudie waren 40% der Patienten Raucher mit einem Konsum von bis zu 20 Zigaretten pro Tag. In allen Fällen wurde eine Knochenverlängerung bis zu 5,2cm erfolgreich erzielt. Die Nikotinabhängigkeit ist bedauerlicherweise eine Volkskrankheit. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass eine erfolgreiche Frakturbehandlung auch bei Rauchern möglich ist.

Anhand dieses Einzelfalles soll aufgezeigt werden, dass mit ausreichender Erfahrung in der Kallusdistraktion und mit viel Einfühlungsvermögen festgeschriebene Fakten der Knochenverlängerung widerlegt werden können. Ohne Zweifel handelt es sich dabei um einen „Borderline“-Fall. Dem Betroffenen wurde im Erstbehandlungskrankenhaus die Unterschenkelamputation als zielführender Lösungsansatz angeboten. Der große Vorteil des Knochengewebes ist – ähnlich wie bei der Haut – seine lebenslange Regenerationsfähigkeit. Heute wird in der Frakturbehandlung routinemäßig der geriatrische Patient mit seinem Speichen- und/oder Hüftbruch erfolgreich behandelt und somit haben sich auch im Rahmen der Kallusdistraktion die Grenzen des Möglichen wesentlich erweitert.

Die chirurgische Knochenverlängerung per se ist einfach! Trotzdem erfordert sie in der oft langwierigen Behandlung ein gutes Zusammenspiel von Arzt und Patient. Dies ist letztlich die Voraussetzung dafür, diese zeitaufwendigen Behandlungen durchführen zu können.

Zuletzt darf ich den Betroffenen selbst zitieren: „Es war die Rettung meines Beines in letzter Sekunde!“

beim Verfasser

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