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Ausbildung zum Sexualmediziner

Sexualität ist Leben und Gesundheit

Ursprünglich wollte Dr. Elia Bragagna Biologie studieren. Bei der Inskription stellte sie sich die Frage: „Warum eigentlich nicht den Menschen studieren anstelle der Affen?“ (Die Primaten hatten es ihr nämlich seit jeher angetan.) Und so wurde es das Medizinstudium. Schon während der Studienzeit war sie zu dem Thema „Frauen und Sexualität“ politisch äußerst engagiert. „Damals forderten viele Frauen das ,Präservativ auf Krankenschein‘. Ich merkte, welch große Diskrepanz zwischen den Forderungen der Frauen und der gelebten Sexualität herrschte“, so Bragagna. Die Frauen lehnten privat das Kondom ab, weil es den Partnern unangenehm war und dadurch auch ihnen.

Die Notwendigkeit einer Sexualambulanz

„Im Turnus wurde ich immer wieder um Rat gebeten, wenn Patienten Pflegekräfte mit ihren Sexualproblemen konfrontierten und diese nicht weiterwussten. Ich kam damals zum ersten Mal mit den Themen ,Krankheit und Sexualstörungen‘ in Berührung und musste mir eingestehen, dass ich nicht die leiseste Ahnung von der Thematik hatte. Bedauerlicherweise gibt es – damals wie auch heute – keine sexualmedizinische Grundausbildung im Rahmen der medizinischen Ausbildung in Österreich.“ Sexuelle Störungen sind oft eine Begleiterscheinung von Grunderkrankungen bzw. eine Nebenwirkung von Therapien und sie belasten nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch deren Partner. Es gibt in jedem medizinischen Fachbereich Einflüsse, die sich auf die Sexualität auswirken. So können Medikamente (Hormonersatztherapie, Betablocker, ACE-Hemmer, Antidepressiva, Schmerzmittel etc.) und Operationen (Mammakarzinom, Stomaoperation etc.) die Sexualität beeinträchtigen. Auch Ängste, die bei Erkrankungen wie Herzinfarkt, Asthma und Karzinomen entstehen, beeinflussen das Sexualleben. Ärzte müssen wissen, welche Erkrankungen, Stressoren, Operationen, Therapien und medikamentöse Behandlungen Sexualstörungen verursachen können, um diese verhindern oder zumindest behandeln zu können. Umso wichtiger ist es, möglichst viele Ärzte sexualmedizinisch auszubilden.
Aufgrund ihrer damals bereits abgeschlossenen Psychotherapieausbildung konnte Dr. Bragagna den Patienten unterstützend zur Seite stehen.
Eines war ihr jedoch bald klar: Um den Betroffenen, bei denen es sich ja meist um Paare handelt, helfen zu können, braucht es speziell ausgebildete Ärzte. „Die Notwendigkeit, mein Verlangen bzw. mein Wunsch, eine Sexualambulanz aufzubauen, wurden immer größer“, schildert die Expertin.
Dann ging alles sehr schnell. Das Vorhaben, Onkologin zu werden, verwarf sie aufgrund des Fehlens einer Stelle. Sie absolvierte die Sexualtherapieausbildung an der Abteilung für Sexualforschung der Universitätsklinik in Hamburg Eppendorf und durch die Unterstützung einiger für das Thema Sexualmedizin offener Verantwortungsträger der Stadt Wien konnte 2002 die „Erste Sexualambulanz für Frauen und Männer“ im Wiener Wilhelminenspital eröffnet werden.
Darauf folgte jedoch Ernüchterung: Es wurden keine Patienten zugewiesen! Viele der Kolleginnen und Kollegen kannten und kennen die Zusammenhänge zwischen den Erkrankungen und Sexualproblemen nicht. „Mein nächster Schritt war der Weg in die Medien. Daraufhin war der Patientenandrang in der ,Ersten Sexualambulanz‘ so groß, dass die Wartezeiten sich schnell auf mehr als ein Jahr erstreckt hätten, wenn ich nicht auf die Bitten der betroffenen Paare eingegangen wäre und eine zusätzliche Privatpraxis eröffnet hätte.“

Sexualmedizinische Grundausbildung für Ärzte

Um die Ärzteschaft im Bereich „Sexualmedizin“ zu schulen, gründete Bragagna 2009 die Akademie für Sexuelle Gesundheit (AfSG) in Wien. Nach einigen Jahren musste sie allerdings erkennen, dass der Fortbestand ihrer Akademie nur mittels finanzieller Unterstützung durch die öffentliche Hand möglich sein würde. Auf der Suche nach einer Lösung bemühte sich Dr. Bragagna weiterhin, die zuständigen Entscheidungsträger zu überzeugen, dass Sexualprobleme kein Einzelfall sind. Laut Studien haben 46% der Frauen und 39% der Männer im Laufe ihres Lebens zumindest einmal vorübergehend Sexualprobleme, wobei die meisten keine ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen.
Im Jahre 2011 war es dann so weit: Gemeinsam mit der Österreichischen Ärztekammer und der Österreichischen Akademie für Sexualmedizin (OEASM) in Salzburg wurde eine zweistufige Weiterbildungsmöglichkeit entwickelt. Diese besteht aus einem Basismodul und einer Diplomausbildung.

Basismodul Sexualmedizin

Für das „Basismodul Sexualmedizin“ müssen 50 Stunden Theorie und 16 Stunden Supervision absolviert werden. Ziel ist es, den Teilnehmern Kenntnisse zur Erhebung der Sexualanamnese sowie Grundkenntnisse in der Diagnose und Differenzialdiagnose von Sexualfunktionsstörungen zu vermitteln. Weiters werden sexualmedizinische Gesprächsführung und Funktionsberatung gelehrt. Mit dem zur Verfügung stehenden E-Learning-Tool können die Teilnehmer einen großen Teil im Selbststudium erarbeiten. Im Rahmen der Fortbildung gibt es die Möglichkeit, die eigene Haltung zu Sexualität, Umgang mit Tabus, Grenzen, Vorurteilen und Sexualmythen zu reflektieren und eine optimale Gesprächsführung zu trainieren. Es werden Fragen behandelt wie: „Woran erkennt man sexuelle Übergriffe bei Kindern?“, „Wo beginnt ein Sexualverhalten so auffällig zu werden, dass eine Therapie nötig ist?“, „Wie kann man einer Brustkrebspatienten unter Hormontherapie, die sich von ihrem Partner nicht mehr berühren lässt, helfen?“
Laut der Expertin haben Absolventen des Basismoduls „keine Angst mehr vor dem Thema Sexualität“ und fühlen sich befähigt, ihre Patienten proaktiv anzusprechen.

ÖÄK-Diplomlehrgang Sexualmedizin

Voraussetzung für das Spezialdiplom sind das ÖÄK-Zertifikat „Basismodul Sexualmedizin“ sowie das Diplom „Psychosoziale Medizin“ (PSY I), denn ohne Kenntnisse der psychosozialen Zusammenhänge macht die Spezialisierung keinen Sinn. Der „ÖÄK-Diplomlehrgang Sexualmedizin“ kann in Wien und an der in Salzburg ansässigen Österreichischen Akademie für Sexualmedizin (OEASM) absolviert werden. Das Ausmaß der Ausbildung beträgt 250 Stunden, sie dauert etwas über zwei Jahre. Themen des Diplomlehrgangs:

  • Sexualanamnese

  • Grundlagen der Sexualtherapie

  • Störungen der sexuellen Entwicklung

  • Funktionsstörungen und spezielle Behandlungsmethoden

  • Methodik der Sexualberatung und der sexualtherapeutischen Intervention

  • Forensische Sexualmedizin

  • Forensische Sexualmedizin

  • Sexualität bei Aids und sexuell übertragbaren Erkrankungen

Fortbildungskosten

Die Teilnahmegebühr für das „Basismodul Sexualmedizin“ beträgt 2940 Euro und für den Diplomlehrgang 10 250 Euro. Die Kurse werden von der Österreichischen Akademie der Ärzte GmbH in Wien und der Österreichischen Akademie für Sexualmedizin in Salzburg angeboten.

Ökonomische Aspekte und sonstige Vorteile

Laut Dr. Bragagna ergibt sich durch die Zusatzausbildung Sexualmedizin ein neues Arbeitsfeld, welches sich auch finanziell lohnen kann. Wir alle wissen: Zeit ist in Ordinationen mit Kassenvertrag Mangelware und Gespräche mit dem Patienten sind in den Leistungskatalogen der Kassen unterbewertet. Der Allgemeinmediziner kann nur bei einem geringen Prozentsatz seiner Patienten längere Gespräche verrechnen. Ist dieser Prozentsatz überschritten, haben die Patienten Pech. Somit bietet vorrangig die Wahlarztpraxis die Möglichkeit, Zeit für die Patienten zu haben und diese auch honoriert zu bekommen. Nach wie vor herrscht auf dem Gebiet der Sexualmedizin ein enormer Ärztemangel. „In all den Jahren haben an die 400 Ärzte den Basislehrgang besucht, aber nur 17 den Diplomlehrgang abgeschlossen. Ich habe betroffene Patienten, die sogar von Vorarlberg zu mir nach Wien kommen. Bevor die Beziehung auseinandergeht, nehmen viele den Aufwand auf sich. Wir sind noch weit davon entfernt, dass es Ärzte in gut erreichbarer Distanz gibt.“
Auf der Homepage www.sexmedpedia.com hat die Expertin extra eine „Arztsuche“ nach Bundesland eingerichtet. Die Homepage SexMedPedia ist das erste kostenlose Online-Nachschlagewerk mit gesichertem Wissen zu Ursachen und Wirkungen von Sexualfunktionsstörungen sowie Lösungsansätzen zu vielen Themen der Sexualität. Weitere Vorteile für die Absolventen sind neue Erkenntnisse über die eigene Sexualität, den Umgang mit Gefühlen und die Bewusstseinserweiterung im Bereich „sexuelle Gesundheit“.

Forderung der WHO – sexuelle Gesundheit für alle

„Nach wie vor ist es mein Ziel, dass Ärztinnen und Ärzte schon während ihres Medizinstudiums eine Basisausbildung im Bereich Sexualmedizin erhalten und somit die Zusatzfortbildungen nicht notwendig sind“, so Bragagna.
Die Intention aller sollte sein, sexuelle Gesundheit gemäß den Empfehlungen der WHO (2000) allen Menschen zu ermöglichen.
„Denn besser als die WHO kann man es nicht auf den Punkt bringen: Sexuelle Gesundheit ist untrennbar mit Gesundheit insgesamt, mit Wohlbefinden und Lebensqualität verbunden“, so Dr. Bragagna abschließend.

Kasuistik

Der wohlgenährte Hauptrisikopatient für Erektionsstörungen

Herr V. ist 46 Jahre als, IT-Spezialist, seit 18 Jahren verheiratet (ohne Kinder) und hat seit 10 Jahren immer weniger Lust auf Sex. Er kann sich das nicht erklären, denn er liebt seine Frau und findet sie sexuell anziehend. Die morgendlichen Erektionen sind unregelmäßig und „nicht mehr so hart wie früher. Ein Geschlechtsverkehr wäre damit nicht möglich“. Die urologische Untersuchung habe nichts ergeben. Die verschriebenen Potenzmedikamente (Sildenafil 100mg bei Bedarf) hätten nichts gebracht. Er beschreibt einen „schlecht eingestellten Bluthochdruck (gelegentlich 190/100!)“ der mittels Candesartan behandelt wird. Sonst fehle ihm nichts.
Auf die Frage, was denn zuerst da war, die Erektionsstörung oder die Lustlosigkeit, beschreibt er, dass er schon vor über 10 Jahren sehr unsicher war, ob die Erektion durchhalten würde. Er habe deswegen Situationen, die von seiner Frau als Einladung zu Sex missverstanden hätten werden können, immer gemieden. Da ihm organisch laut dem Urologen nichts fehlt, war er der Meinung, es müsse wohl etwas Psychisches sein.
Dem war aber nicht so, denn die weitere Abklärung ergab das Bild eines klassischen Hochrisikopatienten für Erektionsstörungen – ein Patient mit metabolischem Syndrom. Er ist massiv übergewichtig (BMI: 34,9), hat einen Bauchumfang von 137cm, erhöhte Chol/HDL-Ratio, erhöhte TG, Blutdruck- und Harnsäurewerte. Der HOMA-Index wies auf eine Insulinresistenz hin. Das Testosteron war am untersten Level, ebenso wie das Vitamin D (25-OH). Ich erkläre dem Patienten die Zusammenhänge zwischen Übergewicht, viszeralem Fett und den daraus resultierenden Folgen für das Endothel bzw. die Erektion und zwischen dem „äußeren“ Fett und den Folgen für den Testosteronspiegel bzw. der Erektion.
Danach erarbeiten wir einen genauen Therapieplan für die nächsten drei Monate.

  1. Internistische/kardiale Abklärung und medikamentöse Einstellung der Grunderkrankungen.

  2. Gewichtsreduktion durch eine Lebensstilmodifikation mit zwei Schwerpunkten:

    2a. Änderung der Ernährungsgewohnheiten durch Erstellung eines zum Patienten passenden Ernährungsplans.

    2b. Muskelaufbau durch Krafttraining und mehr Bewegung im Alltag.

  3. Zum Aufbau einer sicheren Erektion erhielt der Patient 5mg Tadalafil täglich verordnet.

  4. In diesen 3 Monaten nahm der Patient alle 14 Tage einen Kontrolltermin war, danach individuell nach Absprache. Die regelmäßigen Termine dienten dazu, ihn durch die körperliche Umstellungsphase zu begleiten und zu erfahren, wie er auf die tägliche Therapie mit Tadalafil anspricht.

Der Patient brauchte die regelmäßigen Gespräche ganz dringend. Sie motivierten ihn, die Lebensstilmodifikation beizubehalten. Gleichzeitig brauchte er die Gespräche auch, um seine Unsicherheit bezüglich der erneuten körperlichen Annäherung an seine Frau besprechen zu können und Lösungsstrategien bei Fehlschlägen zu erarbeiten.

Der Patient konnte innerhalb eines Jahres 19kg abnehmen. Alle Laborwerte besserten sich. Eine antihypertensive Therapie mit Candesartan 8mg muss er noch beibehalten. Die tägliche Dosis Tadalafil konnte nach einem halben Jahr auf 2,5mg umgestellt werden. Der Patient hat wieder regelmäßig Sex und will bis auf Weiteres die erektionsfördernde Therapie beibehalten.

Bericht:
Mag. Birgit Schmidle-Loss


Buchtipp

Uwe Hartmann: Sexualtherapie. Ein neuer Weg in Theorie und Praxis

Springer, 2018
ISBN-13: 978-3662544143
398 Seiten
Taschenbuch: 59,99 Euro

Das Buch bietet einen umfassenden Ansatz zur Behandlung von Einzelpatienten und Paaren. Es ist als Praxishandbuch zur Sexualtherapie wie auch als Lehrbuch für angehende Psychotherapeuten und Sexualmediziner empfehlenswert.
Herausgeber: Prof. Dr. Dipl.-Psych. Uwe Hartmann ist psychologischer Psychotherapeut und Sexualwissen­schaftler an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Sein Forschungs- und Therapieschwerpunkt liegt im Bereich der menschlichen Sexualität und ihrer Störungen.


Weiterführende Informationen:
SexMedPedia – Sexualmedizinische Enzyklopädie
Österreichische Akademie für Sexualmedizin
Basismodul Sexualmedizin der Akademie der Ärzte
Uwe Hartmann: Sexualtherapie. Ein neuer Weg in Theorie und Praxis

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