
Management von Patienten mit Doppeldiagnosen in der Substitutionsbehandlung
Autor:
Dr. med. Jamil El Kasmi
Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik
Reutlingen
E-Mail: jamil.elkasmi@pprt.de
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Ein erheblicher Anteil substituierter Patienten hat neben der Abhängigkeitsdiagnose mindestens eine weitere psychiatrische Diagnose. Der Umgang mit diesen Erkrankungen, die (psycho-) pharmakologische Mitbehandlung, die psychosoziale Beratung und die Unterstützung im Alltag sind aufgrund dieser Komorbidität immer wieder eine Herausforderung für alle an der Suchthilfe Beteiligten. Daher kann eine Substitutionsbehandlung über multiprofessionelle Schwerpunktpraxen oder Substitutionsambulanzen psychiatrischer Kliniken eine Verbesserung der Lebenssituation dieser Patienten bedeuten.
Keypoints
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Patienten mit Doppeldiagnosen bedürfen einer gut abgestimmten Behandlung, die integrativ und flexibel aufgebaut ist.
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Substitutionstherapie und psychiatrische Behandlung ergänzen sich und können zu einer verbesserten Lebensqualität und Behandlungszufriedenheit bei Patienten führen.
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Die Entwicklung einer «sozialen Suchtpsychiatrie» mit dem Aufbau vergleichbarer Strukturen, wie sie in der Gemeindepsychiatrie schon lange bestehen, ist eine unbedingte Notwendigkeit im Management von Doppeldiagnosepatienten in der Substitution.
Situation der Substitution in Deutschland
Nach vielen Jahrzehnten, in denen die Behandlung von Menschen mit einer Opioidabhängigkeit quasi nicht stattgefunden hatte bzw. als Therapieziel nur eine unbedingte Abstinenz verfolgt worden war, wurde im Jahr 1992 durch eine Veränderung des Betäubungsmittelgesetzes die Substitutionsbehandlung für Opioidabhängige rechtmässig möglich. In den ersten 10 Jahren war eine Substitutionsbehandlung nur durchführbar, wenn eine weitere psychiatrische oder somatische Erkrankung vorlag. Seit 2002 kann die Substitutionsbehandlung auch ohne weitere psychiatrische oder somatische Krankheiten erfolgen (Bundesopiumstelle – aus der BtMVV/BtMG). Im Laufe der ersten Jahre stieg die Anzahl der substituierenden Ärzte fast zeitgleich mit der Anzahl der zu substituierenden Patienten kontinuierlich an. In den letzten 10 bis 15 Jahren kam es dagegen zu einer gegensätzlichen Entwicklung: Während die Anzahl der substituierenden Ärzte abnahm, stieg die Zahl der Patienten unter Substitutionstherapie weiter an (Abb. 1). Erst in den letzten 3 Jahren ist es zu keiner weiteren Reduktion der Anzahl substituierender Ärzte gekommen. Allerdings ist zumindest in Deutschland davon auszugehen, dass es in den nächsten 5–10 Jahren, insbesondere aufgrund des altersbedingten Ausscheidens vieler substituierender Ärzte, zu einer massiven Unterversorgung opioidabhängiger Patienten kommen wird.
In Deutschland führt dies dazu, dass immer weniger Ärztinnen und Ärzte eine stetig steigende Zahl an opioidabhängigen Patienten mit Substitutionstherapie versorgen müssen. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, haben es sich sogenannte Schwerpunktpraxen und Substitutionsambulanzen psychiatrischer Kliniken zur Aufgabe gemacht, die Lücke in der Versorgung dieser Patienten nicht noch grösser werden zu lassen und die Behandlung der opioidabhängigen Patienten zu verbessern.
In Reutlingen (Grossstadt in Baden-Württemberg mit ca. 280000 Einwohnern) und dem dazugehörigen Landkreis gibt es neben der 2018 eröffneten Substitutionsambulanz der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik Reutlingen (PP.rt) aktuell nur noch zwei niedergelassene Ärzte, die opioidabhängige Patienten behandeln. Die Substitutionsambulanz versorgt circa 100 Patienten, die ansonsten im gesamten Landkreis Reutlingen nicht behandelt werden könnten. Durch die enge Anbindung an die Klinikstrukturen der PP.rt, insbesondere an die psychiatrische Institutsambulanz der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen (Sucht PiA) mit ihren multiprofessionellen Behandlungsangeboten und die sehr gute Zusammenarbeit mit den Gemeindepsychiatrischen Hilfen Reutlingen (GP.rt) und der psychosozialen Beratungsstelle (PSB) des Baden-Württembergischen Landesverbandes für Prävention und Rehabilitation (bwlv), ist eine optimale Substitutionstherapie gewährleistet. Die Substitutionsambulanz bietet eine wichtige Ergänzung des ambulanten Behandlungsangebots der psychiatrischen Klinik.
Epidemiologie zu Doppeldiagnosen bei substituierten Patienten
Wie bereits oben erwähnt, war es zu Beginn der Substitutionsbehandlung in Deutschland nur möglich, Patienten mit einer Substitutionstherapie zu versorgen, die zusätzlich zur Abhängigkeit auch noch eine weitere somatische oder psychische Erkrankung hatten. Dies ist bei Patienten mit einer Opioidabhängigkeit sehr häufig der Fall. In Bezug auf körperliche Erkrankungen spielen hier insbesondere Infektionserkrankungen wie Hepatitiden, HIV-Infektion, eine Endokarditis oder Abszesse eine Rolle. Diese Erkrankungen führen immer wieder zu Folgeerscheinungen, welche die Lebensqualität der Patienten einschränken können. Neben diesen somatischen Erkrankungen führen insbesondere aber die psychischen Komorbiditäten zu erheblichen Einschränkungen der Lebensqualität und der Leistungs- und Erwerbsfähigkeit.
Aufgrund der Ergebnisse aus wissenschaftlichen Studien und Untersuchungen ist davon auszugehen, dass etwa 50% bis 60% der opioidabhängigen Patienten mindestens eine komorbide psychische Erkrankung haben. Am häufigsten handelt es sich hierbei um affektive Störungen und Persönlichkeitsstörungen, gefolgt von schizophrenen Erkrankungen. Oftmals werden diese zusätzlichen Erkrankungen nur unzureichend oder gar nicht behandelt. Eine adäquate psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung bleibt den meisten Patienten verwehrt oder die Schwelle zur Inanspruchnahme kann nicht oder nur mit viel Aufwand überwunden werden.
In der Reutlinger Substitutionsambulanz haben 53 von 105 Patienten eine Doppeldiagnose (Abb.2), von diesen Patienten sind 31 in regelmässiger psychiatrischer Behandlung.
Abb 2: Anzahl der Patienten mit Doppeldiagnose und in welcher Behandlungsform sie sich befinden. Patienten mit DD = Patienten mit Doppeldiagnose; Patienten in PiA = Patienten in psychiatrischer Institutsambulanz; Patienten bei Psych. = Patienten bei niedergelassenem Psychiater
Herausforderungen aufgrund von Doppeldiagnosen am Beispiel des Herrn S.
Herr S., 43 Jahre alt, ist seit Eröffnung der Substitutionsambulanz in Reutlingen dort in Behandlung. Davor wurde er von einem niedergelassenen Arzt substituiert. Er erhält täglich 60mg L-Polamidon. Seine Abhängigkeitserkrankung besteht schon seit über 20 Jahren. Neben der Opiatabhängigkeit leidet er unter einer Abhängigkeit von Benzodiazepinen und einem Missbrauch von Kokain, zudem besteht eine rezidivierende depressive Erkrankung. Die Depression, so berichtet Herr S., führe immer wieder zu Phasen, in welchen er antriebslos, anhedon und in deutlich gedrückter Stimmung ist. Es fällt ihm dann schwer, seinen Alltag zu meistern. Einzukaufen, soziale Kontakte zu pflegen, die Familie zu besuchen, aber auch regelmässig zum Arzt zu gehen sind nur einige Aspekte, die Herr S. dann nur schwer bewältigen kann. In solchen Episoden kommt es häufig zu einem Rückfall mit Benzodiazepinen und schliesslich zu einer stationären Teilentzugsbehandlung, da die Substitution ansonsten nicht fortgeführt werden kann. Versuche von Herrn S., sich einen niedergelassenen Psychotherapeuten zu suchen, scheiterten aus verschiedenen Gründen. Zum einen erhalte er Absagen aufgrund seiner Suchterkrankung, zum anderen verliere er schnell die Lust und das Interesse daran, mehrere Therapeuten anzurufen oder aufzusuchen und seine «Geschichte» immer wieder zu erzählen, um dann doch nur auf eine «Warteliste» gesetzt zu werden. Auch die Behandlung bei einem niedergelassenen Psychiater und die Einnahme eines Antidepressivums seien immer wieder gescheitert. Durch den immer wieder auftretenden Konsum von Benzodiazepinen und die darauf folgenden Entzugsbehandlungen kam es schon zu schweren entzugsbedingten Krampfanfällen mit körperlichen Verletzungen (Wirbelfraktur nach Sturz). Herr S. war einmal an Hepatitis C erkrankt und hatte mehrmals eine Pneumonie. Auch habe es früher wegen des intravenösen Konsums oft Abszesse gegeben. Seine soziale Situation ist nach eigenen Aussagen «trostlos». Er habe keine Partnerin und keine Kinder. Zu seiner Familie sei das Verhältnis immer wieder sehr angespannt, lediglich zu einer Angehörigen gebe es eine stabile Beziehung. Eine Arbeit habe er schon lange nicht mehr. Herr S. lebt in einer kleinen Wohnung, in der er sich nicht sehr wohlfühle, vor allem in depressiven Phasen komme er dort nur sehr schlecht zurecht.
Opiatabhängige Patienten mit einer Doppeldiagnose haben die Schwierigkeit, dass sie aufgrund ihrer Suchterkrankung oftmals rasch in eine «Schublade» geschoben werden und dadurch objektiv wie subjektiv eine schlechtere Behandlung erfahren. Dies führt zu einer meist ablehnenden und gegenüber dem helfenden System eher misstrauischen Haltung. Die Organisation des Alltages und die Einhaltung einer Tages- oder Wochenstruktur sind für diese Patientengruppe meist nicht ausreichend gut umsetzbar. Die Einnahme von verordneten Medikamenten erfolgt selten nach Plan. Häufig sind therapeutische Entscheidungen und Behandlungsabläufe kurzfristig anzupassen. Therapeutische Massnahmen müssen mit verschiedenen Personen und Institutionen abgesprochen werden. Restriktive und kontrollierende Haltungen kollidieren sehr häufig mit lockeren und die Selbstverantwortung fördernden Einstellungen. Zu hohe Erwartungen der Behandler an die Therapie (z.B. qualifizierter Entzug oder ambulante psychiatrische Behandlung) oder an die Hilfe durch eine psychosoziale Beratung können Patienten mit einer Doppeldiagnose belasten und führen häufig zu Therapieabbrüchen. Oftmals kommt es auch tatsächlich zu einer Überforderung der Patienten mit therapeutischen Inhalten und Abläufen, sodass letztendlich Behandlungen abgebrochen oder gar nicht angeboten werden. Dies kann dazu führen, dass aus Unsicherheit und Sorge um den Patienten durchaus sinnvolle Therapieangebote die Betroffenen gar nicht erreichen. Dabei ist es eine Empfehlung der Leitlinien, Therapieangebote integrativ und flexibel zu gestalten und sequenzielle Behandlungen zu vermeiden.
Empfehlungen, Umsetzung und Erfahrungen
Viele Patienten mit einer Doppeldiagnose wie im beschriebenem Fall benötigen zu unterschiedlichen Zeiten das Zusammenwirken unterschiedlicher Behandlungsmassnahmen (integrative Behandlungsprogramme, IBP). Meistens ist es nicht ausreichend, nur einen Aspekt herauszuheben und in den Vordergrund zu stellen und daraus eine Behandlungsindikation abzuleiten. Die Herausforderung liegt darin, somatische, psychotherapeutische und suchtpsychiatrische Therapiemöglichkeiten zu kombinieren und dem Patienten rasch und niederschwellig zugänglich zu machen. Im Fall von Herrn S. konnten wir bei einer Verschlechterung seines psychopathologischen Zustandes sofort und am selben Ort ein psychiatrisches Gespräch anbieten, diese stützenden Gespräche regelmässig durchführen und Herrn S. so vor einer erneuten schweren depressiven Episode bewahren. Durch die interdisziplinären Behandlungsoptionen in der psychiatrischen Institutsambulanz konnten mithilfe des Sozialdienstes verschiedene soziale Probleme angegangen werden, und durch die enge Kooperation mit der psychosozialen Beratungsstelle und der GP.rt gelang es sogar, im Rahmen der Eingliederungshilfe eine ambulante Betreuung in seiner eigenen Wohnung zu organisieren. Durch diese nun gefestigten Strukturen und regelmässigen Kontakte ist auch die Unterstützung bei der Inanspruchnahme somatischer Behandlungen viel besser möglich. Herr S. fühlt sich sicherer im Umgang mit nicht abhängigen Menschen und hat es geschafft, sich auch in schwierigen Situationen Hilfe zu holen.
Die Erfahrungen der letzten zweieinhalb Jahre zeigten, dass es mit überschaubarem Aufwand und gut aufeinander abgestimmten Strukturen und Prozessen sehr gut möglich ist, Patienten mit Doppeldiagnosen und unter Substitutionstherapie eine Chance zur Verbesserung ihrer Lebensqualität zu geben.
Die Verbindung und synergistische Nutzung der unterschiedlichen ambulanten Strukturen und Leistungen der verschiedenen Sozialgesetzbücher (KV-Bereich der niedergelassenen Ärzte, Klinikambulanzen, Drogen- und Suchtberatung, Einrichtungen der Eingliederungshilfe usw.) gelingt in Reutlingen sehr gut. Unterstützend hierfür ist die Grundhaltung aller Beteiligten, über den eigenen «Tellerrand» zu schauen, langfristige Ziele zu verfolgen und sich regelmässig abzustimmen. Wenn solche Prozesse und Strukturen angelegt sind, profitieren sowohl die Patienten als auch die Behandler davon. Die Implementierung von Betreuungs-, Behandlungs- und Versorgungsstrukturen in der Suchthilfe, angelehnt an gemeinde- oder sozialpsychiatrische Hilfen – eine «soziale Suchtpsychiatrie» – ist daher eine unbedingte Notwendigkeit im erfolgreichen Management von Patienten mit Doppeldiagnosen in der Substitutionsbehandlung.
Literatur:
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