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Was hilft gegen Angst? Bewährte und neue Therapieansätze
Jatros
30
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10.05.2018
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<p class="article-intro">Angststörungen stellen die häufigste psychische Störung dar, sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern. Etwa 18 % der Bevölkerung sind von einer Panikstörung, Phobie oder einer generalisierten Angststörung betroffen. Insbesondere die soziale Phobie werde in ihrer Häufigkeit unterschätzt, erklärt Prim. Prof. Dr. Josef Marksteiner, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie A, LKH Hall.</p>
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<p class="article-content"><h2>Klinische Charakteristika</h2> <p>Generell wird unterschieden zwischen ungerichteter und gerichteter Angst (Furcht). Ungerichtete Angst kann anfallsartig (Panikstörung) auftreten oder dauernd (generalisierte Angststörung) bestehen. Die gerichtete Angst wiederum kann sich gegenüber Umgebungsfaktoren (z.B. Agoraphobie), Menschen (Sozialphobie) oder spezifischen Objekten (z.B. Spinnen) zeigen. Neben den Angstgefühlen sind – je nach Störung – Panikattacken, antizipatorische Sorgen („Grübeln“) und autonomes Arousal kennzeichnend. „Die verschiedenen Angststörungen haben unterschiedliche klinische Kennzeichen, typisch für alle ist jedoch das Vermeidungsverhalten“, erklärt Marksteiner. Bei Kindern kann zum Beispiel Schulverweigerung ein Hinweis sein. Auch die Prognose ist unterschiedlich. Die beste Prognose hat die Panikstörung, die schlechteste die Sozialphobie – hier erreichen nur 40 % der Betroffenen nach 12 Jahren einen „Recovery“-Status, definiert als eine zumindest 8 Wochen andauernde Phase mit höchstens Restsymptomen.<br /> Angststörungen, insbesondere Phobien, beginnen oft schon in einem sehr frühen Lebensalter. Die Beschwerden äußern sich jedoch in verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich. Bei Kindern und Adoleszenten stehen Irritabilität, körperliche Symptome und Schlafstörungen im Vordergrund. Im Erwachsenenalter können Erschöpfungsgefühle und Fatigue dazukommen. Bei älteren Menschen zeigen sich oft auch Konzentrations- und Gedächtnisstörungen.<br /> Komorbiditäten wie Depression, Dysthymie, Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen sind häufig. Angststörungen können das Berufsleben stark beeinträchtigen und bedeuten oft auch für Angehörige eine starke Belastung. Das erhöhte Suizidrisiko dürfe ebenfalls nicht unterschätzt werden, wie Marksteiner betont. Nicht zuletzt deshalb sei es wichtig, Angststörungen zu erkennen und zu behandeln.</p> <h2>Auf jeden Fall Psychotherapie</h2> <p>„Angststörungen sind chronische Erkrankungen. Therapiestrategien sollten deshalb längerfristig angelegt werden“, sagt Marksteiner. Etablierte Therapieformen sind kognitive Verhaltenstherapie, Psychoedukation und psychodynamische Ansätze. Bewährt haben sich auch Achtsamkeitstraining und MBSR („mindfulness- based stress reduction“). Als medikamentöse Therapien der ersten Wahl werden von den Guidelines SSRI, SSNRI, Kalziumkanalmodulatoren (Pregabalin) und atypische Antipsychotika (Quetiapin) empfohlen. Trizyklische und andere Antidepressiva, Azapirone und Antihistaminika können als zweite oder dritte Wahl eingesetzt werden. „Obwohl Benzodiazepine nicht als First-Line-Therapie empfohlen sind, werden sie dennoch sehr häufig bei Angststörungen eingesetzt und zeigen kurzfristig auch gute Wirkung“, berichtet Marksteiner. Sie sollten jedoch vorsichtig, in der niedrigstmöglichen effektiven Dosis und nur für kurze Zeit, verschrieben werden.<br /> Die Zukunft bringt vielleicht schon bald weitere Therapieoptionen: Die Neuropeptide S und Y als Neuromodulatoren sind laut Marksteiner „heiße Kandidaten“ für die Therapie von Angststörungen. Sie haben sich in Zellkulturen und Tierversuchen bereits als effektiv an Angstrezeptoren erwiesen. Sie entfalten ihre Wirksamkeit jedoch langsam und sind daher als Akuttherapie eher nicht geeignet.<br /> Weitere Hoffnungen ruhen auf Cannabis. Dessen Wirkung gegen Angst ist noch umstritten, weil ja Angststörungen gerade bei Cannabiskonsumenten häufiger auftreten. Allerdings ist hierbei die Frage von Ursache und Wirkung ungeklärt: Es wäre auch denkbar, dass Personen mit Angststörung eine Affinität zum Cannabiskonsum entwickeln. „Aus meiner Sicht ist die Diskussion um Cannabis noch nicht entschieden“, so Marksteiner. „Möglicherweise ist der Dosiseffekt entscheidend, vielleicht liegt die Lösung auch in einer Kombination verschiedener Cannabinoide.“<br /> Jede medikamentöse Therapie sollte jedenfalls unbedingt von einer psychotherapeutischen Behandlung begleitet werden, betont Marksteiner. Psychotherapie ist bei Angststörung sehr effektiv und kann sogar darstellbare strukturelle Hirnveränderungen bewirken: Eine MRI-Studie konnte dies z.B. für kognitive Verhaltenstherapie bei sozialer Angststörung nachweisen (Steiger VR et al.: Mol Psychiatry 2017; 22(8): 1164-71).</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: Interdisziplinäres Herbstsymposium für Psychopharmakologie,
7. Oktober 2017, Wien
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