Ein verhaltenstherapeutisches Behandlungsprogramm für Insomnie bei Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen
Autoren:
Dr. phil. Elisabeth Hertenstein
Carlotta Schneider, MSc
Prof. Dr. med. Christoph Nissen
Universitäre Psychiatrische Dienste (UPD), Universität Bern
Korrespondierende Autorin:
Dr. phil. Elisabeth Hertenstein
E-Mail: elisabeth.hertenstein@upd.ch
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Einschlafstörungen oder Durchschlafstörungen (insomnische Störungen) sind bei Patienten mit psychischen Erkrankungen häufig und verschlechtern die Leistungsfähigkeit, den Verlauf psychischer Erkrankungen sowie die Lebensqualität. Die kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie (KVT-I) ist zur Behandlung von Insomnie auch bei Patienten mit komorbiden psychischen Erkrankungen effektiv, wird jedoch insbesondere in der Akutpsychiatrie unzureichend eingesetzt. SLEEPexpert ist ein verhaltenstherapeutisches Programm, basierend auf KVT-I, das in Bern für Patienten mit akuten psychiatrischen Erkrankungen entwickelt wurde.
Keypoints
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Bis zu 70% der Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen leiden unter Ein- und Durchschlafstörungen, bei etwa 30% sind die Diagnosekriterien einer chronischen Insomnie erfüllt.
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Gerade im akutpsychiatrischen Setting werden Schlafstörungen häufig pharmakologisch behandelt. Dies steht im Widerspruch zu den aktuellen Behandlungsleitlinien, die empfehlen, dass eine Insomnie auch bei Patienten mit komorbiden psychischen Erkrankungen im ersten Schritt verhaltenstherapeutisch zu behandeln ist.
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SLEEPexpert ist ein verhaltenstherapeutisches Programm, das die Verhaltenstherapie für Insomnie für Patienten im akutpsychiatrischen Setting anpasst und leichter zugänglich machen soll.
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Eine Pilotstudie zeigt die Durchführbarkeit des Programms und liefert erste Hinweise auf dessen Effektivität. Eine randomisiert-kontrollierte Studie wird aktuell durchgeführt.
Hintergrund
Psychische Störungen haben eine hohe Prävalenz in der Gesamtbevölkerung und gehen oft mit einer deutlich reduzierten Leistungsfähigkeit und Lebensqualität einher (Demyttenaere et al., 2004).1 Innerhalb eines Jahres erkranken etwa 12% der europäischen Bevölkerung an einer psychischen Störung, wobei Depressionen und Angststörungen am häufigsten sind (Demyttenaere et al., 2004).1 Die Mehrzahl der Patienten mit einer psychischen Erkrankung leidet auch unter Schlafstörungen. Bei fast 70% kommt es zu Ein- und Durchschlafstörungen (Seow et al., 2018).2 Die Kriterien für eine Insomnie, das heisst anhaltende Ein- oder Durchschlafstörungen mit hierdurch beeinträchtigter Tagesbefindlichkeit, sind bei etwa einem Drittel erfüllt (Seow et al., 2018).2 Schlafstörungen führen zu einem zusätzlichen Leidensdruck und können auch den Verlauf der psychischen Erkrankung negativ beeinflussen (Seow et al., 2018).2
Oft ist nicht auf den ersten Blick klar, ob die psychische Problematik der Auslöser für die Schlafstörungen ist oder ob der schlechte Schlaf die psychische Erkrankung mit ausgelöst hat. Beide Richtungen sind denkbar: Viele psychische Symptome wie Angst, Grübeln, Unruhe oder übermässiger Substanzkonsum können den Schlaf stören. Jedoch ist auch die umgekehrte Richtung häufig: Menschen, die unter einer Schlafstörung leiden, haben ein erhöhtes Risiko, im Verlauf eine Depression oder eine andere psychische Erkrankung zu entwickeln (Baglioni et al., 2011; Hertenstein et al., 2019).3, 4
Die Diagnosekriterien für eine Insomnie sind erfüllt, wenn Ein- oder Durchschlafstörungen mindestens dreimal pro Woche auftreten, zu einer Beeinträchtigung der Befindlichkeit oder der Leistungsfähigkeit führen und dies für einen Zeitraum von mindestens drei Monaten anhält (American Psychiatric Association, 2013).5 Meist besteht bei Patienten mit Insomnie zusätzlich eine ausgeprägte Sorge um den Schlaf und die Folgen der Schlafstörungen. Eine Insomnie kann mit kognitiver Verhaltenstherapie (KVT-I) gut behandelt werden (Riemann et al., 2017).6 Die KVT-I ist bei Patienten mit Insomnie ohne weitere Erkrankungen und auch bei Patienten, die sowohl unter psychischen Erkrankungen als auch unter Insomnie leiden, hilfreich. Etwa 70% der Patienten können gut davon profitieren (Harvey & Tang, 2003).7 Die Studien, die KVT-I bei Patienten mit Komorbidität untersuchten, schlossen jedoch überwiegend ambulante Patienten mit leichterer Komorbidität ein. Studien zur KVT-I im akutpsychiatrischen Setting sind rar.
Kognitive Verhaltenstherapie bei Insomnie (KVT-I)
Die Therapieelemente der KVT-I sind Psychoedukation, Entspannung, Verhaltensmodifikation und kognitive Therapie. In der Psychoedukation werden Informationen über Schlaf vermittelt. Verbreitete «Mythen» in Bezug auf den Schlaf werden aufgeklärt und diskutiert. Beispielsweise braucht nicht jeder Mensch 8 Stunden Schlaf pro Nacht, wie viele annehmen, sondern der Schlafbedarf ist individuell unterschiedlich und kann zwischen 5 und 10 Stunden variieren. Darüber hinaus werden Übungen zur körperlichen und psychischen Entspannung vermittelt, beispielsweise die progressive Muskelrelaxation. Kernelement der KVT-I ist die Modifikation des Schlafverhaltens. Im Rahmen der sogenannten Schlafrestriktion (oder, präziser, Bettliegezeitrestriktion) wird mithilfe eines Schlaftagebuchs sowohl die durchschnittliche Bettliegezeit als auch die durchschnittliche Schlafzeit ermittelt. Liegt die Liegezeit deutlich über der Schlafzeit, so wird den Patienten empfohlen, die Zeit im Bett zu reduzieren, also später zu Bett zu gehen oder früher aufzustehen. Ziel ist es, den Schlafdruck (die körperliche Schläfrigkeit) zu erhöhen und so das Ein- und Durchschlafen wieder zu erleichtern. Die Liegezeit wird im Verlauf weiter angepasst und schrittweise wieder verlängert. Im Rahmen der kognitiven Therapie werden dysfunktionale Gedanken und Annahmen in Bezug auf Schlaf individuell bearbeitet.
Trotz der gezeigten Effektivität wird die KVT-I insbesondere bei Patienten mit schweren psychiatrischen Erkrankungen noch unzureichend angewendet. In psychiatrischen Kliniken werden Patienten z.B. mit akuter Psychose, Substanzabhängigkeiten oder schweren affektiven Störungen, die unter Insomnie leiden, überwiegend mit sedierender Medikation behandelt. Ein Grund hierfür ist, dass bei diesen Patienten oft kognitive Störungen sowie Störungen der Motivation und des Antriebs vorliegen, die die Umsetzung der komplexen KVT-I erschweren.
SLEEPexpert
Ziel des Projekts SLEEPexpert an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Bern ist es, ein pragmatisches, angepasstes verhaltenstherapeutisches Programm zu entwickeln, das auf KVT-I basiert und bei Patienten mit akuten psychischen Störungen im stationären Behandlungssetting durchführbar und wirksam ist.
Das SLEEPexpert-Interventionsprogramm wurde im Rahmen eines implementationswissenschaftlichen Prozesses entwickelt. Hierbei wurden Patienten und Behandlungsteams der Klinik in Interviews danach befragt, welche Rolle Schlafstörungen ihrer Meinung nach spielen, wie diese aktuell behandelt sind, welche Schwierigkeiten es gibt und welche Veränderungen gewünscht sind. Das Resultat des Implementationsprozesses ist ein verhaltenstherapeutisches Programm («Become your own SLEEPexpert!», «Werde dein eigener SCHLAFexperte!»), das darauf abzielt, Patienten in die Lage zu versetzen, ihren Schlaf selbst besser zu managen. SLEEPexpert fokussiert dabei insbesondere auf die Schlafrestriktion als Kernintervention. Die Schlafrestriktion wurde als Kernintervention gewählt, da bekannt ist, dass sie auch als alleiniges Behandlungselement bei Insomnie effektiv ist (Miller et al., 2014),8 während dies z.B. bei der progressiven Muskelentspannung nicht der Fall ist. Im Rahmen der Intervention werden Bilder und Metaphern genutzt, um komplexe Inhalte möglichst einfach zu vermitteln.
Ziel ist es, dass möglichst viele Patienten im akutpsychiatrischen Setting an dem Programm teilnehmen können, weshalb die Ein- und Ausschlusskriterien überschaubar gehalten werden. Alle Patienten mit akuter oder chronischer Insomnie können teilnehmen, solange die psychiatrische Erkrankung nicht mit Einschränkungen einhergeht, die die Teilnahme unmöglich machen (z.B. Mutismus, Katatonie, schwerste formalgedankliche Störung). SLEEPexpert wird in drei Phasen durchgeführt:
Phase 1
Indikationsstellung und Initiation durch Psychotherapeut oder Arzt. Zunächst findet eine Gruppensitzung statt, in der die Grundlagen der Schlafrestriktion vermittelt werden. Die Gruppe wird von einem Psychotherapeuten oder Arzt geleitet. Patienten lernen unter anderem, dass Schlaf durch zwei Prozesse reguliert wird: den Schlafdruck und die Chronobiologie. Nachfolgend wird mit jedem Patienten ein optimales initiales Schlaffenster erarbeitet und verordnet. Typischerweise wird das Schlaffenster im Vergleich zum üblichen Verhalten verkürzt, um den Schlafdruck zu erhöhen. Ausserdem wird das Schlaffenster soweit möglich dem persönlichen Chronotyp angepasst – das heisst, je nach Präferenz kann eher ein frühes Schlaffenster, beispielsweise von 23–5 Uhr, oder ein spätes Schlaffenster von 1–7 Uhr gewählt werden.
Phase 2
Eigenmanagement mit Coaching. Im Anschluss an die Gruppensitzung führen die Patienten täglich ein vereinfachtes Schlaftagebuch, in das sie ihre Bettgeh- und Aufstehzeiten, Schlafzeiten und ihre Schlafqualität eintragen. Mehrmals pro Woche finden kurze Treffen mit dem Pflegepersonal statt, in denen das Schlaftagebuch gemeinsam ausgewertet wird. Hier werden die Patienten geschult, ihr Schlaffenster anzupassen. Das heisst, je nach Schlafqualität kann das Schlaffenster weiter verkürzt, beibehalten oder verlängert werden.
Phase 3
Eigenmanagement. In der dritten Phase werden das Auswerten des Schlaftagebuchs und das Anpassen des Schlaffensters von den Patienten ins Eigenmanagement übernommen.
In einer Pilotstudie wurde SLEEPexpert mit 21 Patienten auf zwei verschiedenen Stationen der Klinik durchgeführt (Schneider et al., in press).9 Fünfzehn Patienten haben das Therapieprogramm und die Evaluation abgeschlossen. Tabelle 1 zeigt die Charakteristika der Stichprobe und verdeutlicht, dass es sich um schwer kranke Patienten handelt.
Tab. 1: Demografische und klinische Charakteristika der Patienten
Die Ergebnisse zeigen, dass das Programm in der Zielgruppe durchführbar ist, und liefern erste Hinweise auf die Effektivität. Im Interventionszeitraum konnte die Bettliegezeit um 60 Minuten reduziert werden, was zeigt, dass die Patienten zum Programm adhärent waren (Bettliegezeit prae 520±105,3 Minuten, Bettliegezeit post 460±78,1, p=0,031, d=0,6). Gleichzeitig erhöhte sich die Schlafzeit um 45 Minuten (Schlafzeit prae 331±110,6, Schlafzeit post 375±74,6, p=0,09, d=0,5). Der Schweregrad der Insomnie, gemessen mit dem Insomnie-Schweregradindex, sank signifikant (p<0,001, d=1,2). Die Hauptergebnisse der Studie sind in Abbildung 1 dargestellt.
Abb. 1: Ergebnisse der Pilotstudie: SLEEPexpert wurde an zwei verschiedenen Stationen der Klinik durchgeführt (nach Schneider CL et al., 2021)9
Als Limitation ist anzumerken, dass alle Patienten während der SLEEPexpert-Intervention stationär behandelt wurden, mit täglichen Visiten, Pharmakotherapie, psychotherapeutischen Gesprächen und weiteren Therapien wie z.B. Ergo- und Musiktherapie. Es ist somit nicht auszuschliessen, dass die beobachteten Veränderungen auf die allgemeine Behandlung zurückzuführen sind, und nicht auf SLEEPexpert. Einen gewissen Hinweis auf einen spezifischen Effekt liefert die Beobachtung, dass die eingeschlossenen Patienten im Mittel seit 13,6 Jahren unter Insomnie litten, trotz vielfacher vorangegangener Behandlungen. Um die Wirksamkeit weiter wissenschaftlich zu erforschen, wird aktuell eine randomisiert-kontrollierte Studie durchgeführt. Darüber hinaus werden aktuell Teile der SLEEPexpert-Intervention, u.a. das Schlaftagebuch und das Coaching, im Rahmen einer Online-Anwendung umgesetzt.
Zusammenfassung
Schlafstörungen in Form von Insomnie sind bei Patienten in der Akutpsychiatrie häufig und können den Verlauf psychischer Erkrankungen entscheidend beeinflussen. Gleichzeitig werden Schlafstörungen im akutpsychiatrischen Setting nicht den Leitlinien entsprechend verhaltenstherapeutisch behandelt. SLEEPexpert hat das Potenzial, Schlaf und psychische Gesundheit bei Patienten im akutpsychiatrischen Setting zu verbessern, das Eigenmanagement der Patienten zu stärken und den Einsatz sedierender Medikation zu reduzieren.
Literatur:
1 Demyttenaere K et al., WHO World Mental Health Survey Consortium: Prevalence, severity, and unmet need for treatment of mental disorders in the World Health Organization World Mental Health Surveys. JAMA 2004; 291: 2581-2590 2 Seow LSE et al.: Evaluating DSM-5 insomnia disorder and the treatment of sleep problems in a psychiatric population. J Clin Sleep Med 2018; 14: 237-443 Baglioni C et al.: Insomnia as a predictor of depression: a meta-analytic evaluation of longitudinal epidemiological studies. Journal of Affective Disorders 2011; 135: 10-9 4 Hertenstein E et al.: Insomnia as a predictor of mental disorders: a systematic review and meta-analysis. Sleep Medicine Reviews 2019; 43: 96-105 5 American Psychiatric Association. Diagnostic and statistical manual of mental disorders (DSM-5®). American Psychiatric Pub, Washington D.C.: 2013 6 Riemann D et al.: European guideline for the diagnosis and treatment of insomnia. J Sleep Res 2017; 26: 675-700 7 Harvey AG, Tang NKY: Cognitive behaviour therapy for primary insomnia: Can we rest yet? Sleep Medicine Reviews 2003; 7: 237-62 8 Miller CB et al.: The evidence base of sleep restriction therapy for treating insomnia disorder. Sleep Medicine Reviews 2014; 18: 415-24 9 Schneider CL et al.: Become your own SLEEPexpert: design, implementation and preliminary evaluation of a pragmatic behavioral treatment program for insomnia in inpatient psychiatric care. Sleep Advances (in press)
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