Autismus: Neuerungen mit der ICD-11
Autorin:
PD Dr. med. Helene Haker
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Institut für Biomedizinische Technik
Universität Zürich
E-Mail: helene.haker@uzh.ch
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Mit der ICD-11 wird weltweit die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung eingeführt. Sie vereint, analog zum DSM-5, den frühkindlichen Autismus und das Asperger-Syndrom. Mit den neuen Diagnosekriterien wird der Fokus vom klinischen Bild deutlich betroffener Kinder neu auf die grosse Breite des Spektrums und die gesamte Lebensspanne ausgeweitet.
Keypoints
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In der ICD-11 werden die bisherigen Diagnosen «frühkindlicher Autismus» und «Asperger-Syndrom» zur «Autismus-Spektrum-Störung» zusammengefasst.
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In den Diagnosekriterien wird neu der Veränderung der Symptomatik und ihrer möglichen Maskierung je nach Entwicklungsstand Rechnung getragen.
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Neu besteht die Empfehlung zur Diagnosestellung auch für Fälle mit erfolgreicher Entwicklung und guten Copingfähigkeiten, deren Einschränkungen sich nicht in oberflächlich sichtbaren, klassisch «autistischen» Auffälligkeiten zeigen.
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ADHS kann neu zusätzlich codiert werden, auch wenn es in diesen Fällen als Teil des primären Störungsbildes zu verstehen ist und nicht als echte Komorbidität.
Im Jahr 1979 wurde der Begriff Autismus in die ICD-9 aufgenommen. Man bezeichnete damit die von Leo Kanner beschriebene schwere Entwicklungsstörung kleiner Kinder, insbesondere Jungen. Mit der Revision zur ICD-10 wurde das Autismuskapitel um das Asperger-Syndrom erweitert. Es handelte sich dabei um die klinisch leichtere Form einer analogen Entwicklungsstörung, die sich durch eine unbeeinträchtigte Sprach- und intellektuelle Entwicklung abgrenzte. Gleichzeitig wurde die bisherige Diagnose Autismus in «frühkindlicher Autismus» umbenannt. Da immer deutlicher wurde, dass die Grenzen zwischen diesen beiden Diagnosen fliessend sind und dem Störungsbild ein gemeinsamer Nenner zugrunde zu liegen scheint, wurden sie bereits 2013 im DSM-5 zur Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst, was nun per 2022 auch in der ICD umgesetzt wurde.
In der Erwachsenenpsychiatrie betrachtete man bis in die 2000er-Jahre das Phänomen Autismus nur aus der Ferne, da man es primär in der Kinderpsychiatrie oder der Behindertenmedizin ansiedelte. Filme wie «Rain Man» prägten das öffentliche Bild dieser Diagnose. Mit dem Erwachsenwerden der ersten, in den 1990er-Jahren diagnostizierten Kinder und Jugendlichen mit Asperger-Syndrom wurde langsam die breite Varianz des klinischen Bildes bei Erwachsenen sichtbar, da ein Teil der Betroffenen bemerkenswerte Entwicklungen zeigte. Immer öfter erkannten sich auch ältere Erwachsene in den Beschreibungen der sogenannten «Aspies», der in den 2010er-Jahren aufkommenden Selbstbezeichnung Asperger-Betroffener, wieder und forderten eine nachträgliche Diagnose. Die Diagnosehäufigkeit nahm stark zu und forderte neue Erklärungsmodelle, um die verschiedenen Formen unter einen Hut zu bringen: das eine Ende der Verteilung, das mit schwerster Behinderung einhergeht, und das andere Ende, bei dem die Personen dank leichterer Betroffenheit, ihres hohen Entwicklungsstands und eines grossen Copingaufwands nicht selten höchste Leistungen erbringen.
Aktuelles Erklärungsmodell
Das heutige Autismusverständnis hat sich von der symptomorientierten Betrachtung mit Fokus auf den sozialen Störungen zu einer auf den Pathomechanismus gerichteten Perspektive gewandelt, die von einer erschwerten Reizverarbeitung als Kern der Störung ausgeht. Diese ordnet die sozialen Symptome als Folgen des veränderten Verstehens und Reagierens auf die Umweltreize ein. Diese Schwierigkeiten zeigen sich in dynamischen (z.B. sozialen) Situationen besonders ausgeprägt und schaffen so die Illusion von Autismus als einer primär sozialen Störung.
Aktuelle Theorien der kognitiven Informationsverarbeitung postulieren, dass unser Gehirn aus der Unschärfe und Mehrdeutigkeit sensorischer Reize, dank mentaler Repräsentationen von wahrscheinlichen Erklärungen der Welt, Sinn generieren könne. Diese Repräsentationen kann man auch als Modell der Welt oder als Vorwissen, Annahmen oder Erwartungen bezeichnen. Wir gehen davon aus, dass dieses Wissen in unserem Kortex hierarchisch repräsentiert ist: von Abbildungen des Hier und Jetzt in den primären sensorischen Arealen über Zusammenhänge in grösseren räumlichen und zeitlichen Dimensionen in den multimodalen und assoziativen Arealen bis hin zur Repräsentation generalisierter, abstrakter Prinzipien und Motive in den spät ausreifenden höheren (z.B. frontalen) Arealen.
Dieses innere Modell reift dank sinnvoller Integration relevanter Information aus dem konstanten Strom an Sinnesreizen über die Zeit, indem es seine Vorhersagen immer wieder mit den aktuellen Gegebenheiten der Welt abgleicht. Je differenzierter dieses Modell ausgereift ist, d.h., je reicher der Erfahrungsschatz eines Menschen ist, umso gelassener kann er der Welt gegenübertreten. Er ist intuitiv darauf vorbereitet, eine neue Situation zu verstehen und darauf zu reagieren.
Gerät dieses sowohl strukturell wie funktionell höchst komplexe System der Reizverarbeitung ausser Balance, hat das nicht nur kurzfristige, sondern je nach Zeitpunkt und Dauer der Störung Auswirkungen auf die gesamte Entwicklung des betroffenen Menschen.
Wir gehen heute davon aus, dass dem Autismus eine angeborene Dysbalance mit Übergewichtung sensorischer Information gegenüber bestehendem Vorwissen zugrunde liegt. Dies führt kurzfristig zu einer Überforderung durch mangelnde Reizfilterung und verminderte Orientierung im Hier und Jetzt. Langfristig erschwert es die Reifung der mentalen Repräsentation des Selbst und der Welt und behindert die intuitive Handlungssteuerung, insbesondere in ungewohnten und unvorhergesehenen Situationen.
Entwicklungsperspektive
Die langfristigen Folgen dieser angeborenen Dysbalance führen zu einer Inhomogenität des Welt- und Selbstbilds in Abhängigkeit von individuellen Lebenserfahrungen. Bekanntes ist überscharf repräsentiert, Noch nicht Erlebtes aufgrund mangelnder Generalisierung von Erfahrungen gar nicht vorstellbar. Dies wiederum begünstigt eine einseitige Weiter-Exploration der Umwelt, was die Inhomogenität verstärkt.
Abhängig von der primärenSchwere der Dysbalance, der Intelligenz, Förderung, dem Lebenskontext, aber auch von Temperament oder Neugier können durch dieses pathomechanistische Erklärungsmodell die grosse klinische Varianz individueller Entwicklungspfade unddie unterschiedlichen Fähigkeiten, das Leben zu bewältigen, verständlich werden. Insbesondere wird damit klar, wie das scheinbar nichtautistische (d.h. nicht weltabgewandte) Auftreten bei oberflächlich unauffälliger Interaktion von begabten und sozial interessierten Betroffenen zustande kommen kann: durch intensive Beschäftigung mit anderen Menschen und regelmässige Exposition in sozialen Kontexten.
Auch wenn sich dank intensiver Lernbemühungen Handlungsspielräume für Betroffene erschliessen, und ihr Verhalten an der Oberfläche weniger auffällt, so bleibt die Informationsverarbeitung lebenslang eine besondere. Und der Umgang mit Unbekanntem und Mehrdeutigem hat unverändert Irritation und Ratlosigkeit zur Folge. Die chronische Stressbelastung und Verausgabung durch Copinganstrengungen bei der Alltagsbewältigung führen regelmässig zu psychiatrischen Folgeerkrankungen (Depression, Angst- oder Essstörung, Sucht etc.).
All diese neuen Erkenntnisse haben dazu beigetragen, dass die früher recht eng auf sichtbare Symptome beschränkten diagnostischen Kriterien, die auf viele hochfunktionale Betroffene nur schwer anzuwenden waren, in der ICD-11 weiter gefasst wurden.
Neuerungen
Das neue Kapitel Autismus-Spektrum-Störung (ASS, Autism spectrum disorder, ICD-11 6A02) ist unverändert in das Kapitel Entwicklungsstörungen eingeordnet (Neurodevelopmental disorders). Notwendige Diagnosekriterien sind folgende: erstens die Auffälligkeit in der Kommunikation und Interaktion, zweitens restriktive, repetitive und inflexible Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten, drittens der Beginn in der Entwicklungsphase (üblicherweise Kindheit ) und viertens die daraus resultierenden bedeutende Einschränkungen.
Die wesentliche Änderung – neben der Einführung des Spektrumskonzepts – besteht darin, dass in allen vier Kriterien jeweils erwähnt ist, dass Entwicklungsstand, Lebensumstände und Coping zu einer Maskierung der sichtbaren Auffälligkeit führen können. Solange bedeutsame Einschränkungen vorhanden sind (Kriterium 4), die sich in solchen Fällen üblicherweise in Form psychiatrischer Folgeerkrankungen äussern, ist neu explizit empfohlen, bei Vorliegen der typischen kognitiven Struktur, auch ohne offensichtlich als autistisch imponierende Symptomatik, eine ASS-Diagnose zu stellen.
Weitere Ausführungen im Kapitel 6A02 beziehen sich auf Angaben zum Geschlechterverhältnis, zu unterschiedlichen Verläufen, zur Abgrenzung zum «Normalen» und zu unterschiedlichen Präsentationsformen nach Entwicklungsstufen. Mit sogenannten «Specifiers» kann zusätzlich codiert werden, ob die Störung jeweils mit oder ohne Sprach- resp. intellektuelle Beeinträchtigung vorliegt.
Kurz gesagt, wurde der Fokus der Diagnosekriterien vom klinischen Bild deutlich betroffener Kinder auf die grosse Breite des Spektrums und die gesamte Lebensspanne ausgeweitet.
Konsequenzen für die Praxis
Es wird sich zeigen, wie stark sich die Ausweitung auf die Prävalenzzahlen auswirken wird. Im Wesentlichen entspricht die Ausweitung des diagnostischen Blicks auf maskierte Fälle bereits der gängigen klinischen Praxis, zumindest unter Autismus-Fachleuten.
Eine weitere Neuerung ist, dass Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störungen (ICD-11 6A05) gleichzeitig zu einer ASS-Diagnose kodiert werden dürfen. Es ist jedoch zu beachten, dass Aufmerksamkeitsstörungen in unterschiedlicher Form Teil der Reizverarbeitungsstörung bei ASS sind und damit nicht als Komorbidität, sondern einfach als spezifische klinische Variante zu betrachten sind. Um diese und den sich daraus ergebenden Therapiebedarf möglichst präzise abzubilden, kann es sich jedoch lohnen, die beiden Diagnosen gemeinsam aufzulisten.
Man mag sich fragen, was der Sinn ist, eine bisher hinter Folgeerkrankrungen maskierte ASS neu zu diagnostizieren. Der Sinn liegt einerseits darin, den Betroffenen eine Erklärung für ihr Anderssein und das daraus resultierende Leiden anzubieten. Andererseits bietet das oben skizzierte pathomechanistische Erklärungsmodell neue Ansätze für die (v.a. psycho- und milieutherapeutische) Behandlung und Begleitung.
In diesem Sinne lohnt es sich, bei chronisch psychisch Kranken, bei denen gängige Therapieansätze ungenügend greifen, die Frage nach einer möglicherweise zugrunde liegenden ASS zu stellen. Eine allfällige Diagnosestellung kann nicht nur eine über die Jahre angewachsene Liste symptomatischer Diagnosen bereinigen, sondern auch allen Beteiligten neue Perspektiven eröffnen.
Zur ICD-11
Die International Classification of Diseases (ICD) erhielt zu Beginn diesen Jahres eine neue, mittlerweile 11. Auflage. Nähere Informationen und Tools zur Implementierung finden Sie hier: https://icd.who.int/en/ .
Literatur:
● World Health Organization: International Classification of Diseases. Eleventh Revision (ICD–11) 2019/2021; https://icd.who.int/browse11 ● Weiterführende Literatur zitiert in Haker et al.: Can Bayesian Theories of Autism Spectrum Disorder Help Improve Clinical Practice? Front Psychiatry 2016; 7: 107: online: http://journal.frontiersin.org/article/10.3389/fpsyt.2016.00107/full
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