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Transitionspsychiatrie und Suizidprävention
Jatros
Autor:
Prim. Dr. Florian Buchmayer
Vorstand der Abteilung für<br> Psychiatrie und Psychotherapie<br> Krankenhaus Barmherzige Brüder, Eisenstadt<br> E-Mail: florian.buchmayer@bbeisen.at
30
Min. Lesezeit
12.09.2019
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<p class="article-intro">Die Adoleszenz stellt bereits unter theoretischen Erwägungen eine enorme Herausforderung für die Grundlagenforschung dar. Sie ist darüber hinaus auch für die Diagnostik, Therapie und die Prognosestellung aufgrund der auf mehreren Ebenen stattfindenden Eigendynamik dieser Entwicklungsperiode vom 16. bis 24. Lebensjahr und der in ihr stattfindenden (v. a. gesellschaftlich beeinflussten) Prozesse von großer Bedeutung. Es ist dies eine Phase, in der die meisten psychischen Erkrankungen des Erwachsenenalters erstmals auftreten sowie Erfahrungen mit selbstverletzendem Verhalten und auch Suizidgedanken bis zum Suizidversuch gemacht werden.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <p>Leitgedanken im Krisengespräch:</p> <ul> <li>An psychische Belastungen und Schwierigkeiten denken!</li> <li>Offene Gesprächshaltung!</li> <li>Aktive Gesprächsführung!</li> <li>Keine Wertungen!</li> <li>Suizidgedanken und Krisen ernst nehmen!</li> <li>Frühzeitiges Einsteigen in eine nötige Behandlung ermöglichen!</li> </ul> </div> <p>Der Suizid ist die zweithäufigste Todesursache in dieser Altersgruppe, weshalb gerade in dieser Phase ein besonderes Augenmerk auf die Suizidprävention zu richten ist. Ist bereits ein bestimmtes Betreuungssetting in der Kindheit oder Jugend etabliert worden, so besteht in der Praxis die erste Hürde mit dem 18. Geburtstag im Wechsel der betreuenden Einrichtung, der betreuenden Ärzte und im Wegfall der Fürsorge durch das Jugendamt. <br />Die erheblichen neurobiologischen Veränderungen, die Erstmanifestation vieler psychischer Erkrankungen in der Adoleszenz und soziale sowie rechtliche Veränderungen, die in dieser Altersspanne evident werden, sind nur Beispiele für diese Entwicklungsdynamik und lassen verständlich werden, warum sich Forschungsgruppen in den letzten 10 bis 15 Jahren zunehmend mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben.</p> <h2>„Developmental-mismatch hypothesis“</h2> <p>Eine der bekanntesten Hypothesen, die in den vergangenen zehn Jahren vielfach diskutiert wurde, ist die „developmentalmismatch hypothesis“ (Casey 2008, Somerville 2010). In groben Zügen erklärt: Die subkortikalen Gehirnregionen (Amygdala, Nucleus accumbens) wachsen deutlich rascher als die präfrontalen Regionen (präfrontaler Cortex, PFC). So sind Erstere in ihrem Wachstum beinahe vollendet, während Zweitere noch mehrere Jahre dafür benötigen. Die Größe der Differenz soll mit der Intensität eines Risikos korrelieren, welches insbesondere mit der Regulation oder Dysregulation von Emotionen, Belohnungsverhalten und Impulsivität in Verbindung steht. Erst am Ende der Adoleszenz ist auch die Reifung des PFC abgeschlossen. <br />Die Affekt-verarbeitenden Gehirnstrukturen entwickeln sich, entsprechend diesem dualen Modell, somit rascher als die kognitiv-regulierenden, weshalb mit folgenden Konsequenzen zu rechnen ist: Das Verhalten ist stärker emotional als vernuftbasiert gesteuert und vermehrt belohnungsorientiert (cave Suchtentwicklung). Eine erhöhte Impulsivität steht mit aggressivem Verhalten und Delinquenz in Zusammenhang. <br />Es bestehen auch neurokognitive Defizite im Sinne einer Reduktion der Merkfähigkeit. Im Verhältnis zu Erwachsenen und Kindern neigen Jugendliche zu unverhältnismäßig riskanten Verhaltensweisen, was zu einer Vielzahl von negativen Ergebnissen führen kann, eingeschlossen Drogenmissbrauch, ungeschützten Sex mit unterschiedlichen Partnern, (Selbst-)Verletzungen und Selbstmord.</p> <h2>Besondere Themen in der Adoleszenz</h2> <p>Es treten in der Phase des Erwachsenwerdens immer wieder ähnliche Thematiken auf, die im Grunde nicht hintereinander ablaufen, sondern parallel. Jugendliche stehen unter einem hohen psychischen Druck, sie müssen ein Selbstbild entwickeln, dazu ein passendes Rollenbild, welches eine soziale Integration ermöglicht. Beziehungen entstehen und werden aufgebrochen, insbesondere auch zu den Eltern. Es steigen die Erwartungen der Gesellschaft, im Sinne von Leistungserbringung in verschiedenen Bereichen. Zusätzlich tritt der Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit auf. Gesellschaftlich beginnt in dieser Altersgruppe auch die Auseinandersetzung mit Suchtmitteln, legal oder nicht. Alkohol und Cannabis sind weit verbreitet und auch andere Partydrogen, z. B. D-Amphetamin oder MDMA, werden gelegentlich konsumiert. Die Verantwortung für das Handeln der Adolenszenten wird hauptsächlich von der Erwachsenenwelt abverlangt. Diese Themen treffen alle, besonders hart jene, die in schwierigen familiären Lebensumständen aufwachsen müssen, traumatisiert wurden oder bei denen andere erschwerende Faktoren (Krankheit etc.) zum Tragen kommen.</p> <h2>Transitionspsychiatrie</h2> <p>Insofern ist mit der Transition jener Übergang gemeint, den Jugendliche auf dem Weg zum reifen Erwachsenen durchmachen. Aus medizinischer Sicht betrifft dies den Übergang aus der Kinder- und Jugendmedizin inklusive Psychiatrie in die Erwachsenenmedizin/- psychiatrie. In der Literatur wird meist von der Altersspanne zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr gesprochen. Im psychiatrischen Bereich kommt die Erwachsenenpsychiatrie erst ab dem 18. Lebensjahr zum Zug. Diese Grenze erscheint aus Sicht der Entwicklung neurobiologischer und -psychologischer Strukturen als willkürlich, stellt aber aus rechtlicher Sicht (in Österreich) klar, dass ab dem 18. Lebensjahr der Mensch als volljährig und mündig gilt. <br />Jugendliche mit einer psychiatrischen Erkrankung, die eine bisher kontinuierliche Betreuung gewohnt waren, werden zu dieser Zeit mit einem Wechsel konfrontiert. Junge Erwachsene, die neurobiologisch noch nicht „reif“ sind, werden im Rahmen einer stationären Behandlung wie Erwachsene behandelt und dadurch auch mit den Problemen der älteren Erwachsenen konfrontiert, die durchaus im Alter der Eltern oder Großeltern sein können. Der wichtige konstruktive, teils auch therapeutische Dialog mit den Eltern der Patienten, wie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie üblich, gerät in den Hintergrund der Behandlung. Um für diese doch spezielle Altersgruppe ein vernünftiges Behandlungsangebot stellen zu können, benötigt es bei den Entscheidungsträgern in der Psychiatrie und in der Politik ein gewisses Umoder Neudenken, denn die nötigen Strukturen sind in Österreich bisher nur rudimentär verfügbar. Aus den Modellen für Prävention und Salutogenese lässt sich ableiten, dass ein entsprechend früher und adäquater Einstieg in die Behandlung chronische Belastungen und lebensbeeinträchtigende Dauerfolgen reduzieren kann (siehe auch Eckpunktepapier von DGKJP und DGPPN, 23. Juni 2016). <br />In entsprechenden Erhebungen konnte erhoben werden, dass rund ein Viertel bis ein Drittel der Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr eine psychische Erkrankung erleiden. Insbesondere bergen dabei Angststörungen ein mehrfach erhöhtes Risiko für Depressionen und Alkoholmissbrauch. Auch Essstörungen kommen häufig vor und rund 40 % dieser Erkrankungen beginnen bereits in der Adoleszenz. Rund ein Drittel der Menschen mit einer bipolar-affektiven Störung berichtet über einen Beginn in der Adoleszenz. In der jüngeren Vergangenheit werden auch vermehrt Schwerpunkte bei der Behandlung von Traumafolgestörungen gesetzt. Aktuelle Berichte zu Alkohol und Drogen (siehe GÖG – Drogenbericht 2018, GÖG – Handbuch Alkohol 2018) zeigen verschiedene Entwicklungen: Unter anderem stieg die jährliche Rate an Spitalsaufenthalten pro 100.000 Einwohner aufgrund von Alkoholberauschung in der Altersgruppe 15–19 Jahre seit 1992 stetig an, in der Altersgruppe 20–24 Jahre hingegen war die Steigerung deutlich geringer. Rund 10–15 % der Menschen zwischen 15 und 24 Jahren trinken regelmäßig Alkohol. Erhebungen zum Cannabiskonsum bei Schülern, wie sie in innereuropäischen Studien – ESPAD (15- bis 16-Jährige) oder HBSC (15- bis 17-Jährige) – durchgeführt wurden, ergeben eine Lebenszeiterfahrung mit der Substanz von rund 20 %. Aktuelle Prävalenzschätzungen des risikoreichen Konsums von Opioiden weisen auf einen deutlichen Rückgang in der Altersgruppe 15–24 Jahre seit 2004 hin. Zusammengefasst zeigt sich, dass psychische Erkrankungen im Erwachsenenalter starke Wurzeln in der Kindheit oder Jugend haben.</p> <h2>Suizid</h2> <p>Der Suizid ist in der Altersgruppe von 15–29 Jahren die zweithäufigste Todesursache. Dieses Faktum sollte die hohe Priorität der Versorgung im Sinne der Prävention und Behandlung psychischer Erkrankungen unterstreichen. Betrachtet man die absoluten Zahlen, zeigt sich, dass die meisten Suizide im mittleren Lebensalter zu verzeichnen sind (29 % aller Suizide betreffen Personen in der Altersgruppe 45–59 Jahre). Im Zeitraum von 1970 bis 2015 konnte – mit einigen Schwankungen – bei allen Altersgruppen ein rückläufiger Trend der Suizidraten verzeichnet werden. Dies ist vielen Entwicklungen zu verdanken, vor allem aber sind die Errichtung von Kriseninterventionszentren, Aufklärung und Präventionsarbeit diverser Initiativen sowie die flächendeckende psychiatrische Versorgung und das Unterbringungsgesetz inklusive seiner Exekution als maßgebliche Wirkfaktoren anzuführen. <br />Zu den besonders gefährdeten Personen zählen Menschen in akuten Krisensituationen, Menschen mit psychischen Erkrankungen, insbesondere depressive Menschen, Menschen, die alkohol-, medikamenten- oder drogenabhängig sind. Weiters zählen Personen, die einen Suizid ankündigen oder schon einen oder mehrere Suizidversuche hinter sich haben, sowie Personen, die durch einen Suizid in der Familie bzw. im Umfeld belastet sind, zu dieser Risikogruppe. <br />Die Helferkaskade, die zum Tragen kommt, wenn die Frage der Suizidgefährdung aufkommt, besteht aus mehreren Instanzen und beginnt im unmittelbaren Umfeld der Betroffenen, bestehend aus Eltern, Freunden, Schule oder Arbeitsstätte. Auf der zweiten Stufe befinden sich Berufsgruppen wie Psychologen, Sozialarbeiter oder Psychotherapeuten. Als dritte Stufe können Allgemeinärzte und generell Mitarbeiter von psychosozialen Einrichtungen oder Krankenhäusern genannt werden. Diese ersten drei Stufen erfüllen die potenzielle Rolle eines Gatekeepers – sie stellen meist die Erstanlaufstelle dar und können an der Basis suizidpräventiv wirken. Die nächsten Stufen beinhalten bereits explizit die fachärztliche Kompetenz, also Fachärzte in psychosozialen Einrichtungen, aber auch im niedergelassenen Bereich. Die letzte Instanz dieser Helferkaskade sind die Fachärzte der psychiatrischen Abteilungen in Krankenhäusern. Sind die Betroffenen hier angelangt, ist jedoch schon Intervention, wenn nicht sogar die Akutintervention unter Anwendung des Unterbringungsgesetzes, angezeigt – die Suizidprävention erreicht hier ihr Maximalausmaß. <br />Allen Instanzen der Helferkaskade gemein ist das Motto der Suizidprävention: „Daran denken, danach fragen, darüber sprechen.“ In diesem Sinne sollte jeder im Verdachtsfall daran denken und auch bewusst nachfragen: „Haben Sie Gedanken, dass Ihr Leben keinen Sinn mehr macht oder dass Sie sich etwas antun wollen?“ Bei jüngeren Betroffenen ist vielleicht das „Du“ dem „Sie“ vorzuziehen. Gedanken an Suizid kommen häufig bei belasteten oder psychisch kranken Menschen vor, sie sind zwar nicht immer akut lebensbedrohlich, aber sollten unbedingt ernst genommen werden – darüber reden schafft oft Erleichterung. Die Angst, dass durch das aktive Ansprechen ein Suizid erst provoziert wird, ist vielleicht vorhanden, aber fachlich unberechtigt, das Gegenteil ist der Fall.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Neuro_1904_Weblinks_s31_abb1_abb2.jpg" alt="" width="1185" height="472" /></p></p>
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<p>beim Verfasser</p>
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