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Freier mikrovaskulärer Fibulatransfer unter besonderen Bedingungen

Behandlung von Schussverletzungen im Kriegsgebiet der Tigray-Region

Seit November 2020 wütet in der Tigray-Region in Nordäthiopien ein Bürgerkrieg, in dem bereits Hunderttausende Menschen ihr Leben gelassen haben. Im November 2022 konnte ein temporärer Waffenstillstand erreicht werden, wodurch es einem tschechisch-österreichischen Team möglich wurde, im Rahmen mehrerer medizinischer Missionen ins Mekele University and Referral Hospital in Tigray zu reisen.

Keypoints

  • Unzureichende Gesundheitsinfrastruktur und politische Konflikte in Regionen wie Tigray erschweren komplexe chirurgische Eingriffe, es gibt jedoch die Chance, durch internationale Missionen überdurchschnittliche medizinische Versorgung zu bieten.

  • Nachhaltige chirurgische Versorgung erfordert enge Zusammenarbeit mit lokalem medizinischem Personal, regelmäßige Schulungen in spezialisierten Techniken und kontinuierliche Nachsorge der Patienten.

  • Umfassende Nachsorge und medizinische Versorgung sind nicht nur ethisch geboten, sondern entscheidend für den Behandlungserfolg, wodurch medizinische Missionen einen nachhaltig positiven Einfluss haben können.

  • Trotz begrenzter Ressourcen können mit Geduld und viel Flexibilität bedeutende Fortschritte und Verbesserungen in der chirurgischen Versorgung erzielt werden.

Afrika stellt eine besondere Herausforderung für komplexere chirurgische Eingriffe dar. Die medizinische Versorgung, speziell in Kriegsgebieten wie Tigray, Äthiopien, ist äußerst schlecht. Aufgrund des anhaltenden Konflikts in der Region sind viele Krankenhäuser und Kliniken zerstört oder funktionsunfähig. Es mangelt an grundlegenden medizinischen Ressourcen wie Medikamenten, medizinischen Geräten und qualifiziertem Personal. Viele Gesundheitszentren wurden geplündert und das Gesundheitssystem steht vor dem Zusammenbruch. Die Bevölkerung hat nur begrenzten Zugang zu medizinischer Hilfe, was zu einer Verschlechterung der Gesundheitssituation und einem Anstieg der Zahl an vermeidbaren Krankheits- und Todesfällen führt1

Umso wichtiger ist es, insbesondere in armen Regionen und Konfliktgebieten, den Menschen fortschrittliche medizinische Behandlungen und eine bestmögliche chirurgische Versorgung zukommen zu lassen. Die oft unzureichende Gesundheitsinfrastruktur vieler afrikanischer Länder erschwert den Zugang zu lebenswichtigen Operationen erheblich. In Konfliktgebieten wie Tigray verschärfen sich diese Probleme noch, wodurch die ohnehin begrenzten Ressourcen zusätzlich belastet werden.2,3

Tab. 1: Demografische Daten zu den durchgeführten chirurgischen Eingriffen

Die Tigray-Region im Norden Äthiopiens, angrenzend an Eritrea, den Sudan, die Afar-Region und die Amhara-Region, ist administrativ in sieben Zonen und 93 Distrikte unterteilt. Seit November 2020 ist Tigray in heftige Auseinandersetzungen zwischen der äthiopischen Bundesregierung und der regionalen Partei in Tigray verwickelt. Die Situation eskalierte am 4.November 2020 durch eine militärische Offensive gegen regionale Streitkräfte drastisch. Menschenrechtsverletzungen stehen an der Tagesordnung. Der Konflikt hat der Gesundheitsinfrastruktur der Region erheblich geschadet und die ohnehin schon katastrophale humanitäre Lage weiter verschärft. 1

Angesichts von über 600000 Todesopfern und zahlreichen Verletzten, darunter viele mit Schusswunden, die komplexe Weichgewebe- und Knochenrekonstruktionen erfordern, ist die Notwendigkeit gezielter Bemühungen zur Verbesserung der mikrochirurgischen Versorgung in solchen Krisengebieten deutlich. Der freie Gewebetransfer ist in der rekonstruktiven Chirurgie, insbesondere bei der Versorgung von Kriegsverletzungen, unverzichtbar. Während die Mikrochirurgie in der westlichen Welt ein fester Bestandteil der plastischen Chirurgie ist, sind in Entwicklungsländern solche Eingriffe selten dokumentiert. Dies liegt hauptsächlich am Mangel an Ressourcen, an unzureichender Ausbildung und fehlender Infrastruktur. Diese Herausforderungen machen die Etablierung und Aufrechterhaltung mikrochirurgischer Versorgung äußerst schwierig, eine Situation, die durch anhaltende politische Konflikte noch weiter verschärft wird.1,4

Über die Mission

Seit fünf Jahren findet jährlich eine humanitäre Mission in das Mekele University and Referral Hospital in Tigray statt. Im Jahr 2022 musste diese Mission aufgrund der Eskalation des Bürgerkrieges und der unsicheren politischen Lage abgesagt werden. Die Sicherheit in den Krankenhäusern von Tigray ist ein großes Anliegen, insbesondere aufgrund des anhaltenden Konflikts in der Region. Viele Gesundheitseinrichtungen sind Ziele von Angriffen geworden, was die Behandlung von Patienten und die Arbeit des medizinischen Personals stark beeinträchtigt.

Um die Sicherheit und Leistungsfähigkeit der Krankenhäuser zu gewährleisten, sind zahlreiche bewaffnete Sicherheitskräfte ständig präsent. Diese Sicherheitsmaßnahmen sollen die Einrichtungen vor Übergriffen und Plünderungen schützen. Zusätzlich wurden unserem Team zwei eigene Sicherheitskräfte zur Verfügung gestellt.

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Abb. 1: Freier Fibulatransfer und gestielte LD-Lappenplastik zur Rekonstruktion eines Humerus sowie des Weichteildefektes nach Schussverletzung. Die Osteosynthese wurde, da nicht anders möglich, ohne Bildwandler durchgeführt

Die Auswahl der Patient:innen wurde vor der jeweiligen Mission von den örtlichen Chirurg:innen getroffen. Anschließend wurde gemeinsam mit uns als Expert:innen entschieden, wer tatsächlich operiert werden konnte. Während der Mission standen uns täglich drei Operationssäle mit Narkosemöglichkeiten zur Verfügung: ein Saal für die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (MKG), einer für die plastische Chirurgie und einer für die Orthopädie. Pro Tag wurden mindestens zwei bis drei freie Lappenoperationen durchgeführt. Jede Operation erfolgte in Zusammenarbeit mit den lokalen Chirurg:innen, wobei unser Team den führenden Part in der Mikrochirurgie übernahm, einschließlich der Lappenhebung, der genauen Präparation der Anschlussgefäße und der Anastomose.

Die postoperative Überwachung wurde sowohl von unserem Team als auch vom Personal des Mekele University and Referral Hospital durchgeführt. Nach unserer Abreise wurden die Patient:innen weiterhin von den Ärzt:innen der MKG sowie der plastischen Chirurgie und Unfallchirurgie betreut. Etwaige Komplikationen werden entweder nach Rücksprache vor Ort weiterbehandelt oder die Behandlung der Patient:innen wird für die nächste Mission geplant.

Praktische Herausforderungen und durchgeführte Operationen

Unser Team hat sich auf die Rekonstruktion von knöchernen und Weichteildefekten nach Schussverletzungen spezialisiert. Hauptaugenmerk unserer Missionen lag auf dem gestielten Fibulatransfer für die Tibiarekonstruktion mittels Double-Barrel-Technik sowie dem freien Fibulatransfer für die Wiederherstellung von mandibulären Defekten und der Extremitätenrekonstruktion. Auch andere freie und lokale Lappenplastiken wurden je nach Bedarf von unserem Team durchgeführt. Obwohl wir vor Ort ein Operationsmikroskop zur Verfügung hatten, konnten wir dieses aufgrund des parallelen Stattfindens der Operationen und wegen der Infrastrukturprobleme – wie der häufigen Stromausfälle – nicht immer nutzen. Daher führten wir die meisten Eingriffe mit Lupenbrillen durch.

Insgesamt wurden 74 Patient:innen behandelt, die Schussverletzungen erlitten hatten und für einen freien Fibula-transfer geeignet waren. Von ihnen waren 15 weiblich und 59 männlich. Bei diesen Patient:innen wurden 56 freie Lappenplastiken durchgeführt. Weiters wurden 28 gestielte Lappenplastiken operiert, davon 18 gestielte Fibulae für Defekte an der Tibia sowie 10 andere gestielte Lappenplastiken. Bei 44 Patient:innen wurde ein freier Fibulatransfer durchgeführt, 33-mal zur Rekonstruktion der Mandibula nach Schussverletzung, in den restlichen Fällen zur Extremitätenrekonstruktion. Zusätzlich wurden 12 andere freie Lappenplastiken, wie z.B. mit ALT, Gracilis- oder Latissimus-dorsi-Lappen, durchgeführt. Das durchschnittliche Alter aller Patient:innen zum Zeitpunkt der Operation lag bei 35,5 Jahren.

Die durchschnittliche Operationsdauer betrug 429,5 Minuten pro Lappen. Die Operation einer freien Fibula bei MKG-Patient:innen wies mit durchschnittlich 532,7 Minuten die längste Dauer auf – im Vergleich zu allen durchgeführten freien Fibulaoperationen für MKG sowie zur Extremitätenrekonstruktion, bei denen die durchschnittliche Dauer 511,5 Minuten betrug.

Bei allen Operationen waren Chirurg:innen des Mekele University and Referral Hospital dabei, es war jedoch immer ein Arzt bzw. eine Ärztin aus unserem Team führend und für die gesamte Operation verantwortlich. Eine hohe Flexibilität sowie kreative Lösungen sind bei humanitären Missionen dieser Art gefragt. Viele für uns selbstverständliche Standards können nicht eingehalten werden; zum Beispiel gibt es kein intraoperatives Röntgen, das aber zur Kontrolle des eingebrachten Osteosynthesematerials wichtig wäre. Bei circa 34% der freien Lappenplastiken konnte das Operationsmikroskop zum Einsatz kommen, beim Rest der Eingriffe wurden, meist bedingt durch Stromausfälle, unsere Lupenbrillen zur Durchführung der Anastomosen verwendet. Das Tragen von Stirnlampen hat sich in einer solchen Infrastruktur bewährt. Mikroinstrumente sowie Nahtmaterial, eine Vielzahl an Osteosynthesematerial, Akku-handbohrer und -sägen wurden vom Team selber nach Mekele gebracht, trotz offizieller Dokumente nicht immer ohne Einreiseschwierigkeiten beim Zoll.

Trotz aller Bemühungen traten erwartungsgemäß einige Komplikationen auf, darunter 12 mikrochirurgische Komplikationen bei der Anastomose. Zu den anderen Komplikationen zählten hauptsächlich Wundinfektionen (n=5) sowie Nachblutungen (n=5). Insgesamt wurden 13 Lappenverluste und 8 partielle Lappenverluste verzeichnet, ein Outcome, welches für die dortige Infrastruktur und im Vergleich mit der Literatur in der Norm liegt.3,5

Nachbetreuung und Follow-up

In Afrika ist es extrem schwierig, ein Langzeit-Follow-up zu erfassen. Viele Patient:innen in Afrika kommen aus mehreren Gründen nicht zur Nachsorge ins Krankenhaus: geografische Entfernung, finanzielle Belastung, Mangel an Gesundheitsinfrastruktur und Bildungsdefizite. Diese Faktoren machen ein Langzeit-Follow-up nach Operationen herausfordernd. Daher wurde der sogenannte Early Clinical Outcome Score eingeführt, um frühzeitig nach der Operation die wichtigsten Behandlungsergebnisse zu bewerten und eine schnelle Einschätzung der Behandlungserfolge zu ermöglichen.4

Bei unseren Patient:innen erzielten etwa 30% der durchgeführten Lappenplastiken sehr gute Ergebnisse, während weitere 27% als akzeptabel bewertet wurden. Ein Vergleich zwischen freier und gestielter Fibularekonstruktion zeigte unterschiedliche Erfolgsraten, wobei die gestielte Fibularekonstruktion häufiger zu guten Ergebnissen führte als der freie Fibulatransfer. Trotz der Herausforderungen und Komplikationen hat unsere Mission einen bedeutenden Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität und zur medizinischen Versorgung der betroffenen Patient:innen geleistet.

Neben den ständigen Herausforderungen im chirurgischen Alltag ist eine der wichtigsten Überlegungen bei internationalen medizinischen Missionen die Nachsorge der Patient:innen. Es genügt nicht, in ein anderes Land zu reisen, heroische Operationen durchzuführen und dann abzureisen, ohne die Patient:innen weiterzubetreuen. Die Sicherheit und das Wohl der Patienten stehen an erster Stelle, daher müssen die Rahmenbedingungen für die Eingriffe optimal sein.3

Effektive Nachbetreuung erfordert enge Zusammenarbeit mit dem örtlichen medizinischen Personal. Es muss die speziellen Anforderungen und Herausforderungen der Eingriffe verstehen und auf Komplikationen reagieren können. Dies kann bedeuten, das lokale Personal in seltenen Operationstechniken zu schulen.4

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Abb. 2: Team der humanitären Missionen

Regelmäßiger Kontakt mit dem örtlichen Team ist entscheidend, um den Zustand der Patient:innen zu besprechen und Unterstützung zu bieten. Idealerweise wird eine Partnerschaft mit einem Krankenhaus oder einem medizinischen Team etabliert, das regelmäßig Missionen durchführt, um Komplikationen rasch zu begegnen oder Folgebehandlungen zeitnah durchzuführen.6

Ein entscheidender Aspekt ist es, eine nachhaltige mikrochirurgische Versorgung zu etablieren. Durch wiederholte Einsätze können die Teammitglieder Vertrauen beim örtlichen medizinischen Personal aufbauen, die Zusammenarbeit intensivieren, Wissen und Fähigkeiten kontinuierlich vermitteln und sicherstellen, dass die hohen Standards der mikrochirurgischen Versorgung – soweit möglich – eingehalten werden. Diese Kontinuität ermöglicht es, langfristige Behandlungspläne zu entwickeln und auszuführen, was zu besseren Ergebnissen und einer stabileren Gesundheitsversorgung für die Patient:innen führt.6 Umfassende Nachsorge ist nicht nur eine ethische Verpflichtung, sondern entscheidend für den langfristigen Erfolg und das Wohl der Patient:innen. Durch sorgfältige Planung und Zusammenarbeit können medizinische Missionen einen nachhaltig positiven Einfluss auf die Gesundheit und das Leben der Menschen in Not haben.3

1 Gebregziabher M et al.: Geographical distribution of the health crisis of war in the Tigray region of Ethiopia. BMJ Glob Health 2022; 7(4): e008475 2 Banda CH et al.: Challenges in global reconstructive microsurgery: The Sub-Saharan african surgeons’ perspective. JPRAS Open 2019; 20: 19-26 3 Citron I, Galiwango G, Hodges A: Challenges in global microsurgery: A six year review of outcomes at an East African hospital. J Plast Reconstr Aesthet Surg 2016; 69(2): 189-95 4 Hendriks TCC et al.: Impact of short-term reconstructive surgical missions: a systematic review. BMJ Glob Health 2019; 4(2): e001176 5 Rodgers W et al.: Microvascular reconstruction of facial defects in settings where resources are limited. Br J Oral Maxillofac Surg 2016; 54(1): 51-6 6 O‘Flynn D et al.: Training Surgeons as medical educators in Africa. J Surg Educ 2017; 74(3): 539-42

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