
Zur Stigmatisierung von Frauen mit Substanzkonsumproblemen
Autorin:
Prof. Dr. Irmgard Vogt
Psychologin und Soziologin i.R.
Frankfurt University of Applied Sciences, Frankfurt am Main, Deutschland
E-Mail: vogt@fb4.fra-uas.de
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Studien belegen, dass Menschen mit Substanzkonsumstörungen in besonderer Weise diskriminiert und stigmatisiert werden. Daran hat sich, wie es scheint, in den letzten 30 Jahren wenig geändert. Wenn man aber die Fragen geschlechterspezifisch formuliert, zeigen sich schnell auch geschlechterspezifische Unterschiede.
Keypoints
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Frauen, die von Strassendrogen abhängig sind, erleben besonders starke Diskriminierungen und Stigmatisierungen.
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Angebote, die die Bedürfnisse dieser Personengruppe aufnehmen und Hilfen für die reproduktive Gesundheit in einem sicheren Ambiente anbieten, erreichen diese Personengruppe gut.
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Eine Opioidagonistentherapie trägt zur guten Versorgung von opioidabhängigen Frauen während der Schwangerschaft, nach der Geburt und beim Zusammenleben mit dem Kind bei.
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Angebote für opioidabhängige Frauen allgemein und besonders für diejenigen, die schwanger sind oder kleine Kinder haben und mit diesen zusammenleben wollen, müssen unbedingt verbessert werden.
Frauen und andere Geschlechter mit Substanzkonsumstörungen müssen mit noch mehr Diskriminierung und Stigmatisierung rechnen als Männer. Das liegt bei Frauen zum einen daran, dass sie, wenn sie Heroin und andere Strassendrogen konsumieren und injizieren, vom Idealbild der «reinen» Frau, sehr weit abweichen. Im Alltag ebenso wie im Milieu der Menschen mit Substanzkonsumstörungen werden sie entsprechend beschimpft und ausgegrenzt. Auch Fachkräfte der Gesundheitsberufe behandeln ungern diese Klientel.
Erste Ansätze gegen die Stigmatisierung von Frauen
Studien zeigen, dass diejenigen Einrichtungen der Suchthilfe und anderer Institutionen, die zum einen dafür sorgen, dass Männer an diesen Orten nicht dominieren, und die zum anderen spezifische Angebote nur für Frauen und ihre reproduktive Gesundheit auflegen, attraktiv sind. Noch mehr gilt das für alle Angebote für Frauen, die schwanger geworden sind und Hilfe und Unterstützung während der Schwangerschaft, während und nach Geburt und in den ersten Monaten bzw. Jahren beim Zusammenleben mit dem Kind benötigen.
Medizinisch bietet sich die opioidagonistische Medikation an, psychosozial die enge Vernetzung mit einer Reihe von Institutionen. Einige wenige Beispiele zeigen, dass es erfolgreiche Ansätze gibt, wie sich die Diskriminierung und Stigmatisierung von Frauen/Müttern, die von Opioiden (allein oder in Kombination mit anderen Substanzen) abhängig sind, durch Fachkräfte der Gesundheitsberufe reduzieren lassen. Diese Ansätze gilt es aufzunehmen und auszubauen.
Was wissen wir über die Stigmatisierung von Menschen mit Substanzkonsumproblemen?
Studien, die sich mit Vorurteilen und Tendenzen zur Ausgrenzung und Stigmatisierungen von Menschen mit Substanzkonsumstörungen beschäftigen, belegen, dass die Allgemeinbevölkerung ebenso wie Angehörige von Gesundheitsberufen wenige Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu machen scheinen.2,26,44 Diesen zufolge sollen die negativen Vorurteile und Stigmatisierungen Frauen (im Folgenden als Bezeichnung für alle Personen, die sich als Frau identifizieren) mit Substanzkonsumproblemen in etwa demselben Umfang und in derselben Weise treffen wie Männer (im Folgenden als Bezeichnung für alle Personen, die sich als Mann identifizieren).
Es handelt sich dabei fast durchweg um Studien, die quantitative Methoden und Vignetten einsetzen, was den Verdacht nahelegt, dass die Ergebnisse u.a. methodenabhängig sein könnten. Wie Kennedy-Hendricks et al. zeigen, hängen die Ergebnisse tatsächlich sehr stark von den Worten ab, die z.B. zur Darstellung der Personen in den Vignetten verwendet werden.24 Das zeigt auch die Übersichtsarbeit von Meyers et al., die insgesamt 75 Studien genauer untersucht haben.36,48 40 dieser Studien verwendeten quantitative Methoden zur Erfassung von Stigma, 35 hingegen qualitative Methoden. Meyers et al. arbeiten heraus, dass in quantitativen Studien die Geschlechter der Befragten fast nie relevant sind, dass diese aber in qualitativen Studien fast immer zu bedeutsamen Unterschieden führen. Insgesamt weisen die Ergebnisse darauf hin, dass Frauen mit Substanzkonsumproblemen von der Bevölkerung sowie von Fachpersonen des Gesundheitsbereichs sehr viel negativer beurteilt werden als Männer. Stigmatisierungen im Kontext von «Sucht» bzw. Substanzkonsumstörungen treffen Frauen also sehr viel stärker als Männer.
Stigmatisierung von Menschen ausserhalb der Heteronormativität
Auf die Probleme von Menschen mit Substanzkonsumproblemen, die von der Heteronormativität und von heterosexuellen Verhaltensmustern abweichen, kann nur am Rande eingegangen werden, da es für diese Personengruppen im westeuropäischen Raum nur sehr wenige empirische Daten gibt. Amerikanische Studien weisen darauf hin, dass insbesondere Menschen, die sich keinem Geschlecht zuordnen wollen, sowie diejenigen, die sich als bisexuell outen, ein überdurchschnittlich hohes Risiko haben, Substanzkonsumprobleme zu entwickeln.61 Sie müssen mit negativen Einstellungen und Meinungen rechnen, die ihnen im Alltag und auch durch andere Menschen mit Suchtproblemen entgegengebracht werden. In abgeschwächter Form können sie auch von Angehörigen der Gesundheitsberufe stigmatisiert werden.
Um die besondere Lage, in denen sich viele dieser Personen befinden, besser einschätzen zu können, ist es notwendig, Daten zu Gendervarianten im Zusammenhang mit dem Konsum von psychoaktiven Substanzen und von Substanzkonsumstörungen differenziert zu erheben. Auf der Grundlage solcher Daten lassen sich dann Hilfen erarbeiten, die für die Bedürfnisse dieser Personengruppen angemessen sind.
Stigmatisierung von Frauen, die abhängig sind, «weil sie Frauen sind»
Eine Reihe von Studien weist nach, dass Frauen mit Substanzkonsumstörungen die gesellschaftlichen Erwartungen verletzen. Das betrifft Frauen, die von Alkohol abhängig sind, ebenso wie diejenigen, die Strassendrogen (Heroin, Kokain etc.) konsumieren. Frauen mit Substanzkonsumproblemen gelten nicht mehr als «rein» und untergraben damit Stereotype der Weiblichkeit. Das ist besonders dann ausgeprägt, wenn Frauen Strassendrogen injizieren, wodurch sie als allgemein «schmutzig» und «dreckig» gelten.62 Diese Stigmatisierung spiegelt sich auch in den Erfahrungen der Frauen wider, wie folgende Aussage belegt:
«Man wird immer, naja, respektlos behandelt, dreckig wird man behandelt, unhöflich. Man wird halt immer wie nen Junkie, wie so, wie so nen elendiger Junkie dahingestellt, die Sachen unterstellen, die gar net so sind … die sehen immer wieder nur Abschaum, Drogenabhängige, die wollen sie net, und so werden die auch behandelt.»64 (S. 101)
Sogar im Milieu der Menschen mit Substanzkonsumstörungen begegnen den Frauen diese Einstellungen und Vorurteile. Sie treffen auch dort auf Ausgrenzungen, Diskriminierungen und Stigmatisierungen. Diese Charakteristika nehmen sie mit in Behandlungseinrichtungen, in denen sie ebenfalls mit Missachtung und Ablehnung rechnen müssen.21
Eine Reihe von Studien belegt, dass Haus- und Allgemeinärzt*innen pauschal genommen ein Problem damit haben, Menschen mit Substanzkonsumproblemen zu behandeln, insbesondere, wenn diese Strassendrogen konsumieren bzw. injizieren. Sie erleben diese Klientel als stressig und manipulativ, was sich besonders dann bemerkbar macht, wenn es um die Verschreibungen von Medikamenten mit hohem Suchtpotenzial geht.20,58,59 Frauen fordern solche Verschreibungen oft sehr direkt und herausfordernd ein und drohen mit Geschrei, wenn sie ihnen verweigert werden. Umgekehrt beklagen sich Menschen mit Substanzkonsumproblemen darüber, dass Allgemeinärzt*innen ihnen misstrauisch begegnen und sie mit ihren Schmerzen allein lassen.
Die negativen Zuschreibungen verschärfen sich, wenn Frauen, die Strassendrogen nehmen, zudem mit HIV oder HCV infiziert sind.35,60 Besonders schwierig wird es, wenn sie als sexuell erpressbar gelten oder durch Sexarbeit Geld verdienen. Frauen, die von Strassendrogen abhängig sind und sich zur Geldbeschaffung prostituieren, werden häufig nicht nur von Mitbetroffenen (Männer wie Frauen) stigmatisiert, sondern auch von Fachkräften des Gesundheitswesens.36
Erschwerend kommt hinzu, dass gerade diese Frauen besonders häufig Opfer von Gewalt vonseiten ihrer Partner, aber auch fremder Personen werden. Tatsächlich befördert der Konsum von Alkohol und anderen psychoaktiven Substanzen (vor allem von aufputschenden Stoffen wie Amphetaminen etc.) die Gewaltbereitschaft. Dies trifft vor allem für Menschen bzw. Männer mit einem hohen Aggressionspotenzial sowie einer vergleichsweise niedrigen Impulskontrolle zu.30,51 Im häuslichen Kontext ebenso wie bei der Strassenprostitution kann es unter dem Einfluss von psychoaktiven Substanzen zu Gewalttätigkeiten kommen, bei denen in den meisten Fällen die Opfer Frauen sind. Zur Bewältigung der Gewalterfahrungen nehmen diese wiederum noch mehr Drogen ein. So kommen sie in einen Teufelskreis, weil mit dem zunehmenden Konsum von psychoaktiven Substanzen auch ihre Vulnerabilität steigt, was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie Opfer von Gewalt werden.
Hilfen für Frauen mit dem Schwerpunkt reproduktive Versorgung
Die betroffenen Frauen kennen die Vorurteile, die die Allgemeinheit ebenso wie andere Menschen mit Substanzkonsumproblemen und manche Fachkräfte der Gesundheitsberufe ihnen gegenüber haben. Aus diesem Grund nehmen sie Angebote der (niedrigschwelligen) Sucht- und Drogenhilfe eher zögerlich an.4,10,28 Das lässt sich ändern, wenn diese Einrichtungen darauf achten, ihre Räume nicht dauerhaft von Männern besetzen zu lassen und kein frauenverachtender Umgangston herrscht. Einrichtungen, die spezifische zeitliche und räumliche Angebote für Frauen machen, erreichen diese Zielklientel eher als diejenigen, die das nicht tun.
Bewährt haben sich in diesem Kontext Angebote mit dem Schwerpunkt «reproduktive Gesundheit». Dazu gehört neben einer breiten Palette von Verhütungsmitteln (Kondome ebenso wie lang wirkende Kontrazeptiva)53 auch die Vermittlung in gynäkologische Untersuchungen. Dabei werden die Frauen auch bei notwendigen Behandlungen unterstützt, insbesondere wenn diese im Zusammenhang mit sexuell übertragbaren Krankheiten stehen.14,17,19
Einrichtungen, die ausschliesslich für Frauen sind, haben sich sehr gut bewährt und werden gerne angenommen. Deutschland hat mit der Einrichtung einiger Anlauf- und Behandlungsstellen nur für Frauen mit dem Schwerpunkt «Probleme bzw. Abhängigkeit von (illegalen) Drogen» sehr gute Erfahrungen gemacht.57 Die wenigen Wirkstudien, die vorliegen, belegen, dass die Arbeit im Allgemeinen als erfolgreich eingeschätzt werden kann.29 Eine Übersicht der Einrichtungen in Deutschland, von denen sich die meisten in grösseren Städten befinden, findet sich unter www.herzsuchtfluss.de .
Probleme im Zusammenhang mit Schwangerschaft, Geburt und dem Zusammenleben mit Kindern
Auch Frauen, die Strassendrogen konsumieren, können schwanger werden. Manche bemerken Hinweise auf eine Schwangerschaft sehr schnell. Vergleichsweise wenige bemühen sich darum, die Schwangerschaft zu beenden. Wenn sie es doch tun, stehen sie meist unter erheblichem Druck von anderen Personen, z.B. vom Partner und potenziellen Vater, von Familienangehörigen und gelegentlich auch von Fachkräften der Gesundheitsberufe. Selbst unter Druck entscheiden sich längst nicht alle dafür, die Schwangerschaft abzubrechen. Etliche Frauen werden sich hingegen erst nach Monaten bewusst, dass sie schwanger sind. Für eine Abtreibung ist es dann meist zu spät.
Unabhängig vom Zeitpunkt, an dem die Frauen ihre Schwangerschaft feststellen, beenden sie den Konsum von Drogen meist nicht selbstbestimmt. Ganz im Gegenteil brauchen sie Hilfe in dieser Lebensphase. Für beratende Stellen steht an erster Stelle Unterstützung dabei, den Umgang mit Strassendrogen zu verändern, sowie Abstinenz vom zusätzlichen Konsum von Alkohol. Das ist schon deshalb notwendig, weil die negativen Folgen des Konsums von Alkohol und anderen psychoaktiven Substanzen während der Schwangerschaft für die Entwicklung des Fötus gut bekannt sind.3,42 Darüber hinaus geht es um eine Verbesserung der Lebensbedingungen und der gesamten gesundheitlichen Versorgung der Frauen während der Schwangerschaft und zur Vorbereitung auf das Leben mit dem Kind.
Die medizinische Versorgung opioidsüchtiger schwangerer Frauen
Frauen, die vor allem von Opioiden abhängig und schwanger sind, können heute zuverlässig mit opioidagonistischen Medikamenten behandelt werden.1,12,23 Bewährt haben sich Behandlungen mit Methadon oder Buprenorphin sowie mit Buprenorphin in Kombination mit Naloxon.49,50,66 Deren Sicherheit für Mutter und Kind wurde in Studien untersucht.9,31 Es gibt Hinweise darauf, dass das neonatale Abstinenzsyndromnach der Geburt bei dieser Medikation der Mutter vergleichsweise gering ist; eine medikamentöse Behandlung des Kindes nach der Geburt ist dann nur noch in wenigen Fällen notwendig.8 Dies setzt allerdings voraus, dass die Mutter sich während der Schwangerschaft an die Behandlungsvorgaben hält.
Zur Sicherstellung der Compliance hilft es, wenn die Betroffene neben der medizinischen Versorgung auch gut in ein psychosoziales Versorgungsnetzwerk eingebunden wird. Sind diese Voraussetzungen gegeben, müssen die Mütter meist nicht mehr von ihren Kindern getrennt werden. Liegen keine weiteren Erkrankungen und Infektionen (z.B. HIV oder HCV) vor, können sie ihre Kinder auch stillen.
Die Bereitstellung einer guten medikamentösen Behandlung sowie einer psychosozialen Begleitung könnte dazu beitragen, dass schwangere Frauen eher bereit sind, sich an Beratungsstellen zu wenden. Von einer solchen Versorgung sind wir in vielen Ländern allerdings weit entfernt. In 23 Staaten der USA droht opioidabhängigen schwangeren Frauen vielmehr, wegen Kindesmissbrauchs angeklagt und verurteilt zu werden.41,54 In Norwegen können sie während der Schwangerschaft in geschlossenen Einrichtungen bzw. Gefängnissen untergebracht werden.52
Diskriminierung durch Gesundheitseinrichtungen und Behörden
In Deutschland treffen sie auf Diskriminierungen und Stigmatisierung, was sie davon abhält, sich so früh wie möglich professionelle Hilfe zu suchen. Wie Kuitunen-Paul et al. schreiben, werden Frauen, die in der Schwangerschaft nicht vollständig abstinent leben, hier schnell als «Alkoholiker-Mütter» gebrandmarkt.25 Ihnen wird unter anderem Folgendes nachgesagt:
«… wer es nicht schafft, 9 Monate ohne Alkohol auszukommen, der schafft es erst recht nicht, 18 Jahre verantwortungsvoll Mutter zu sein.» 25
Wenn bekannt wird, dass Schwangere Strassendrogen nehmen, fallen die negativen Urteile und Stigmatisierungen oft noch drastischer aus. Um diese Frauen dennoch zu erreichen, bedarf es einer besonders sensiblen Sprache, die geeignet ist, ihnen Schwellenängste zu nehmen.43,56,65 Dies gelingt im Alltag in Geburtskliniken nicht immer, wie sich anhand von sogenannten «journey-maps» rund um die Geburt belegen lässt.38,47 Dieser methodische Zugang veranschaulicht die Erfahrungen der Frauen unmittelbar vor und während der Geburt. Durch ihn kann man anschaulich zeigen, wie sich negative Einstellungen und Stigmata auf die Behandlungen von Müttern und Kindern auswirken.
Verschärft werden die Probleme noch dadurch, dass in der Regel Kinder- und Jugendschutzbehörden in die Prozesse eingebunden sind. Diese drängen in sehr vielen Fällen darauf, die Kinder möglichst schnell nach der Geburt von den Müttern zu trennen und in Heimen oder bei Pflegeeltern unterzubringen.27 Drogenabhängige Schwangere fürchten sich vor diesen Institutionen und deren Eingriffe in ihr Leben.
Selbstverständlich darf nicht übersehen werden, dass es Kindern, die mit Müttern aufwachsen, die Strassendrogen nehmen, mitunter sehr schlecht geht.22,34 Professionelle Hilfen für die Kinder können also notwendig sein. Besser wäre es allerdings, wenn diese Hilfen auch die Mütter einbeziehen würden, z.B. indem mehr Plätze für Mütter und ihre Kinder in Behandlungseinrichtungen zur Verfügung gestellt werden und eine bessere personelle Ausstattung dieser Angebote z.B. mit Erzieher*innen.11 In einem solchen Ambiente könnten Mütter lernen, wie sie ihre Kinder emotional und kognitiv unterstützen können und besser auf deren Bedürfnisse eingehen können.46,55 Das würde allen Beteiligten zugutekommen. (Die Defizite dieser Angebote in Deutschland können bei Vogt 2021 auf S. 318 nachgelesen werden.)63
Mütter, die ohnehin mit Opioidagonistentherapie (OAT) behandelt werden und sich an die Regeln halten, können jedenfalls genauso gute und zuverlässige Mütter sein wie Frauen, die andere psychoaktive Medikamente (z.B. Schmerzmittel oder Antidepressiva) einnehmen.6,40 Im realen Leben behandeln Fachkräfte des Kinder- und Jugendschutzes und jene der Gesundheitsberufe diese Mütter jedoch anders. Ihre Interaktionen sind stark von Misstrauen geprägt und sie «erwarten» gewissermassen, angelogen zu werden. So entstehen selbsterfüllende Prophezeiungen, nach denen diese Frauen eher rückfällig werden. Tritt der Fall ein, werden Vorurteile und Tendenzen zur Stigmatisierung von Müttern in OAT bestätigt. Auch die Kinder sind mitbetroffen, weil das Stigma die ganze Familie betrifft.16
Was kann man gegen Vorurteile und Stigmatisierungen tun?
Vorurteile gegenüber Menschen – Müttern aber auch Vätern – mit Subtanzkonsumstörungen sind allgegenwärtig. Sie sind aufs Engste mit negativen Entwicklungen der Betroffenen sowie deren Kinder verbunden. Umso wichtiger ist es, auf die Probleme, die mit Vorurteilen und Stigmatisierung verbunden sind, aufmerksam zu machen und nach Verfahren zu suchen, mit denen sie sich abbauen lassen.45
Im Rahmen von Medizin-, Psychologie- und Social-Work-Studien bietet es sich an, Kurse einzuführen, die die Probleme von Menschen mit Substanzkonsumstörungen thematisieren und Erklärungen anbieten, wie es zu solchen Entwicklungen kommen kann. Dazu gehören auch Hinweise darauf, dass Frauen, die als Kinder, Jugendliche oder im Erwachsenenleben körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren haben, ein hohes Risiko haben, zur Bewältigung der damit verbundenen Störungen psychoaktive Substanzen einzusetzen und dann von diesen abhängig zu werden.15
Fachkräfte der Gesundheitsberufe, die diese Zusammenhänge kennen, können für die Opfer mehr Empathie aufbringen, weil sie deren Konsum von psychoaktiven Substanzen besser einordnen können. Aus- und Fortbildungskurse für Fachkräfte in den Gesundheitsberufen werden in einer Reihe von Ländern durchgeführt, gehen allerdings meist nicht auf die unterschiedlichen Problemlagen und Belastungen der verschiedenen Geschlechter ein. Implizit geht es in den Darstellungen und konkreten Fällen eher um männliche Personen und weniger um weibliche oder andere Geschlechter, was insofern verständlich ist, weil sehr viel mehr Männer als Frauen im Laufe des Lebens Substanzkonsumstörungen entwickeln. Dennoch wäre es wünschenswert, wenn in Zukunft die Geschlechtervielfalt in diesen Kursen stärker berücksichtigt würde.
Die Ergebnisse der aktuell eingesetzten Aus- und Fortbildungskurse wurden immer wieder evaluiert.7,26,33,39 Zwar ergeben sich kurzfristig durchweg Veränderungen hin zu weniger ablehnenden Haltungen, weniger Vorurteilen und weniger Stigmatisierungen, die Effekte nehmen aber im Zeitverlauf schnell ab. Es ist unklar, ob sich mit diesen Interventionen langfristig die Einstellungen der Fachkräfte der Gesundheitsberufe gegenüber Menschen mit Substanzkonsumstörungen ändern lassen.
Mit gutem Beispiel vorangehen
Einen etwas anderen Ansatz verfolgen Ford et al., in deren Studie es um opioidabhängige Frauen, die schwanger sind bzw. kurz vor der Entbindung stehen, geht.18 Das Personal von Geburtskliniken, das gegenüber diesen Frauen und ihren Kindern vergleichsweise negativ eingestellt war, sollte im Rahmen von Fortbildungskursen zu Einstellungsänderungen bewogen werden. Die Organisatoren holten Mütter dazu, die darüber berichteten, wie es zu ihrer Abhängigkeit kam und was es für sie bedeutet, in diesem Zustand ein Kind zu bekommen, das möglicherweise mit einem Abstinenzsyndrom geboren wird. Ebenso wurden Fachpersonen einbezogen, die die persönlichen Geschichten in bio-psycho-soziale Kontexte einordneten. Auch wurden Kontakte zu regionalen Einrichtungen aufgenommen, die Hilfen für diese Frauen in den Monaten nach der Geburt des Kindes anbieten. Mit diesem komplexen Angebot an persönlichen Geschichten, sachlichem Wissen und realen Hilfen ist es gelungen, das Verständnis der Fachkräfte für die Mütter zu verbessern und das Mitgefühl für die Kinder zu erhöhen. Kurz- und mittelfristig (in einem Zeitraum von 2 Jahren) nahmen die negativen Einstellungen der Fachkräfte gegenüber dieser Klientel ab. Weitere Evaluationsstudien werden zeigen, ob sich diese Effekte auch langfristig nachweisen lassen.
Literatur:
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