
„Herztod ist noch immer weiblich“
Unsere Gesprächspartnerin:
Dr. Angelika Bader, MSc
Allgemein- und Gendermedizinerin im Frauengesundheitszentrum Innsbruck
Das Interview führte:
Mag. Andrea Fallent
In Österreich sterben seit Jahrzehnten mehr Frauen als Männer an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dr. Angelika Bader, MSc, Allgemein- und Gendermedizinerin im Frauengesundheitszentrum Innsbruck, klärt im Interview mit ALLGEMEINE+ über die Hintergründe des weiblichen Herztods auf und erzählt, wieso Frauen ihre eigene Gesundheit oft vernachlässigen und Gendermedizin zu einem unverzichtbaren Fach in der Ausbildung geworden ist.
Frauen und Mädchen haben im Vergleich zu Männern andere Erkrankungsrisiken und Krankheitsverläufe, sie zeigen ein anderes Gesundheitsverhalten und werden zudem aufgrund von geschlechterstereotypen Zuschreibungen oft spät oder unzutreffend diagnostiziert. In den letzten beiden Jahrzehnten hat die Auseinandersetzung mit geschlechtergerechter Medizin und Gesundheit zwar an Bedeutung gewonnen, Gesundheitsberichte und Leitlinien folgen jedoch in der Regel immer noch vorwiegend männlich orientierten Gesundheitsparametern.1
In der Gesundheitsversorgung werden wichtige weibliche Aspekte wie Körper- und Selbstbilder, Wechseljahre und Menopause, reproduktive Selbstbestimmung, psychische Gesundheit, Mehrfachbelastungen, unbezahlte Sorgearbeit sowie Gewalt gegen Mädchen und Frauen und deren gesundheitliche Auswirkungen nach wie vor vernachlässigt. Anlass genug für Dr. Angelika Bader, MSc, sich seit mehr als 25 Jahren im Frauengesundheitszentrum an den Universitätskliniken Innsbruck für die Bedürfnisse und gesundheitlichen Herausforderungen ihrer Patientinnen einzusetzen.
Warum haben Sie die Medizinlaufbahn eingeschlagen?
A. Bader: Durch meine Biografie zieht sich eine gewisse frauenorientierte und soziale Komponente. Ich bin zwölf Jahre lang in eine reine Mädchenschule gegangen, war Klassensprecherin und Schulsprecherin. Ich hatte auch das Gefühl, ich kann es mir aufgrund meiner sozialen Situation leisten, mich für andere einzusetzen. Und es war mir immer ein Bedürfnis, für Schwächere einzustehen und Ungerechtigkeiten aufzuheben. Das ist auch meine Hauptmotivation in der Umsetzung von Frauengesundheit.
Wie sind Sie zur Frauenmedizin gekommen?
A. Bader: Ich habe in Innsbruck Medizin studiert und wollte an und für sich immer in die Praxis gehen, bis ich dann die Innere-Medizin-Prüfung bei Frau Prof. Hochleitner, der Frauengesundheitsexpertin, gemacht habe. Ein weiterer Hintergrund ist auch, dass meine verstorbene Schwester eine dilatative Kardiomyopathie hatte und eine von Hochleitners Patientinnen in der DDD-Herzschrittmacherstudie zu therapieresistenten, idiopathischen dilatativen Kardiomyopathien war, mit der sie sich habilitiert hat. Die Herzkrankheit meiner Schwester ist immer in meinem Hinterkopf geblieben, das hat mich geprägt. Prof. Hochleitner und ich haben an der Universitätsklinik 1998 im Auftrag des Landes Tirol zuerst eine Koordinationsstelle für Frauengesundheit als Informationseinrichtung aufgebaut und zeitgleich das Ludwig Boltzmann Institut für kardiologische Geschlechterforschung, eine Forschungseinrichtung, errichtet. Auf Wunsch zahlreicher Patientinnen wurde von Hochleitner und mir ein Frauengesundheitszentrum, bestehend aus einer Frauengesundheitsambulanz und einer kleinen Bettenstation an der Inneren Medizin, gestartet. Durch dieses Konstrukt wurde es für die Patientinnen möglich, auf Krankenschein, ohne persönliche Kosten, das Frauengesundheitszentrum zu frequentieren.
Mit welchen Schwerpunktprojekten sind Sie damals gestartet?
A. Bader: Wir wussten aus Gesundheitsstatistiken und wissenschaftlichen Publikationen, dass die Zahl jener Frauen, die an einem koronaren Herztod starben, sehr hoch und sogar höher als die der Männer war, und haben daher eine Awareness-Kampagne mit dem Motto „Herztod ist weiblich“ gestartet. Wir waren auf Messen und Gesundheitsveranstaltungen unterwegs, um das Bewusstsein dafür zu schärfen. Wir haben damals auch erkannt, dass es einen großen Bedarf bei den Migrantinnen gibt, und zwar konkret bei den türkischen Frauen, die laut wissenschaftlichen Studien das höchste Herzrisiko in Europa und eine erhöhte Prävalenz für Diabetes aufweisen. Also haben wir 1999 mit einer großen Herzaktion in Moscheen und islamischen Kulturvereinen begonnen.2,3
Hatten Sie Erfolg? Wie ist diese Initiative angekommen?
A. Bader: Wir haben die Frauen am Wochenende zu Untersuchungen in ihre Moscheen eingeladen. Mit Unterstützung von türkischen Medizinstudentinnen wurden Laboruntersuchungen zu Blutzucker und Cholesterin gemacht, Blutdruckmessungen durchgeführt und Kurzvorträge zu Ernährung gehalten. Ich erinnere mich noch gut daran, dass wir überall sehr nett aufgenommen wurden und die türkischen Frauen uns viele Sorten von Baklava zum Verkosten gegeben haben. Eine Erkenntnis der Initiative war, dass gut 50% der türkischen Frauen nicht gewusst haben, ob sie zuckerkrank sind. Einen Teil haben wir dann in die Ambulanz eingeladen, um dort weiterführende Untersuchungen wie Ultraschall, EKG, Ergometrie zu machen. Wir haben dann auch noch von 2000 bis 2001 Folgeuntersuchungen durchgeführt.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen
Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die häufigste Todesursache bei Frauen (und Männern) in Österreich. Im Jahr 2021 waren 35,7% aller Todesfälle bei Frauen darauf zurückzuführen. Das bedeutet, dass österreichische Frauen häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben als an den Folgen von Krebs (22,1%). Trotzdem gelten Herz-Kreislauf-Erkrankungen weiterhin als typisch männliche Erkrankungen und Frauen unterschätzen sehr oft ihr Erkrankungsrisiko. Frauen weisen zudem eine höhere 30-Tages-Mortalität bei Myokardinfarkten auf als Männer (5,9% vs. 4,4%). Dies liegt unter anderem an den unterschiedlichen Symptomen und der oft verspäteten Diagnosestellung bei Frauen. (Quelle: Frauengesundheitsbericht 2022)1
In welche Richtung haben sich die Zahlen zum Herztod bei Frauen im Laufe der Zeit entwickelt?
A. Bader: Trotz zahlreicher Frauenherz-Kampagnen ist Herztod immer noch weiblich besetzt, jährlich sterben nach wie vor mehr Frauen am Herztod als Männer. Aus den aktuellen Tiroler Gesundheitsdaten geht hervor, dass ziemlich genau zehnmal so viele Frauen an einem Herz-Kreislauf-Tod sterben als an Brustkrebs. Trotz aller Herzkampagnen glaubt der Großteil meiner Patient:innen, wenn sie eine gynäkologische Kontrolle mit Abstrich und eine Mammografie absolviert haben, ist die Vorsorge erledigt. Hier ist noch viel Aufklärung notwendig.
Wie erklären Sie sich, dass sich da in 25 Jahren diesbezüglich nicht so viel geändert hat?
A. Bader: Es hat sich zwar einiges gebessert, aber es gibt noch einen ganz großen Gap. Die Ursache dafür ist multifaktoriell. Wir begannen, wie generell in der Frauengesundheit, mit einem Mangel an wissenschaftlichen Daten bezüglich Frauen mit Herzerkrankungen und Medikamenten. Das noch immer bestehende Hauptproblem ist, dass die Frauen selber nicht glauben, dass sie Bluthochdruck haben oder herzkrank sein können. Das sehe ich in der Notfallaufnahme und auch bei mir in der Ambulanz. Bluthochdruck ist in der Bevölkerung nach wie vor männlich besetzt, auch nach so vielen Kampagnen. Zudem dauert es noch immer länger, bis die Frau im Anlassfall zu einer invasiven Diagnostik, z.B. zum Herzkatheter, kommt. Die Ausgangslage in den 1990er-Jahren war, dass etwas mehr Frauen als Männer an einem Herztod gestorben sind, Männer doppelt so viele Herzkatheteruntersuchungen und dreimal so viele Bypass-Operationen erhalten haben und die Wege für Frauen zur Diagnostik und Therapie deutlich länger waren.4 Das hat sich in den Jahren seither gebessert, der Trend besteht aber immer noch. Dazu kommt, dass die Herzerkrankung nach wie vor männlich besetzt ist, nicht nur bei den Patient:innen, sondern auch im Umfeld. Zusätzlich hilft es selten, alt und alleinstehend zu sein – was für viele Herzpatientinnen zutrifft.
Wie wird Frauengesundheit bei Ihnen an der Ambulanz konkret umgesetzt?
A. Bader: Frauengesundheit bedeutet für uns nicht nur Blutdruckeinstellung oder Cholesterin- und Osteoporosetherapien. Natürlich gibt es das, aber es ist auch ganz wichtig, dass die Frauen wissen, dass sie bei uns mit allen Anliegen gut aufgehoben sind. Wir bieten einen geschützten Raum, in dem auch Alltagsprobleme Platz haben. Da spricht zum Beispiel eine Patientin mit mir darüber, dass der Mann dement ist, und über das schwierige Handling damit. Das soziale Umfeld muss immer mitberücksichtigt werden, wenn wir den Frauen helfen wollen. Die Patientinnen benötigen keine Überweisung, sondern nur einen Termin, der telefonisch vereinbart werden kann. Wir stehen Dienstag bis Freitag in der Ambulanz zur Verfügung, Montag und Mittwoch meine Kollegin Dr. Karoline Schwitzer, Dienstag, Donnerstag und Freitag bin ich da. Der einzige Mann bei uns in der Ambulanz ist übrigens mein Oscar, ein kleiner Plastik-Oscar, den hat mir mal eine Patientin geschenkt.
Welche Patientinnen kommen zu Ihnen in die Ambulanz?
A. Bader: Wir haben den Luxus, dass wir eine Lobby für jene Patientinnen sein können, die sonst im Gesundheitssystem leicht übersehen werden – weil sie sich in Gesundheitsbelangen zu wenig wichtig nehmen bzw. nicht so viel Selbstbewusstsein zeigen, wenn es um ihr Wohlbefinden geht. Im Frauengesundheitszentrum liegt das Durchschnittsalter der Patientinnen bei ungefähr 60. Natürlich haben wir auch junge Patientinnen, die sind aber eher die Ausnahme. Die Haupthemen sind Bluthochdruck, Herzprobleme, Wechseljahrsbeschwerden, aber dominierend sind Medikamentenunverträglichkeiten. Früher kamen viele Frauen durch unsere Außenaktionen zu uns, mittlerweile hat sich das Angebot herumgesprochen und wir bekommen zunehmend Zuweisungen von komplexeren Fällen aus der Primärversorgung. Es kommen auch regelmäßig Anrufe aus der Notaufnahme, z.B. wenn eine Frau schon öfters dort war – dann werde ich informiert und kann die Patientin engmaschig weiterbetreuen. Ich habe in der Ambulanz mehr Zeit für ein ausführliches Gespräch. 80% der Diagnose macht eine ausführliche Anamnese aus, für die sonst oft nicht ausreichend Zeit vorhanden ist. Wir sehen uns auch als Routingstation innerhalb der Klinik. Dafür kann ich dann alle Ressourcen der Universitätskliniken nutzen.Wenn ich weiß, eine meiner Patientinnen kommt in zwei Wochen, dann organisiere ich bis dahin alle notwendigen Untersuchungen wie EKG, Ergometrie etc.
Welchen Stellenwert hat die Gendermedizin in Innsbruck bei der medizinischen Ausbildung?
A. Bader: Die Universität Innsbruck ist die erste Hochschule im deutschsprachigen Raum, an der Gendermedizin vor ca. 15 Jahren als Pflichtfach eingeführt und somit in die Pflichtprüfungen integriert wurde – dank Frau Professor Hochleitner, die das durchgesetzt hat, mit sichtbaren positiven Auswirkungen. Wenn ich in der Notfallaufnahme bin, kommt es ganz oft vor, dass ein junger Kollege oder eine Kollegin kommt und sagt: „Ich habe jetzt etwas Interessantes bemerkt.“ Wir haben den Genderaspekt in allen Curricula – Humanmedizin, Zahnmedizin und Molekularmedizin, im klinischen PhD sowie in den Habilitationskursen. Auch im Ausbildungszentrum West, der Diplompflegeausbildung und der FH für Gesundheitsberufe in Tirol wurde etwa zeitgleich Gendermedizin in das Curriculum aufgenommen. Erst kürzlich hat eine Krankenschwester mit afrikanischem Migrationshintergrund zu mir gesagt: „Frau Doktor, ich habe Sie gehört, und dadurch konnten wir den Blutdruck von der Mama endlich richtig einstellen.“ Sie weiß durch ihre umfassende Ausbildung, dass es gewisse Blutdruckmittel gibt, zum Beispiel ACE-Hemmer, die nur bei Kaukasiern wirken.
Blutdruckmedikation ist vermutlich ein Beispiel, das Ihnen in der Praxis sehr häufig unterkommt?
A. Bader: Bluthochdruck ist einer der Hauptrisikofaktoren der Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Viele Frauen entwickeln mit zunehmendem Alter einen Bluthochdruck und viele unserer Patientinnen nehmen auch Bluthochdruckmedikamente. Ich finde immer wieder die gleichen Bluthochdruckmittel, die in den Richtlinien der europäischen Gesellschaften angeführt werden: Diuretika, Betablocker, ACE-Hemmer, Kalziumantagonisten wie Amlopidin, deren massive Nebenwirkungen wissenschaftlich nachgewiesen sind. Als Folge haben wir dann Patientinnen in der Notfallaufnahme, die sagen: „Ich habe so komisch geschwollene Beine.“ Und natürlich ist dann die erste Assoziation: Herz. Es ist aber eine der Nebenwirkungen des Blutdruckmittels, die bei Frauen wesentlich häufiger auftreten als bei Männern. Dazu kommt, dass Frauen häufig Symptome wie Hot Flashes, ständiges Schwitzen und ein roter Kopf – die Bilderbuch-Symptomatik bei Bluthochdruck – als Wechselbeschwerden interpretieren. Von vielen unserer Patientinnen wird Bluthochdruck für sich ausgeschlossen, da sie als Mädchen oder junge Frau vor Jahrzehnten unter Hypotonie und Kollapszuständen gelitten hätten.
Wie geben Sie Ihr Wissen weiter? Halten Sie Vorträge? Welche Fortbildungsmöglichkeiten gibt es in Österreich zum Thema Gendermedizin?
A. Bader: Neben der Pflichtlehre an der Medizinischen Universität Innsbruck, dem Ausbildungszentrum West und der FH gibt es zahlreiche Vorträge bei betrieblichen Gesundheitsaktionen und Gesundheitstagen. Seit 2011 wird an der Medizinischen Universität Wien ein Hochschullehrgang für Gender Medicine angeboten, bei dem Hochleitner Vortragende war und den ich damals als Teilnehmerin mit einem MSc abschloss. Zusätzlich läuft derzeit der erste Durchgang des Gender-Medicine-Diplomlehrgangs der Österreichischen Ärztekammer, der im Herbst 2025 abgeschlossen wird.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Literatur:
Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK): Frauengesundheitsbericht 2022. https://broschuerenservice.sozialministerium.at/; zuletzt aufgerufen am 24. 1. 2025
Bader A: The Mosque Campaign: a cardiovascular prevention program for female Turkish immigrants. Wien Klin Wochenschr 2006; 118(7-8): 217-23
Onat A: Risk factors and cardiovascular disease in Turkey. Atherosclerosis 2000; 156: 1-10
Hochleitner M: Frauen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Eine Untersuchung der Geschlechtsunterschiede in den kardiologischen Patientenkarrieren an der Universitätsklinik Innsbruck. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wissenschaft, Verkehr und Kunst, 1997
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