Adipositas und ihre Auswirkungen auf einen außerklinischen Herzstillstand
Autorinnen: Dr. Rebeka Jörg1
Dr. Bianca-Karla Itariu, PhD2
1Univ.-Klinik für Allgemeinchirurgie
2Univ.-Klinik für Endokrinologie & Stoffwechsel
Medizinische Universität Wien
E-Mail: rebeka.joerg@meduniwien.ac.at
Ein außerklinischer Herzstillstand stellt eine schwerwiegende medizinische Notfallsituation dar. Die Auswirkungen von Adipositas auf einen solchen Herzstillstand dürfen nicht unterschätzt werden.
Keypoints
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Ein neues Diagnosemodell für Adipositas stellt die Diagnose nur, wenn gesundheitliche Komplikationen/Beschwerden vorliegen, die auf das Gewicht zurückzuführen sind.
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Frühzeitige Reanimationsmaßnahmen und Defibrillation sind bei einem außerklinischen Herzstillstand (OHCA) entscheidend für das Überleben.
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Adipositas kann die Überlebenswahrscheinlichkeit bei einem OHCA vermindern. Am AKH Wien wurde sogar eine Verdopplung der Mortalitätsrate in der BMI-Kategorie 35–39,9kg/m2 im Vergleich zur Kategorie ≤24,9kg/m2 festgestellt.
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Die European Resuscitation Council Guidelines 2021 empfehlen Reanimationsregeln spezifisch für Patient:innen mit Adipositas.
Adipositas ist ein hochaktuelles, man könnte fast sagen pulsierendes Thema. Die bariatrisch-metabolische Chirurgie ist die effizienteste Therapieform, die aber nur bei einem Bruchteil der betroffenen Patient:innen angewendet wird. Seit der Zulassung von mehr und mehr „Abnehmspritzen“ (Saxenda®, Mounjaro®, Wegovy®) entsteht der Eindruck, dass die Anwendung dieser Medikamente breitflächig erfolgt, allerdings zeigen Versicherungsdaten aus den USA, dass weniger als 6% der untersuchten Kohorte Medikamente oder eine Operation erhalten.1
Die Mehrheit aller Patient:innen erhält dafür unspezifische Aufforderungen zum Abnehmen und Kritik. Sowohl beim Thema Bodyshaming in den sozialen Medien als auch unter Kolleg:innen trifft man immer wieder auf Unverständnis, Stigma und eine „Selber-Schuld-Mentalität“.2 Der Versorgungsbedarf bleibt ungelöst.
Diagnose Adipositas:ein neuer Ansatz
Adipositas wird als multifaktorielle, chronische und rezidivierende, nicht übertragbare Erkrankung anerkannt, die durch eine abnorme und/oder übermäßige Fettansammlung gekennzeichnet ist und ein Gesundheitsrisiko darstellt.
Im Gegensatz zu früheren Diagnoserichtlinien, die sich fast ausschließlich auf BMI-Grenzwerte stützten (≥30kg/m2), betont ein neues Diagnosemodell die Bedeutung der Fettverteilung und -funktion für den Schweregrad der Erkrankung.3 Dieses Modell ergänzt die Diagnose durch eine umfassende klinische Beurteilung, die nicht nur anthropometrische Messungen (BMI, Waist-to-Height-Ratio ≥0,5), sondern auch medizinische, funktionelle und psychologische Beschwerden berücksichtigt. Der BMI und das Verhältnis von Taille zu Körpergröße werden weiterhin verwendet, jedoch wird die Diagnose Adipositas nur in Kombination mit dem Vorhandensein von gesundheitlichen Komplikationen/Beschwerden gestellt, die auf das Gewicht zurückzuführen sind. Dies ermöglicht eine genauere Klassifizierung und ein gezielteres Management der Adipositas, ähnlich wie bei anderen chronischen Erkrankungen.
Adipositas-Paradoxon – wirklich Realität?
Einer der Fälle, bei dem der Versorgungsbedarf der Patient:innen mit Adipositas eventuell mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt werden muss, ist der außerklinische Herzstillstand („out-of-hospital cardiac arrest“ [OHCA]).
Ein OHCA stellt eine schwerwiegende medizinische Notfallsituation dar, bei der schnelles und effizientes Handeln entscheidend für das Überleben ist, wie frühzeitige Reanimationsmaßnahmen und Defibrillation. Eine erfolgreiche Rettung hängt von einer effektiven interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Ersthelfer:innen, Rettungsdiensten und Krankenhäusern ab. Eine unklare Rolle spielen jedoch Atemwegsmanagement und Medikation, während Prognosefaktoren und Kriterien für den Abbruch der Reanimation den Ablauf und die Transportentscheidungen beeinflussen können. Nach Wiederherstellung der Spontanatmung liegt der Fokus auf der Stabilisierung und weiteren Versorgung im Krankenhaus.4
Zahlreiche Faktoren beeinflussen die Überlebenswahrscheinlichkeit, darunter auch bestehende Vorerkrankungen wie Adipositas und Diabetes mellitus. Da diese beiden häufig mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen einhergehen, besteht eine mehrfache Überlappung der Risikofaktoren und Begleiterkrankungen von Adipositas und OHCA. Personen mit Adipositas haben ein höheres Risiko, einen plötzlichen Herzstillstand zu erleiden. Der Zusammenhang zwischen Adipositas und dem Überleben eines plötzlichen Herzstillstandes ist jedoch bisher noch unzureichend erforscht. Einige Studien weisen darauf hin, dass Patient:innen mit Adipositas eher überleben, was ein sogenanntes „Adipositas-Paradoxon“ nahelegt.5–7 Dieses Phänomen bleibt jedoch nicht ohne Kritik. Denn es gibt ausreichend Gegenstimmen bzw. Studien, die Gegenteiliges gezeigt haben.
Abb. 1: Patientendaten von 2015-2029: Die Mortalitätsrate war in der Kategorie mit einem BMI von 35–39,9kg/m² im Vergleich zur Kategorie mit einem BMI ≤24,9kg/m² doppelt so hoch (OR: 2,09; 95% CI). Darüber hinaus zeigte die Analyse ein um 33% erhöhtes Risiko für die Krankenhausmortalität bei Patient:innen mit Adipositas (OR: 1,33; 95% CI). Dieses Ergebnis war jedoch nur bei Patient:innen ohne Diabetes mellitus signifikant (p<0,001)
Forschungen zu OHCA-Überlebenschancen untersuchten die Einflüsse von Adipositas und Diabetes mellitus auf die Überlebensrate. In einer großen schwedischen Studie mit über 55000 OHCA-Patient:innen zeigte sich, dass Adipositas mit einer um 30% niedrigeren Überlebenswahrscheinlichkeit verbunden war, besonders wenn zusätzlich Diabetes mellitus vorlag.8 In einem weiteren Kontext zeigte eine Untersuchung von „In-hospital cardiac arrest“-Patient:innen, die eine extrakorporale kardiopulmonale Reanimation (ECPR) erhielten, dass der BMI weder das Überleben noch neurologische oder prozedurale Ergebnisse beeinflusste.9
Diese Erkenntnisse unterstreichen die Bedeutung spezifischer Risikofaktoren für die Überlebensprognose und legen nahe, dass der BMI bei ECPR nicht entscheidend ist, jedoch eine negative Auswirkung auf das OHCA-Überleben bestehen könnte, besonders in Kombination mit Diabetes mellitus.
Single-Center-Erfahrungaus dem AKH Wien
Um die gesammelten Erfahrungen zu objektivieren, wurde an der Universitätsklinik für Notfallmedizin in Wien eine retrospektive Kohortenstudie durchgeführt. Hierbei wurden die gesammelten Patient:innendaten zwischen den Jahren 2013 und 2019 ausgewertet. Insgesamt wurden in diesem Zeitraum 1187 Patient:innen (über 18 Jahre) aufgrund eines außerklinischen Herzstillstandes behandelt. 27,6% dieser Patient:innen lebten mit Adipositas. Hervorzuheben ist, dass 70% der Untersuchten männlich waren.
Eine Klassifizierung zur näheren Unterteilung erfolgte abhängig von der BMI-Kategorie. Die ersten Auswertungen zeigten ein interessantes Ergebnis. Die Mortalitätsrate stieg abhängig von der BMI-Kategorie. Genauer gesagt war die Mortalitätsrate in der Kategorie mit einem BMI von 35–39,9kg/m2 doppelt so hoch wie in der Kategorie mit einem BMI von ≤24,9kg/m2 (OR: 2,09 [95% CI]). Des Weiteren ergab die Auswertung ein um 33% erhöhtes Risiko für die Mortalität im Krankenhaus bei Adipositas (OR: 1,33 [95% CI]). Jedoch war dieses Ergebnis nur signifikant bei Patient:innen ohne Diabetes mellitus (p<0,001). Wurde das Ergebnis auf andere kardiovaskuläre Komorbiditäten adjustiert, veränderte es sich nicht signifikant.
Womit könnte das zusammenhängen? Eventuell ist die grundlegende Versorgung der Patient:innen mit Diabetes mellitus besser organisiert. Vielleicht bestehen in der Versorgung dieser Patient:innenGruppe mehr Awareness und bessere Disease-Management-Programme. Im Gegensatz dazu muss betont werden, dass die Unterversorgung bzw. die Herausforderung der notfallmäßigen Versorgung der Patient:innen mit Adipositas eine große Rolle spielen können. Die Durchführung einer effektiven kardiopulmonalen Reanimation (CPR) ist lebensrettend und kann bei Patient:innen mit Adipositas aus mehreren Gründen erschwert sein. Bereits der Zugang zu Patient:innen sowie der Transport können eine Schwierigkeit darstellen. Ebenso kann es Herausforderungen beim Gefäßzugang sowie beim Atemwegsmanagement geben. Die Qualität der Thoraxkompressionen kann beeinträchtigt sein. Darüber hinaus kann die Wirksamkeit vasoaktiver Medikamente und der Defibrillation reduziert sein.
Empfehlungen für die Praxis
Praxistipp
Laut den European Resuscitation Council Guidelines 2021 müssen Patient:innen mit Adipositas zur Reanimation nicht zwingend auf den Boden verlagert werden. Die Qualität der Thoraxkompressionen (max. Tiefe: 6 cm) kann durch wechselnde Helfer:innen erhalten werden. Bei Defibrillation kann die Energie auf das maximale Niveau erhöht werden. Die manuelle Beatmung sollte minimiert werden. Eine frühzeitige Intubation sollte in Erwägung gezogen werden.Aus diesem Grund empfehlen die European Resuscitation Council Guidelines 2021 für die Praxis Folgendes:10
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Thoraxkompressionen sollten mit einer maximalen Tiefe von 6cm durchgeführt werden.
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Patient:innen mit Adipositas, die in einem Bett liegen, müssen nicht zwingend auf den Boden verlagert werden, um eine effektive Reanimation zu gewährleisten.
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Es ist ratsam, die Helfer:innen, die die Thoraxkompressionen durchführen, häufiger zu wechseln, um die Qualität der Kompressionen zu erhalten.
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Bei wiederholten Defibrillationsversuchen sollte in Erwägung gezogen werden, die Energie auf das maximale Niveau zu erhöhen, um die Erfolgschancen zu steigern.
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Die manuelle Beatmung mit einem Beatmungsbeutel sollte auf ein Minimum reduziert und ausschließlich von erfahrenem Personal mit der Zwei-Personen-Technik durchgeführt werden, um eine effektive Atemwegsunterstützung sicherzustellen.
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Eine frühzeitige Intubation durch eine erfahrene Person sollte jedenfalls in Erwägung gezogen werden, um die Dauer der Beatmung mit dem Beatmungsbeutel zu minimieren und so das Risiko für eine unzureichende Ventilation zu reduzieren.
Fazit: kein Adipositas-Paradoxon
Zusammenfassend bestätigt auch die in Wien durchgeführte Studie, dass kein Adipositas-Paradoxon besteht, das heißt, dass Personen mit Adipositas in einer Notsituation wie OHCA mit einem besonderen Augenmerk betreut werden müssen. Insbesondere sollten auch in diesem Fall Expert:innen die Behandlung übernehmen. Im Vordergrund sollten eine effektive CPR, Defibrillation mit maximalem Niveau und eine frühzeitige Intubation stehen.
Literatur:
1 Lin K et al.: Metabolic bariatric surgery in the era of GLP-1 receptor agonists for obesity management. JAMA Netw Open 2024; 7(10): e2441380 2 Carrasco D et al.: Primary care physicians’ knowledge and attitudes about obesity, adherence to treatment guidelines and association with confidence to treat obesity: a Swedish survey study. BMC Prim Care 2022; 23(1): 208 3 Busetto L et al.: A new framework for the diagnosis, staging and management of obesity in adults. Nat Med 2024; 30(9): 2395-9 4 Ong MEH et al.: Out-of-hospital cardiac arrest: prehospital management. Lancet 2018; 391(10124): 980-8 5 Ma Y et al.: Association between body mass index and clinical outcomes of patients after cardiac arrest and resuscitation: a meta-analysis. Am J Emerg Med 2018; 36(7): 1270-9 6 Kakavas S et al.: The impact of body mass index on post resuscitation survival after cardiac arrest: a meta-analysis. Clin Nutr ESPEN 2018; 24: 47-53 7 Matinrazm S et al.: Effect of body mass index on survival after sudden cardiac arrest. Clin Cardiol 2018; 41(1): 46-50 8 Hjalmarsson A et al.: No obesity paradox in out-of-hospital cardiac arrest: data from the Swedish registry of cardiopulmonary resuscitation. Resusc Plus 2023; 15: 100446 9 Gil E et al.: Association of body mass index with clinical outcomes for in-hospital cardiac arrest adult patients following extracorporeal cardiopulmonary resuscitation. PLoS One 2017; 12(4): e0176143 10 Lott C et al.: European Resuscitation Council Guidelines 2021: Cardiac arrest in special circumstances. Resuscitation 2021; 161: 152-219
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