
Gendergesundheitsbericht 2024
Bericht:
Mag. Andrea Fallent
Im österreichischen Gesundheitssystem ist sexuelle Gesundheit nicht verankert, das Thema wird vorwiegend aus der Risikoperspektive betrachtet. Der Gendergesundheitsbericht 2024 verdeutlicht, dass Versorgungslücken besonders für vulnerable Gruppen wie Frauen, geschlechtliche Minderheiten, ältere Personen und Menschen mit Behinderungen bestehen.
Sexuelle und reproduktive Gesundheit betrifft alle Personen in jeder Lebensphase. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert sexuelle und reproduktive Gesundheit als einen integralen Bestandteil des menschlichen Wohlbefindens und als wichtigen Faktor für die Gesamtgesundheit. Aufgrund der gesellschaftlichen Strukturen und eines historisch geprägten Gesundheitssystems erhält dieser Aspekt noch immer zu wenig Aufmerksamkeit.
Der von der Gesundheit Österreich (GÖG) erstellte Gendergesundheitsbericht 2024, der Mitte Jänner 2025 veröffentlicht wurde, widmet sich nicht nur den klassischen Aspekten der sexuellen Gesundheit, sondern beleuchtet auch soziale, kulturelle und sozioökonomische Determinanten, die die sexuelle und reproduktive Gesundheit beeinflussen.1 Das zentrale Anliegen des Berichts ist, eine gendersensible Perspektive in das gesamte Gesundheitssystem zu integrieren und so auf die Bedürfnisse unterschiedlicher Geschlechter, einschließlich der sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten, einzugehen.
„Der Gendergesundheitsbericht bietet erstmals einen evidenzbasierten Überblick über die Gesamtsituation sexueller und reproduktiver Gesundheit in Österreich. Damit reicht er über die bislang stark reduzierte Betrachtung derklassischen sexuellen Funktionsstörungen und sexuell übertragbaren Erkrankungen hinaus und fokussiert sowohl auf unterschiedliche Geschlechtsperspektiven sowie auf die verschiedenen Lebensphasen und -umstände der Menschen“, so Sylvia Gaiswinkler, MA, Soziologin und Studienautorin,Gesundheit Österreich GmbH. „Ein wesentliches Ergebnis dieses Berichts und gleichzeitig auch strategische Handlungsempfehlung ist die Notwendigkeit der Etablierung eines abgestimmten Bildes, wie zukünftig sexuelle Gesundheit umfassend und qualitätsgesichert innerhalb und außerhalb des Gesundheitssystems integriert werden kann.“
UnterschiedlicheBedürfnissehinsichtlich sexueller Bildung
Ein Schwerpunkt liegt auf der Analyse der sexuellen und reproduktiven Gesundheit in verschiedenen Lebensphasen, der sexuellen Bildung, der Verhütung, der Körper- und Selbstwahrnehmung sowie der gelebten Sexualität. Jede Zielgruppe hat andere Bedürfnisse, die sich nach Geschlecht, sozialem Status, Bildung, Beruf und Herkunft verändern. Burschen sind zum Beispiel Themen wie Verhütung und sexuell übertragbare Infektionen (STI) wichtig. Bei Mädchen kommt das Thema Zyklus mit höchster Wichtigkeit hinzu.
Rezente repräsentative Daten für den deutschsprachigen Raum liegen von der deutschen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2022 vor ( Sexualaufklaerung.de ). Bei der Frage unter den 14- bis 17-Jährigen, ob sie sich selbst zu sexuellen Fragen aufgeklärt fühlen, zeigen sich keine Unterschiede in Abhängigkeit vom Geschlecht: 80% der Mädchen und 79% der Burschen halten sich für aufgeklärt. Die repräsentative Studie zeigt jedoch gleichzeitig auch, dass sich junge Frauen und Männer zwar als aufgeklärt einschätzen, dass aber gleichzeitig insgesamt 72% der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu mindestens einem dieser Themen „insgesamt gerne mehr wissen“ wollen. Das spiegelt den Bedarf an flächendeckender sexueller Bildung wider. Dahingehend verdeutlicht die Literaturrecherche des Berichts das Fehlen repräsentativer Daten zur sexuellen Bildung in Österreich. Die wenigen Studien, die vorliegen, sind häufig veraltet oder beschränken sich auf heteronormative Perspektiven.
Chancengerechtigkeit und fairer Zugang
Sexuelle und reproduktive Gesundheit sowie das Recht auf selbstbestimmte Entscheidungen sind zentrale Anliegen der Chancengerechtigkeit. So haben Sexarbeiter:innen, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen und Menschen mit Pflegebedürftigkeit oft erschwerten Zugang zu Informationen und medizinischen Angeboten.
Der Bericht untersucht anhand dieser vier spezifischen Gruppen die strukturellen und gesellschaftlichen Barrieren, die den Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheit und damit die Möglichkeit eines selbstbestimmten Umgangs mit der eigenen Sexualität einschränken. Dabei wird die mangelnde Berücksichtigung sexueller und reproduktiver Gesundheit in der Forschung und Praxis hervorgehoben. Der Bericht fordert insbesondere eine verstärkte Berücksichtigung der sexuellen Gesundheit von älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen. Es gibt nahezu keine Daten, die ihre besonderen Bedürfnisse in Bezug auf sexuelle und reproduktive Gesundheit abbilden.
Gaiswinkler: „Es ist an der Zeit, die sexuelle und reproduktive Gesundheit aus einer vielschichtigen und gendersensiblen Perspektive zu betrachten, um die Bedürfnisse aller zu erkennen und die Chancengleichheit im Gesundheitswesen zu fördern.“ Dazu wurde ein E-Learning-Tool entwickelt, um für Gesundheitspersonal im sensiblen Umgang mit genderdiversen Personen zu schulen (siehe Infokasten).
Fragmentierte Strukturen und individuelle Verantwortung
Bislang gibt es in Österreich kein abgestimmtes Bild, wie sexuelle und reproduktive Gesundheit in der Gesundheitsförderung, Prävention und Gesundheitsversorgung abgedeckt wird. Darüber hinaus sind die Zugänge zu Informationen und Beratung innerhalb von Österreich unterschiedlich und abhängig vom Bundesland. Insbesondere für Mädchen und Frauen gibt es Barrieren durch zum Teil privat zu tragende hohe Kosten und mangelnde Versorgungsstrukturen. Nach wie vor sind Rahmenbedingungen stark auf den Bereich der Reproduktion ausgerichtet, während es Lücken in Hinblick auf die sexuelle Gesundheit in ihren vielfachen Dimensionen und Auswirkungen speziell für Mädchen, Frauen und genderdiverse Personen gibt.
Internationale Beispiele (z.B. Frankreich, Irland, Niederlande) zeigen, dass die Entwicklung einer Strategie unter relevanten Stakeholdern einen wichtigen Beitrag leisten kann, um den Zugang zu sexuellen Gesundheitsdienstleistungen zu stärken. Für diverse potenzielle Maßnahmen bietet die WHO einen guten Rahmen. Ein integrativer, gendersensibler Ansatz, der die sexuellen Gesundheitsbedürfnisse al-ler Bevölkerungsgruppen respektiert und adressiert, könnte nicht nur Versorgungslücken schließen, sondern auch die sexuelle Selbstbestimmung und das Wohlbefinden der Bevölkerung nachhaltig stärken.
LGBTIQ+: E-Learning-Tool
Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen von Menschen sind vielfältig. Das drückt das Akronym LGBTIQ+ aus: Es steht für „lesbian, gay, bisexual, trans, inter“ und „queer.“ Das Plus (+) signalisiert, dass auch weitere sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten eingeschlossen sind. Das E-Learning-Tool in vier Modulen unterstützt Gesundheitspersonal im sensiblen Umgang mit LGBTIQ+-Personen. Sie erfahren darin,
-
welche gesundheitsbezogenen Einflüsse es gibt, mit denen LGBTIQ+-Personen in Österreich zum Teil alltäglich zu tun haben,
-
welche Erfahrungen LGBTIQ+-Personen in der Gesundheitsversorgung machen,
-
welche spezifischen gesundheitlichen Ungleichheiten vorhanden sind und
-
welche Faktoren für eine gute Gesundheitsversorgung von LGBTIQ+-Personen berücksichtigt werden sollten.
Quelle:
Mitteilung des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) vom13.1.2025
Literatur:
Gaiswinkler S et al.: Gender-Gesundheitsbericht 2024. Schwerpunkt: Sexuelle und reproduktive Gesundheit. https://www.sozialministerium.at/broschuerenservice ; zuletzt aufgerufen am 14. 1. 2025
Das könnte Sie auch interessieren:
ALLGEMEINE+ auf universimed.com
Ab sofort finden Sie alle Inhalte von ALLGEMEINE+ auf unserem Portal universimed.com! Sie müssen nichts weiter tun - die Log-in-Daten bleiben dieselben.
Vulvovaginale Atrophie
Juckreiz im weiblichen Genitalbereich ist ein häufiges und oft stark beeinträchtigendes Symptom unterschiedlichster Ursachen. Diese dreiteilige Serie stellt drei Erkrankungen mit ...
Dislozierte Abgabestellen von Apotheken
In der Ausgabe 06/2023 wurde über eine geplante Änderung des Apothekengesetzes berichtet, mit welcher dislozierte Abgabestellen von Apotheken eingeführt werden sollten. Nicht nur ist in ...