
Palliative Psychiatrie – Definition, Möglichkeiten und Grenzen
Autor:
Dr. Florian Riese
Universitärer Forschungsschwerpunkt „Dynamik gesunden Alterns“
Universität Zürich
E-Mail: florian.riese@bli.uzh.ch
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Gemäss einem psychiatrischen Bonmot endet jede psychiatrische Leitlinie bei Clozapin. „Jenseits von Clozapin“ verfügen wir weder über evidenzbasierte Behandlungsstrategien noch über empirisch fundierte Konzepte darüber, wie die betreffenden Patienten am besten behandelt werden. Daraus folgt, dass Therapievorschläge nicht transparent und nach rationalen Kriterien gemacht werden können, was eine partnerschaftliche Entscheidungsfindung mit dem Patienten behindert. Dies bedroht die Patientenorientierung gerade bei den am schwersten erkrankten Menschen und kann letztlich einerseits zu therapeutischer Vernachlässigung, andererseits zu Übertherapie – bis hin zur Zwangsbehandlung – führen. Hier will die palliative Psychiatrie Orientierung bieten.
Keypoints
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Auch in der Psychiatrie gibt es besonders schwere Erkrankungsverläufe, die nicht kurativ oder rehabilitativ behandelbar sind.
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Palliative Psychiatrie ist ein in Entwicklung befindlicher Ansatz, der die Linderung von Leiden als Behandlungsziel priorisiert.
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Palliative Psychiatrie versteht sich als Erweiterung des therapeutischen Angebots, nicht als Konkurrenz zu etablierten Konzepten wie z.B. dem Recovery-Modell.
Warum brauchen wir eine palliative Psychiatrie?
Erkrankungen können so schwer sein, dass eine medizinische Behandlung mit Heilungs- oder Rehabilitationsabsicht aussichtslos erscheint, das heißt, dass kein entsprechender Nutzen zu erwarten ist. In der somatischen Medizin ist dafür das Konzept der Vergeblichkeit (engl. „futility“) fest etabliert.1 Da aus jeder Behandlung auch Nebenwirkungen oder Belastungen entstehen können, wird auf vergebliche Behandlungen im Sinne des Nichtschadensprinzips verzichtet. Stattdessen wird ein palliativer Behandlungsansatz gewählt, der auf Symptomlinderung und Steigerung des Wohlbefindens ausgerichtet ist. Palliative Care ist somit einer der integralen Bestandteile der Medizin (siehe Abb. rechts).
In der Psychiatrie wird erst seit Kurzem über den Vergeblichkeitsbegriff diskutiert.2 Dabei sind die Grenzen psychiatrischer Therapien klar erkennbar. Belege dafür lassen sich für jede „große“ psychiatrische Erkrankung finden. So konnte für die Depression in der STAR*D-Studie selbst nach vier sequenziellen Therapieversuchen (Medikamente und kognitive Verhaltenstherapie) nur eine Remissionsrate von etwa zwei Dritteln erreicht werden.3 Selbst mithilfe der Elektrokonvulsionstherapie, dem für verschiedene psychiatrische Indikationen wirksamsten Therapieverfahren, erreichen nicht alle Patienten eine Response.4 Auch bei psychiatrischen Erkrankungen können trotz intensiver kurativer oder rehabilitativer therapeutischer Bemühungen also Zustände eintreten, die einen palliativen Behandlungsansatz rechtfertigen.
Was ist palliative Psychiatrie?
In Anlehnung an die WHO-Definition der Palliative Care definierten wir palliative Psychiatrie wie folgt:5 „Palliative Psychiatrie ist ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit Problemen konfrontiert sind, welche mit einer lebensbedrohlichen, schweren und andauernden psychischen Erkrankung einhergehen. Dies geschieht durch Vorbeugen und Lindern von Leiden durch frühzeitige Erkennung und Behandlung von Problemen [im Original „needs“, d.h. Bedürfnisse] körperlicher, seelischer, sozialer und spiritueller Art.“
Palliative Psychiatrie ist also ein therapeutischer Ansatz für psychische Erkrankungen, der die Leidenslinderung als höchste Priorität erachtet – während Heilung oder Rehabilitation als Therapieziele in den Hintergrund treten. Palliative Psychiatrie ist lebensbejahend, akzeptiert aber die Endlichkeit allen Lebens. Theoretisch ist die palliative Psychiatrie einerseits im bio-psycho-sozialen Modell der Psychiatrie, andererseits in der Palliative Care verankert. Als sich entwickelnde Richtung innerhalb der Psychiatrie verfügt die palliative Psychiatrie noch nicht über einen Kanon an etablierten, ihr klar zugeordneten Methoden. Integraler Bestandteil des palliativ-psychiatrischen Vorgehens ist aber die wohlerwogene Begrenzung vergeblicher und belastender kurativer oder rehabilitativer Therapieversuche. Die palliative Psychiatrie geht dabei immer von der holistischen Betrachtung jedes einzelnen Patienten und seines Kontextes aus und sucht individuell angemessene Vorgehensweisen. Die palliative Psychiatrie steht nicht in Konkurrenz zu anderen Behandlungsverfahren, sondern strebt eine Erweiterung der therapeutischen Grenzen an. Eine enge Zusammenarbeit mit anderen medizinischen Disziplinen, nichtmedizinischen Fachpersonen und Angehörigen ist für palliatives Handeln selbstverständlich.
An wen richtet sich palliative Psychiatrie?
In den medizinisch-ethischen Richtlinien „Palliative Care“ der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften wird die Palliative Care in der Psychiatrie wie folgt verortet:6 „Viele psychiatrische Leiden können chronisch verlaufen oder sind durch häufige Rezidive charakterisiert. Umso wichtiger ist in solchen Fällen ein palliativer Ansatz, der nicht in erster Linie das Bekämpfen der Krankheit zum Ziel hat, sondern den bestmöglichen Umgang mit der Symptomatik oder Behinderung. Oft kann die Lebensqualität verbessert und das Suizidrisiko gesenkt werden, wenn zusätzlich zu kurativen bzw. störungsorientierten Behandlungen eine palliative Unterstützung und Zuwendung stattfindet.
Schwierige Situationen ergeben sich vor allem bei:
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therapierefraktären Depressionen mit wiederholtem Suizidwunsch;
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schweren Schizophrenien mit aus Sicht des Patienten ungenügender Lebensqualität;
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schwersten Anorexien;
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Abhängigkeit von Suchtstoffen.“
In unseren grundlegenden Artikeln zur palliativen Psychiatrie7,8 benannten wir Patienten mit „schwerer und andauernder psychischer Erkrankung“ (engl. „severe and persistent mental illness“) als primäre Zielgruppe der palliativen Psychiatrie. Auch diese Zielgruppe muss jedoch je nach Kontext definiert werden.9 Das aktuelle Verständnis des Autors für die Zielgruppe der palliativen Psychiatrie ist in Tabelle 1 aufgeführt.
Im Gegensatz zum Konzept der schweren und andauernden psychischen Erkrankung verzichtet diese Gruppierung auf ein Kriterium zur Erkrankungsdauer. Dies ist jedoch implizit vorhanden: Leitliniengerechte Therapie erfordert Zeit. Ebenso wird auf die Angabe spezifischer Diagnosen verzichtet: Prinzipiell kann jede psychische Erkankung einen palliativen Behandlungsansatz begründen. Entsprechend einem modernen Verständnis von Palliative Care, schließt ein palliativer Behandlungsansatz den gleichzeitigen Einsatz präventiver, kurativer oder rehabilitativer Maßnahmen beim selben Patienten auch nicht aus (Abb.2). Vergleichbar mit der sog. „frühen Palliative Care“ bei somatischen Erkrankungen könnten in Zukunft eine palliative Haltung und ein Fokus auf Leidenslinderung sogar die Behandlung weniger schwer erkrankter Personen verbessern.
Mit Palliative Care verbindet sich oft die Hoffnung, dass (assistierte) Suizide bei somatisch schwerst oder terminal erkrankten Personen verhindert werden können. Der empirische Beleg hierfür ist schwer zu erbringen. Mit Bezug auf die palliative Psychiatrie dürfte es sich eher um unterschiedliche Personengruppen handeln. Der Vollzug eines Suizids im psychiatrischen Sinne erfordert in der Regel die Fähigkeit zur Planung und Umsetzung des Vorhabens. Voraussetzung für den assistierten Suizid ist darüber hinaus noch die intakte Urteilsfähigkeit. Bei der primären Zielgruppe palliativ-psychiatrischer Behandlung dürften diese Voraussetzungen beeinträchtigt oder sogar gänzlich aufgehoben sein. Die palliative Psychiatrie bietet also vermutlich eher eine Erweiterung des Behandlungsangebots als eine „Alternative zum Suizid“.
Kritik an Begriff und Konzept
Eine häufig vorgebrachte Kritik betrifft den Begriff der palliativen Psychiatrie.10,11 „Palliativ“ sei mit Aufgeben und Hoffnungslosigkeit assoziiert. Dies erinnert an Diskussionen, die auch in der „somatischen“ Palliative Care geführt wurden und mittlerweile weitgehend überwunden sind. Gesellschaftlich wird ein Ausbau der Palliative-Care-Angebote flächendeckend begrüßt und eingefordert. Palliative Care bei unheilbarer körperlicher Erkrankung wird als menschlicher, der Realität des Leidens und Sterbens angemessener Ansatz empfunden. In einer Befragung Schweizer Psychiater wurde eine als palliativ bezeichnete Behandlung für verschiedene Patientensituationen in der Psychiatrie auch mehrheitlich als adäquat bezeichnet.5 Wird der Begriff des Palliativen in der Psychiatrie hingegen vermieden, wird so der Zugang psychiatrischer Patienten zu palliativer Versorgung im Allgemeinen erschwert.
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die wahrgenommene Konkurrenz zu einer der wichtigsten konzeptuellen Innovation der Psychiatrie der letzten Jahrzehnte, der Recovery-Bewegung.12 Zentrales Element des Recovery-Modells ist das Empowerment, d.h. die Übernahme von Selbstverantwortung bis hin zur Deutungshoheit darüber, was Gesundung im eigenen Leben bedeutet. Hieran wird deutlich, dass Recovery und palliative Psychiatrie sich in der Tat niemals konkurrenzieren, sondern ergänzen. Die palliative Psychiatrie richtet sich primär an Patienten, für die ein derartiges Empowerment aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung eben nicht erreichbar ist. Damit bildet palliative Psychiatrie eine wichtige Ergänzung des aktuell verfügbaren Behandlungsangebots.
Danksagung:
Der Autor dankt Naomi Zumstein, lic. phil/MA, für die kritische Durchsicht des Manuskripts.
Literatur:
1 Whitmer M et al.: Medical futility: a paradigm as old as Hippocrates. Dimens Crit Care Nurs 2009; 28(2): 67-71 2 Levitt S, Buchman DZ: Applying futility in psychiatry: a concept whose time has come. J Med Ethics. Institute of Medical Ethics 2020; 19(1): medethics–2020–106654 3 Gaynes BN et al.: What did STAR*D teach us? Results from a large-scale, practical, clinical trial for patients with depression. Psychiatr Serv American Psychiatric Association 2009; 60(11): 1439-45 4 Sackeim HA et al.: A prospective, randomized, double-blind comparison of bilateral and right unilateral electroconvulsive therapy at different stimulus intensities. Arch Gen Psychiatry. American Medical Association 2000; 57(5): 425-34 5 Trachsel M et al.: Acceptability of palliative care approaches for patients with severe and persistent mental illness: a survey of psychiatrists in Switzerland. BMC Psychiatry BioMed Central 2019; 19(1): 111-9 6 Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW. Medizin-ethische Richtlinien Palliative Care 2013: 1-24 7 Trachsel M et al.: Palliative psychiatry for severe and persistent mental illness. Lancet Psychiatry 2016; 3(3): 200 8 Trachsel M et al.: Palliative psychiatry for severe persistent mental illness as a new approach to psychiatry? Definition, scope, benefits, and risks. BMC Psychiatry. BioMed Central 2016; 16(1): 260 9 Zumstein N, Riese F: Defining severe and persistent mental illness-a pragmatic utility concept analysis. Front Psychiatry. Frontiers 2020; 11: 648 10 Lindblad A et al.: Towards a palliative care approach in psychiatry: do we need a new definition? J Med Ethics. Institute of Medical Ethics 2019; 45(1): 26-30 11 Gieselmann A, Vollmann J: [A palliative concept for psychiatry? Conceptional considerations on advantages and limits of a close cooperation between palliative care and psychiatry]. Nervenarzt. Springer Medizin 2020; 91(5): 385-90 12 Leamy M et al.: Conceptual framework for personal recovery in mental health: systematic review and narrative synthesis. Br J Psychiatry. Cambridge University Press 2011; 199(6): 445-52
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