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Eine sorgfältige Auswahl der Antidepressiva ist unerlässlich
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31.10.2019
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<p class="article-intro">Depressionen gelten inzwischen als Volkskrankheit – doch nicht nur in jungem Lebensalter. Gemäss einer Metaanalyse von bevölkerungsbasierten Studien leiden 7,2 % der Menschen über 75 Jahre unter einer Major Depression und 17,1 % unter depressiven Symptomen<sup>1</sup> – in Hausarztpraxen und Pflegeheimen in den Vereinigten Staaten waren es mehr als jeder Dritte<sup>2</sup> beziehungsweise jeder Zweite.<sup>3</sup></p>
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<p class="article-content"><p>Depressionen schränken die Lebensqualität in jedem Lebensalter enorm ein», sagt Prof. Robert Perneczky, Leiter der Sektion für psychische Gesundheit im Alter an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. «Leider gibt es immer wieder Kollegen, die Senioren nicht richtig therapieren. Manche denken, es lohne sich nicht mehr, andere sind übervorsichtig und verschreiben eine viel zu geringe Dosis.»</p> <h2>Angehörige einbinden</h2> <p>Behandelt wird die Depression wie bei Jüngeren: je nach Schweregrad mit Psychotherapie alleine oder in Kombination mit Medikamenten. «Man muss aber noch mehr auf die individuelle Situation des Patienten eingehen», sagt Perneczky. «Etwa auf Begleitkrankheiten, darauf, wie fit der Betroffene ist und in welchem sozialen Umfeld er lebt.» Mit der richtigen Behandlung werden ähnliche Remissionsraten verzeichnet wie bei Jüngeren. Tritt eine erste depressive Episode erst im späteren Alter auf, scheint das eher zur Chronifizierung zu führen.<sup>4</sup> Eine Rolle beim Therapieerfolg könnten die Angehörigen spielen, sagt Perneczky. «Komorbiditäten, Polypharmazie und kognitive Defizite führen oftmals dazu, dass die Betroffenen ihre Medikamente nicht nehmen», sagt der Psychiater. «Ich erkläre den Angehörigen, dass Antidepressiva genauso wichtig sind wie zum Beispiel Antihypertensiva und sie darauf achten sollen, dass der Betroffene sie regelmässig nimmt.»<br /> Leichtere und leichte bis mittelgradige depressive Episoden werden wie bei Jüngeren zunächst mit alleiniger Psychotherapie behandelt. «Kognitive Verhaltenstherapie wirkt bei leicht- bis mittelgradigen Depressionen ähnlich gut wie Antidepressiva, ist aber vor allem bei multimorbiden, gebrechlichen Patienten besser verträglich », sagt Perneczky. Parallel empfiehlt er körperliche Bewegung, Milieutherapie, soziale Aktivierung, alles unter Einbezug der Angehörigen und des unmittelbaren Umfeldes. Medikamente kommen infrage bei einer mittelgradigen bis schweren Depression, verschrieben werden die gleichen Substanzgruppen wie bei Jüngeren. In diversen Studien wurde gezeigt, dass Antidepressiva besser als Placebo wirken.<sup>5–14</sup> Bei Patienten über 65 Jahre scheinen die Medikamente aber nicht so effektiv zu sein wie bei Jüngeren, lässt eine Metaanalyse aus Italien vermuten.<sup>15</sup> Als mögliche Erklärungen wurden geringere Dosierungen in den älteren Studien und die möglicherweise längeren notwendigen Behandlungszeiten bei älteren Menschen diskutiert.</p> <h2>Höheres Risiko für Nebenwirkungen</h2> <p>Zwischen Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRIs) und trizklischen Antidepressiva fanden sich keine Unterschiede bezüglich der Wirksamkeit.<sup>6, 7</sup> Da die Substanzen ähnlich gut wirken, orientiert man sich am Neben- und Wechselwirkungspotential. «Man muss bei der Auswahl ziemlich sorgsam vorgehen», sagt Perneczky. «Ältere Menschen nehmen oft eine Handvoll anderer Präparate, abgesehen davon haben sie per se ein erhöhtes Risiko für Nebenwirkungen.» Bei bestimmten Komorbiditäten, etwa einer Niereninsuffizienz oder einer Leberfunktionsstörung, solle man zudem die Indikation für Antidepressiva gut prüfen. «Das soll dann aber nicht dazu führen, dass eine ansonsten indizierte antidepressive Behandlung unnötig verzögert oder gar unterlassen wird.» SSRIs haben weniger kardiale Nebenwirkungen, nur minimale anticholinerge Effekte, werden insgesamt besser vertragen und die Gefahr tödlicher Überdosierungen ist geringer. Allerdings bergen SSRIs ein Risiko für Stürze und Osteoporose und haben mehr Interaktionen mit anderen Medikamenten.<sup>16, 17</sup> Gemäss der AWMF-Leitlinie<sup>16</sup> können ältere Patienten in gleicher Weise behandelt werden wie Jüngere. Das Nebenwirkungsprofil beziehungsweise die Verträglichkeit sollten jedoch stärker berücksichtigt werden.</p> <h2>SSRIs zu bevorzugen</h2> <p>Wenn man ein trizyklisches Antidepressivum wählt, wird empfohlen, mit einer niedrigeren Anfangsdosis zu beginnen. Es gibt kaum Daten dazu, welche Präparate man am besten Senioren mit körperlichen Begleitkrankheiten verschreibt, zum Beispiel solchen mit koronarer Herzkrankheit, Diabetes, Demenz oder Parkinson. Für viele Ältere, besonders im ambulanten Bereich, seien gemäss Leitlinie oft SSRIs, Moclobemid oder bestimmte neuere Substanzen zu bevorzugen. Anfangen kann man zum Beispiel mit 5 mg Escitalopram oder 15 mg Mirtazapin, die jeweils nach 1–2 Wochen auf 10 mg beziehungsweise 30 mg gesteigert werden, wenn der Patient die Medikamente gut verträgt und die Wirkung noch nicht ausreicht.<br /> Lithiumsalze verursachen bei älteren offenbar öfter neurotoxische Reaktionen als bei jüngeren Patienten, vor allem in Kombination mit anderen Psychopharmaka.<sup>18, 19</sup> Lithium sollte im Alter mit noch grösserer Sorgfalt verschrieben werden als bei jüngeren Patienten, und zwar wegen der geringen therapeutischen Breite und der Gefahr der Überdosierung, zum Beispiel wenn der Patient zu wenig trinkt.<br /> Die Behandlung kann durch kognitive Einschränkungen verkompliziert werden. Ist die kognitive Störung eine Konsequenz der Depression, kann sie sich durch eine antidepressive Behandlung teilweise oder sogar ganz bessern. Eine Depression kann ein Risikofaktor für eine Demenz sein, eine Konsequenz oder eine Begleiterscheinung. Eine Depression kann auch ein frühes Zeichen für einen Rückgang der kognitiven Funktion sein.<sup>20</sup> Hat ein Senior mit Depression eine Demenz, wirken die Antidepressiva möglicherweise nicht so gut.<sup>21, 22</sup> Diese Patienten könnten womöglich stärker von psychosozialen Interventionen, etwa Verhaltens- oder Musiktherapie, profitieren.<sup>23</sup><br /> Eine Herausforderung kann die Behandlung von gebrechlichen Senioren sein. Es ist allerdings noch nicht klar, ob die Gebrechlichkeit Ursache oder Konsequenz der Depression ist oder unabhängig davon parallel dazu auftritt.<sup>24</sup> «Manche missinterpretieren Gebrechlichkeit auch als Depression, was eine überflüssige Medikamentengabe nach sich zieht», sagt Perneczky. «Bei Senioren sollte man sich für Anamnese und Untersuchung noch mehr Zeit nehmen als bei Jüngeren, um solche Übertherapien zu vermeiden.» Bei gebrechlichen Patienten können Nebenwirkungen von Antidepressiva oder Interaktionen mit anderen Medikamenten schwerwiegende Konsequenzen haben, etwa Elektrolytstörungen oder Blutbildveränderungen. «Es schadet nichts, hier die Indikation zur Pharmakotherapie für sich selbst immer wieder zu prüfen.»</p> <h2>Lebensqualität bessert sich spürbar</h2> <p>Es gibt wenige Studien dazu, wie lange die Patienten die Antidepressiva einnehmen sollen. In einer Metaanalyse aus drei Studien mit 925 Patienten reduzierte sich das Risiko für einen Rückfall um 28 % im Vergleich zu Placebo, wenn die Betroffenen mit Antidepressiva, mit einer interpersonellen Therapie – etwa mit Psychotherapie – oder mit einer Kombination von beidem behandelt wurden.<sup>25–27</sup> Bei den übrigen Patienten muss man die Dosis steigern, mit einem Präparat mit anderem Wirkmechanismus kombinieren, auf eine andere Wirkstoffklasse wechseln, mit Lithium, Antipsychotika oder Schilddrüsenhormon augmentieren oder eine zusätzliche nichtmedikamentöse Intervention empfehlen. Eine Erhaltungstherapie mit SSRI oder Trizyklika scheinen ältere Patienten gut zu vertragen. Die Rückfallraten nach drei Jahren betragen rund 1 % <sup>8</sup> – ohne Antidepressivum ist es das Doppelte.<sup>24</sup> Es wird empfohlen, die antidepressive Therapie in der Dosis fortzuführen, die in der Akutphase bei erstmaligem Auftreten der Depression für mindestens ein Jahr wirksam war.<sup>28</sup> Erleidet der Senior eine zweite depressive Episode, sollte man die Therapie über mindestens zwei Jahre unverändert weiterverschreiben, bei drei oder mehr Episoden mindestens drei Jahre oder für das restliche Leben.<br /> Die meisten Senioren, so erlebe er es in seiner Sprechstunde, sprächen gut auf eine Kombination aus Antidepressiva, Psychotherapie und sozialen Massnahmen an, sagt Perneczky. «Die Lebensqualität bessert sich nach einigen Monaten deutlich – das spüren auch die Angehörigen.» Man müsse die Patienten jedoch immer sorgfältig und mit für sie verständlichen Worten über potenzielle Nebenwirkungen aufklären. «Aber natürlich darf man auch die positiven Wirkungen nicht zu erwähnen vergessen», sagt Perneczky. «Viele Patienten oder auch die Angehörigen haben ein schlechtes Bild von Antidepressiva. Ich erkläre ihnen dann: Die Medikamente sind bei fachgerechtem Einsatz ungefährlich und meist gut verträglich. Sie machen nicht abhängig und die meisten Nebenwirkungen vergehen, wenn man das Medikament absetzt. Und die Betroffenen sind meist sehr froh, wenn sie spüren, dass ihre Niedergeschlagenheit verschwindet.»</p></p>
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<p><strong>1</strong> Luppa M et al.: J Affect Disord 2012; 136(3): 212-21 <strong>2</strong> Department of Health and Human Services Administration on Aging. Washington, DC: Administration on Aging: Department of Health and Human Services; 2001 <strong>3</strong> Teresi J et al.: Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 2001; 36(12): 613-20 <strong>4</strong> Alexopoulos GS et al.: Arch Gen Psychiatry 1996; 53: 305-12 <strong>5</strong> Mittmann N et al.: J Affect Disord. 1997; 46(3): 191-217 <strong>6</strong> Wilson K et al.: Cochrane Database Syst Rev 2001; (2): CD000561 <strong>7</strong> Taylor WD et al.: Neuropsychopharmacology 2004; 29(12): 2285-99 <strong>8</strong> Nelson JC et al.: Am J Geriatr Psychiatry 2008; 16(7): 558-67 <strong>9</strong> Sneed JR et al.: Am J Geriatr Psychiatry 2008; 16: 65-73 <strong>10</strong> Tedeschini E et al.: J Clin Psychiatry 2011; 72(12): 1660-8 <strong>11</strong> Kok RM et al.: J Affect Disord 2012; 141(2-3): 103-115 <strong>12</strong> Calati R et al.: J Affect Disord 2013; 147(1-3): 1-8 <strong>13</strong> Nelson JC et al.: Am J Psychiatry 2013; 170(6): 651-9 <strong>14</strong> Thorlund K et al.: J Am Geriatr Soc 2015; 63(5): 1002-9 <strong>15</strong> Tedeschini E et al.: J Clin Psychiatry 2011; 72(12): 1660-8 <strong>16</strong> S3-Leitlinie/NVL Unipolare Depression, 2. Auflage, 2015. Version 5 <strong>17</strong> Kok RM et al.: JAMA 2017; 317(20): 2114-22 <strong>18</strong> Mavrogiorgou P, Hegerl U; in: Müller-Oerlinghausen B, Greil W, Berghöfer A, editors: Die Lithiumbehandlung. Berlin: Springer; 1997. p329-41 <strong>19</strong> Böker H et al.: Psychiatr Prax 2007; 34(1): 38-41 <strong>20</strong> Bennett S, Thomas AJ: 2014; 79(2): 184-90 <strong>21</strong> Banerjee S et al.: Lancet 2011; 378(9789): 403-11 <strong>22</strong> Nelson JC et al.: J Am Geriatr Soc 201159(4):577-85 <strong>23</strong> Vernooij-Dassen M et al.: Int Psychogeriatr 2010; 22(7): 1121-8 <strong>24</strong> Borges S et al.: J ClinPsychiatry 2014; 75(3): 205-14 <strong>25</strong> Reynolds CF et al.: JAMA 1999; 281(1): 39-45 <strong>26</strong> Reynolds CF et al.: N Engl J Med 2006; 354(11): 1130-8 <strong>27</strong> Kok RM et al.: Am J Geriatr Psychiatry 2011; 19(3): 249-55 <strong>28</strong> Alexopoulos GS et al.: Postgrad Med 2001. Spec No Pharmacotherapy: 1-86</p>
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