© Nuchjaree - stock.adobe.com

Krankheit und Lebenserwartung

Der Einfluss von Armut

Armut und deren Auswirkungen auf die Gesundheit bzw. auf die Entstehung von Krankheit sind im Kontext der Armutsdebatte immer noch ein unterschätztes und vernachlässigtes Teilgebiet.

Armut bzw. die Zugehörigkeit zu einer benachteiligten sozialen Klasse in den reichsten Ländern der Erde bedeutet nicht lediglich einen Verzicht auf Konsumgüter, auf Annehmlichkeiten oder auf gesellschaftliche Teilhabe, sondern geht häufig mit physischem und psychischem Leid sowie mit höheren Erkrankungsraten bis zu einer signifikant geringeren Lebenserwartung einher. Nach aktuellen Angaben des Statistischen Bundesamtes Deutschlands (Destatis) vom April 2024 waren im Jahre 2023 17,7 Millionen Menschen in Deutschland von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Dies entsprach 21,2% der Bevölkerung.1 In Österreich waren 2023 laut Statistik Austria rund 1,3 Millionen Menschen (14,9%) armuts- oder ausgrenzungsgefährdet.2,3

Dass es einen Zusammenhang zwischen sozialer Lage und somit der Klassenzugehörigkeit und Krankheit gibt, haben zahlreiche sozial- und naturwissenschaftliche Untersuchungen belegt.

Soziale Selektion

Das Forschungsgebiet der „social inequality“ (soziale Ungleichheit) untersucht Strukturen, die bei ähnlich verfügbaren sozialen Ressourcen und gesellschaftlichen Chancen, zu Benachteiligungen aufgrund unterschiedlicher Erkrankungsgefährdungen führen. Hier spielen z.B. der individuelle Lebensstil, die berufliche Tätigkeit und Umweltfaktoren eine wichtige Rolle. Die „social inequity“ berücksichtigt ungleiche soziale Chancen und gesellschaftliche Ressourcen, wie z.B. den Zugang zu medizinischen Versorgungseinrichtungen. Des Weiteren ist in diesem Kontext die Beantwortung der Frage, ob Kranke eher verarmen (Selektionseffekt) oder ob Arme eher erkranken (Kausationseffekt), bedeutend. Verschiedene Untersuchungen deuten darauf hin, dass bei Erwachsenen vorwiegend eine soziale Selektion vorliegt (chronisch schlechte Gesundheit erhöht das Armutsrisiko) und bei Kindern Hinweise auf einen Kausationseffekt vorliegen (wer in Armut aufwächst, hat als Erwachsener eine schlechtere Gesundheit).

Sozialer Status und Krankheitsrisiko Konkrete Zusammenhänge zwischen einem niedrigen sozialen Status und Krankheit konnten u.a. für das Auftreten von koronaren Herzkrankheiten (2- bis 3-fach erhöhtes Risiko für Herzinfarkt), Schlaganfall (ebenfalls 2- bis 3-fach erhöhtes Risiko), Krebserkrankungen und Lebererkrankungen festgestellt werden. Erkrankungen der Verdauungsorgane (Magengeschwüre) und der Atmungsorgane (Lungenentzündungen, chronische Bronchitis) findet man bei Armutsgefährdeten ebenfalls häufiger als im Bevölkerungsdurchschnitt. Des Weiteren ist die Infektanfälligkeit erhöht.

Bei von Armut betroffenen Kindern treten gehäuft Zahnerkrankungen und psychosomatische Beschwerdekomplexe auf. Zusätzlich zum Kontext der Psychosomatik treten psychiatrische Erkrankungen in den Vordergrund, und hier besonders Depressionen bis zum Suizid. Armut verursacht Stress und die damit assoziierten Erkrankungen.

Eine im Jänner 2024 veröffentlichte Studie der University of Florida konnte für die Bevölkerung der USA empirisch nachweisen, dass Armut sich negativ auf die körperliche und psychische Gesundheit auswirkt.4 Hierbei spielen gehäuft auftretende chronische Entzündungen eine die Gesundheit und auch die Lebenserwartung reduzierende Rolle. Zudem wurden Krebserkrankungen deutlich häufiger bei von Armut betroffenen Menschen festgestellt. Die Armutsbetroffenen hatten eine um 50% höhere Gesamtmortalität.

Wenn Patienten sowohl von einer chronischen Entzündung als auch von der Lebenslage Armut betroffen waren, stieg das Risiko bezüglich eines Todes aufgrund einer Herzerkrankung um 127% und bezüglich eines Todes aufgrund einer Krebserkrankung um 196%.

Erhöhte Mortalität bei niedrigem Einkommen

Neben der Morbidität ist auch die Mortalität von Armut betroffener Menschen in unserer Gesellschaft erhöht. Das Robert Koch-Institut kommt nach der Datenanalyse des sozioökonomischen Panels der Jahre 1992 bis 2016 in Deutschland zu dem Ergebnis, dass 13% der Frauen und 27% der Männer aus der niedrigsten Einkommensgruppe nicht das 65. Lebensjahr erreichen. In der höchsten Einkommensgruppe trifft dies lediglich auf 8% der Frauen und 14% der Männer zu. Bezogen auf die mittlere Lebenserwartung bei Geburt, liegt der Lebenserwartungsunterschied zwischen der Gruppe mit dem niedrigsten und höchsten Einkommen bei Frauen bei 4,4 Jahren und bei Männern bei 8,6 Jahren.5

In Österreich zeigt der aktuelle Gesundheitsbericht den großen Einfluss von Einkommen und Bildung auf die Gesundheit. Personen mit geringer formaler Bildung oder niedrigem Haushaltseinkommen haben eine geringere Lebenserwartung und verbringen mehr Lebensjahre in mittelmäßiger oder schlechter Gesundheit. Sie sind häufiger chronisch krank, haben mehr Einschränkungen im Alltag und eine geringere Lebensqualität. So haben Männer und Frauen mit Pflichtschulabschluss eine Lebenserwartung von 76,7 bzw. 82,7 Jahren, Personen mit Matura oder höherem Bildungsabschluss eine von 83,2 bzw. 86,4 Jahren.6

Dies bedeutet, dass von Einkommensarmut betroffene Menschen deutlich früher sterben als wohlhabende Mitbürger:innen. Diese konkreten Unterschiede in der Lebenserwartung sind eine extreme Ausprägungsform der Auswirkungen von Klassismus und damit sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft. Erschwerend kommt zudem hinzu, dass es immer noch eine Unkultur der Diffamierung und Schuldzuweisung gegenüber sozial benachteiligten Menschen gibt, die häufig zu einem ausgeprägten Selbstwertverlust der Betroffenen führt.

Dringender Handlungsbedarf

Innerhalb der Diskussion zur Gesundheitsversorgung von sozial benachteiligten Menschen sind verschiedene Handlungsebenen bzw. Aktionsbereiche von entscheidender Bedeutung (Abb.1):
Erstens ist eine von Respekt und Wertschätzung geprägte Diskussion zum Kontext Armut und Gesundheit einzufordern. Dies ist leider, gerade auch im Hinblick auf Äußerungen politischer Entscheidungsträger, immer noch nicht der Fall. Armut als individuelles Versagen zu bezeichnen ist inhaltlich falsch und diffamierend sowie stigmatisierend.

© Universimed

Abb. 1: Gesundheitspolitische Handlungsebenen bzw. Aktionsbereiche (Quelle: Trabert T 2024)

Niederschwellige Versorgung

Zweitens muss auf der praktischen Ebene schnell, kompetent, betroffenenzentriert agiert werden. Aufgrund der Feststellung, dass das bestehende Gesundheitssystem zunehmend Menschen in besonderen Lebenslagen nicht erreicht, sind Überlegungen im Sinne einer Umstrukturierung der medizinischen Versorgung notwendig. Die klassische „Komm-Struktur“ im ärztlichen Bereich (Patient kommt zum Arzt) ist durch die Praktizierung einer „Geh-Struktur“ (der Arzt geht zum Patienten) zu ergänzen. Ein niedrigschwelliges medizinisches Versorgungsangebot „vor Ort“, innerhalb sozialer Brennpunkte, Wohnungsloseneinrichtungen, Drogenberatungsstellen, Arbeitsämtern, Schulen, Kindergärten, muss verstärkt und konsequent realisiert und praktisch umgesetzt werden. Die Finanzierung muss staatlich gefördert werden.

Drittens sind die gesellschaftsstrukturellen Verursachungsmechanismen zu identifizieren und abzuschaffen. Entsprechend vorgegebene Rahmenbedingungen, sich widerspiegelnd in Gesetzestexten, Bestimmungen, Handlungsanweisungen usw. sind zu verändern. Beispiele hierfür wären die vollkommene Befreiung von Zuzahlungen und Eigenbeteiligungen im Gesundheitssektor für Empfänger von sozialen Transferleistungen und die Finanzierung von Sehhilfen als Regelleistung durch die Krankenkassen. Jeder Mensch hat ein Recht auf eine menschenrechtskonforme Gesundheitsversorgung.

  1. Pressemitteilung Destatis vom 10. 4. 2024: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/04/PD24_147_63.html ; zuletzt aufgerufen am 18. 4. 2024

  2. Pressemitteilung des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) vom 25. 4. 2024: https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20240425_OTS0057/soziale-lage-in-oesterreich-hat-sich-durch-multiple-krisen-verschaerft ; zuletzt aufgerufen am 25. 4. 2024

  3. Statistik Austria: https://www.statistik.at/statistiken/bevoelkerung-und-soziales/einkommen-und-soziale-lage/armut ; zuletzt aufgerufen am 6. 5. 2024

  4. Mainous A et al.: Front Med 2024; doi: 10.3389/fmed.2023.1261083

  5. Lampert T et al.: Soziale Unterschiede in der Mortalität und Lebenserwartung in Deutschland – aktuelle Situation und Trends. J Health Monit 2019; 4(1)

  6. Gesundheitsbericht über die Bevölkerung im mittleren Alter: https://www.sozialministerium.at/Themen/Gesundheit/Gesundheitssystem/Gesundheitsberichte.html ; zuletzt aufgerufen am 18. 4. 2024

Weitere Literatur beim Autor

Back to top