Vor- und Nachteile von Primärversorgungseinheiten
Die Kritiker der Primärversorgungseinheiten geben zu bedenken, dass die Umsetzung aufgrund des Verrechnungssystems kontraproduktiv im Sinne einer echten Primärversorgung sein könnte, da sie sich auf finanziell lukrative Fälle konzentriert.
Unter dem Begriff „Primärversorgung“ versteht man die medizinische Grundversorgung und Erstberatung der Patienten. Im Gesundheitswesen in Österreich übernahmen bis vor wenigen Jahren noch ausschließlich die sogenannten Hausärzte in Einzel- oder Gruppenpraxen diese Aufgabe. Diese sollten dabei erste Ansprechpartner sein.
Gute und effiziente Primärversorgung ist in der Lage, 90% aller medizinischen Angelegenheiten abschließend zu bewältigen. Dies wird durch Wohnortnähe und im Idealfall immer den gleichen Ansprechpartner für den Patienten, nämlich seinen persönlichen Hausarzt, unterstützt. Denn dieser kennt die medizinische Vorgeschichte sowie das soziale und familiäre Umfeld des Patienten und ist daher in der Lage, sehr schnell auf medizinische Fragen und Probleme zu reagieren.
Primärversorgungseinheiten als politische Lösung
Doch das System ist längst in Schieflage geraten. Die Ärztekammern machen seit Jahren auf schlechte Arbeitsbedingungen inklusive Honorierung aufmerksam und sehen darin auch die Begründung für die massiv sinkende Bereitschaft von Jungärzten, sich in die Niederlassung zu begeben. Denn hunderte Hausarztstellen sind bereits unbesetzt. Die Politik ist jedoch der Ansicht, dass Einzelkämpfertum und vor allem die Freiberuflichkeit von der Jungärzteschaft nicht mehr als ideal im Sinne einer ausgeglichenen Work-Life-Balance gesehen werden, und setzt zur Behebung des Ärztemangels inzwischen auf größere Einheiten, die als Primärversorgungseinheiten (PVE) seit 2017 gesetzlich verankert sind.
Immer noch eigene Verträge in den Bundesländern
Nachdem der Start etwas holprig war, sind in der Zwischenzeit schon zahlreiche Primärversorgungseinheiten in fast jedem Bundesland entstanden. Obwohl bereits 2018 die Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen in die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) beschlossen wurde, kocht nach wie vor genau wie bei den herkömmlichen Kassenverträgen jedes Bundesland sein eigenes Süppchen. So gibt es auch bundeslandspezifisch individuelle Verträge für Primärversorgungseinheiten, die jedoch durchaus Ähnlichkeiten aufweisen. So sind analog zu Gruppenpraxen immer mehrere Allgemeinmediziner involviert, sie müssen an Werktagen ohne Urlaub auch zu Randzeiten geöffnet sein. Die Patienten haben daher zumindest in der Theorie eine größere Auswahlmöglichkeit für Termine etwa abseits ihrer eigenen Arbeitszeiten, aber haben natürlich keine Garantie, dass ihr persönlicher Arzt jederzeit auch zugegen ist.
Während die herkömmlichen Kassenverträge derzeit größtenteils noch auf einem Einzelleistungssystem basieren, setzt die Politik auf einen Umbau in Richtung Pauschalsystem, was sich in den Modellen der Primärversorgung auch schon abzeichnet. So wird in Niederösterreich beispielsweise ein Pauschalbetrag pro Arzt und Jahr bezahlt, dann eine altersabhängige Kopfpauschale pro Patient und Quartal, mit der fast alle allgemeinmedizinischen Leistungen abgedeckt sind, und schließlich noch Einzelleistungshonorare für eine übersichtliche Anzahl an Spezialleistungen (etwa Visiten), die mit einem Pauschalbetrag nur schwer abgegolten werden können.
Ordinationen rechnen sich nur durch natürlichen Patientenmix
Die Kritiker des Systems argumentieren, dass eine erste oberflächliche Evaluierung der Primärversorgungseinheiten den Rückschluss zulässt, dass die Konzeption kontraproduktiv im Sinne einer echten Primärversorgung sein könnte. Denn in den Primärversorgungseinheiten würden sich aufgrund des Verrechnungssystems einfache und finanziell lukrative Fälle konzentrieren: Patienten eher jung, kaum Visiten, keine Entlastung der Folgeebenen, großer Anteil an Nicht-Stammkundschaft, kleiner Anteil an chronisch Erkrankten. Und das, obwohl dort ein „Vollversorgungsauftrag“ vorliegt und vor allem auch pauschal abgegolten wird. Die schwierigen, aufwendigen und daher oft nicht kostendeckenden Fälle würden tendenziell in den Einzelordinationen und Gruppenpraxen landen. Das ließe sich unter anderem anhand der Medikationsstatistik ableiten.
Und das bringt laut den Kritikern viele Ordinationen an den Rand der Kostendeckung, was die Nachbesetzungsproblematik nochmals verschärft. Denn Ordinationen rechnen sich nur durch einen natürlichen Patientenmix. Als logische Folge entstünde eine Überlastung im fachärztlichen Bereich und im Spitalsbereich, die von den Primärversorgungseinheiten zusätzlich angeheizt wird und für weitere Zusatzkosten sorgt. Ein weiterer Kritikpunkt: Primärversorgungseinheiten werden derzeit stark subventioniert, unter anderem durch die EU. Dadurch entsteht ein Wettbewerbsvorteil, der eine weitere Reduktion der echten Primärversorger in den Einzel- und Gruppenpraxen zur Folge hat.
Ein Vergleich der Vertragsbedingungen von Primärversorgungseinheiten zu Einzel- und Gruppenpraxen führt zur Annahme, dass vergleichbare Behandlungen in Primärversorgungseinheiten wesentlich teurer sind als in der bewährten Struktur. Diese Befürchtungen haben durchaus Hand und Fuß und sollen im Hinblick auf eine nachhaltige Finanzierbarkeit unseres Gesundheitssystems im Blick behalten werden. Leider fehlt bis dato eine Kosten-Nutzen-Rechnung.
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