Aktuelle Adipositas-Therapieangebote in Österreich
Autor:innen:
Juliana Bhardwaj, MSc1
Mag. Dr. Manuel Schätzer1
Prim. Univ.-Prof. Dr. Friedrich Hoppichler1,2
1Special Institute for Preventive Cardiology And Nutrition, SIPCAN – Initiative für ein gesundes Leben, Salzburg
2Abteilung für Innere Medizin, Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Salzburg
E-Mail: j.bhardwaj@sipcan.at
Übergewicht und Adipositas gehören zu den größten Gesundheitsproblemen unserer Zeit. Aufgrund der weitreichenden Auswirkungen eines stark erhöhten Körpergewichts auf die physische und psychische Gesundheit betroffener Menschen werden effiziente Therapie- und Präventionsangebote benötigt.
Keypoints
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Steigende Prävalenzzahlen, individuelle und gesellschaftliche Risiken sowie hohe Kosten im Gesundheitssystem erfordern ein adäquates Therapieangebot für von Übergewicht und Adipositas betroffene Menschen.
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SIPCAN erfasst undbeschreibt den Status quo hinsichtlich der in Österreich vorhandenen Adipositas-Therapieangebote bereits seit dem Jahr 2005. Die aktuelle Situation ist – beispielsweise was die Orientierung an Leitlinien und die öffentliche Finanzierung angeht – nach wie vor verbesserungswürdig.
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Der Adipositas Hilfe-Kompass ist ein hilfreiches Tool, um Hilfesuchenden den Therapiezugang zu erleichtern.
Bereits seit dem Jahr 2005 erhebt das vorsorgemedizinische Institut SIPCAN (Special Institute for Preventive Cardiology And Nutrition) regelmäßig die in Österreich vorhandenen Betreuungsstrukturen für übergewichtige und adipöse Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Neben der Abbildung der aktuellen Situation ist durch die regelmäßige Analyse auch eine Beurteilung von Veränderungen und Entwicklungen hinsichtlich des Angebotsspektrums möglich. Darüber hinaus werden die erhobenen Daten als Grundlage zur Erstellung von Listen mit Anlaufstellen für Betroffene und ihre Angehörigen genützt. Die bis dato in Form von Broschüren bereitgestellte Aufstellung von Therapieanbieter:innen und ihren Angeboten wurde im Zuge der aktuellsten Erhebung (2023) durch den „Adipositas Hilfe-Kompass“ – ein dynamisches Online-Tool – weiter verbessert. Mit Informationen und Kurzbeschreibungen zu verfügbaren Therapieangeboten soll Hilfesuchenden ein guter Überblick verschafft und damit der Therapiezugang erleichtert werden. Auch die Vernetzung und Zusammenarbeit von in Österreich aktiven Fachkräften soll durch den Adipositas Hilfe-Kompass gefördert werden.
Adipositas als individuelles und gesellschaftliches Problem
Adipositas wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als chronische Krankheit anerkannt und ist im Diagnose- klassifikationssystem ICD zur internationalen Klassifikation von Krankheiten enthalten. Der Begriff Adipositas bezeichnet eine krankhafte, über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfetts,1,2 welche einen wesentlichen Risikofaktor und Promotor für diverse chronische Erkrankungen wie Diabetes mellitusTyp 2, orthopädische Probleme, verschiedene Krebsarten und kardiovaskuläre Erkrankungen darstellt.3,4 Als Ursachen für Adipositas gelten lebensstilbedingte, umweltbedingte, hormonelle und genetische Faktoren.1–3 Der „moderne, westliche Lebensstil“, der von einer hohen Energieaufnahme durch die ständige Verfügbarkeit stark fett- und zuckerhaltiger Nahrung sowie große Portionen bei gleichzeitig niedrigem Energieverbrauch durch geringe körperliche Aktivität geprägt ist, ist als Grund für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Krankheit besonders hervorzuheben.
Neben individuellen Risiken durch erhöhte Morbidität und Mortalität machen die stark steigenden Prävalenzraten Übergewicht und Adipositas zu einer der aktuell relevantesten Herausforderungen für die öffentliche Gesundheit und das Gesundheitssystem und damit immer mehr zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem. So haben die Raten von Übergewicht und Adipositas laut Sachstandsbericht Adipositas 2022 der Europäischen Region der WHO in allen Teilen der Region mittlerweile epidemische Ausmaße angenommen und sind weiterhin am Steigen.5 In Österreich liegen die Prävalenzen bei Erwachsenen bei 54,3% (Übergewicht und Adipositas) bzw. 20,1% (Adipositas). Unter den 10- bis 19-Jährigen sind 25,8% übergewichtig (bzw. adipös) und 7,8% adipös, bei den 5- bis 9-jährigen Kindern sind es sogar 28,1% bzw. 10,5%.6
Wieder leichter und gesünder durchs Leben: Therapie der Adipositas
Für die erfolgreiche Behandlung stark übergewichtiger bzw. adipöser Patient:innen wird eine Kombination aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie empfohlen. Auch medikamentöse Behandlungen oder chirurgische Eingriffe können unter bestimmten Voraussetzungen zum Einsatz kommen. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Professionen kann daher hilfreich sein. Die Ziele der Therapie sind eine langfristige Senkung des Körpergewichts, Reduktionen im Hinblick auf Risikofaktoren, Erkrankungen und Mortalität sowie eine Steigerung der Lebensqualität. Für einen nachhaltigen Therapieerfolg sind ebenso nachhaltige Umstellungen des Lebensstils nötig, weshalb eine patient:innenzentrierte und langfristige Betreuung angestrebt werden sollte.3
Therapiestrukturen in Österreich im Jahr 2023: Ergebnisse der aktuellen Erhebung
Mithilfe einer umfangreichen Online-Befragung wurde zuletzt im Zeitraum von März bis Mai 2023 das aktuelle Angebotsspektrum erhoben und analysiert. Mit einem über 70 Fragen umfassenden Fragebogen konnten erneut diverse relevante Informationen zu Therapieformen, Settings, beteiligten Professionen, zeitlichen Strukturen (wie Therapiebeginn und -dauer), Finanzierung, Möglichkeiten einer Nachbetreuung sowie Präventionsangeboten gewonnen werden. Die Einladung zur Beteiligung an der Befragung richtete sich an Adipositastherapie anbietende Personen und Institutionen in ganz Österreich und erfolgte über einen E-Mail-Verteiler sowie diverse Fachverbände und fachspezifische Organisationen.
Für die aktuelle Analyse konnten Fragebögen von insgesamt 126 Adipositastherapie anbietenden Einrichtungen berücksichtigt werden. Minderjährige wurden in 66,7% und Erwachsene in 86,5% dieser Einrichtungen betreut. In 82,5% der Institutionen wurde Ernährungstherapie, in 30,2% Bewegungstherapie und in 35,7% Verhaltenstherapie angeboten (Abb. 1). Medikamente zur Behandlung von Übergewicht kamen in 19,8% der Einrichtungen zum Einsatz, bariatrische Eingriffe wurden in 11,1% der Einrichtungen durchgeführt (Mehrfachnennungen waren möglich).
Abb. 1: Angebotene Therapieformen (Anteilswerte in %; Mehrfachnennungen möglich)
Bezüglich des Settings waren private Praxen mit 55,6% am häufigsten vertreten, gefolgt von Diätolog:innen im niedergelassenen Bereich (34,9%) sowie ambulanten (18,3%) und stationären klinischen Einrichtungen (11,1%) (Mehrfachnennungen waren möglich). Hinsichtlich der an den Therapieleistungen aktiv beteiligten Berufsgruppen wurden die Patient:innen in 55,6% der Einrichtungen durch Ärzt:innen, in 68,3% durch Diätolog:innen, in 27,0% durch Ernährungswissenschafter:innen, in 42,9% durch Psycholog:innen und in 25,4% durch Psychotherapeut:innen betreut. Physiotherapeut:innen waren in 24,6%, Bewegungstrainer:innen in 21,4% und Sportwissenschaftler:innen in 15,1% der Fälle an den Angeboten beteiligt (Mehrfachnennungen waren möglich). Der Anteil an interdisziplinär zusammenarbeitenden Therapieanbieter:innen lag bei 60,3%.
59,5% gaben an, nach evidenzbasierten Leitlinien zu arbeiten. Für eine fachgerechte Bewertung der Erfolge wurde in 57,9% der Institutionen eine Prozessevaluierung und in 70,6% eine Ergebnisevaluierung durchgeführt. Bei 76,2% der Therapieanbieter:innen gab es die Möglichkeit einer Nachbetreuung nach Abschluss der Therapie. In 44,4% der Institutionen gab es neben einem Therapieangebot auch ein Präventionsangebot für Übergewicht und Adipositas. Im zeitlichen Verlauf der Erhebungen ist ein deutlicher Trend hin zu mehr exklusiver Einzeltherapie (Angebot von Einzeltherapie in 89,7%, Angebot von Gruppentherapie in 36,5% der Institutionen) mit individuell wählbaren Einstiegsterminen (83,3%) und individueller Dauer (81%) beobachtbar. In bereits 75,4% der Fälle müssen die Therapiekosten zumindest teilweise durch private (Zu-)Zahlungen gedeckt werden, während die Finanzierungsquote durch die Krankenkasse, öffentliche Mittel und Fördergeber in allen Settings rückläufig ist (Abb. 2).
Abb. 2: Finanzierung der Therapieleistungen im Beobachtungszeitraum 2005 bis 2023 (Anteilswerte in %; Mehrfachnennungen möglich)
Professionelle Hilfe: Unterstützung durch den Adipositas Hilfe-Kompass
Der SIPCAN Adipositas Hilfe-Kompass Österreich bietet betroffenen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eine vereinfachte Suche nach geeigneten Therapieeinrichtungen und umfasst aktuell Angebote von Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie, medikamentöser Therapie sowie bariatrischer Chirurgie von insgesamt 242 verschiedenen Therapieanbieter:innen. Mithilfe von Filterfunktionen wird das rasche Finden eines geeigneten Angebots in der Nähe des eigenen Wohnortes erleichtert. Übersichtlich zusammengefasste Informationen mit Kontaktdaten und Wissenswertem zur angebotenen Therapie (z.B. bezüglich der Struktur, des zeitlichen Rahmens und der Kosten) unterstützen die Suchenden bei der Endauswahl geeigneter Einrichtungen.
Fazit und Ausblick
Praxistipp
Der Adipositas Hilfe-Kompass steht Ihnen unter https://www.sipcan.at/adipositas-hilfe-kompass kostenlos zur Verfügung.Die aktuelle Analyse zeigte erneut diverse Unterschiede zwischen den einzelnen Einrichtungen und ihren Programmen sowie Veränderungen gegenüber früheren Erhebungen. Die momentane Gesamtsituation ist – wie schon in der Vergangenheit kritisiert – nach wie vor verbesserungswürdig. Dies betrifft beispielsweise die rückläufige Finanzierungsquote durch die Krankenkasse, öffentliche Mittel, Fördergeber und Sponsoren sowie den nach wie vor zu geringen Anteil an nach evidenzbasierten Leitlinien arbeitenden Therapieanbieter:innen und den zu geringen Anteil an Angeboten, deren Erfolge fachgerecht durch eine Prozess- und Ergebnisevaluierung bewertet werden. Letztendlich scheinen die Versorgungsstrukturen und Behandlungsmöglichkeiten jedoch trotz der negativen Aspekte ausreichend und vielfältig. Die fortlaufende Beobachtung und regelmäßige Analyse vorhandener Therapiestrukturen für adipöse Menschen scheint angesichts der hohen Übergewichtsprävalenz und der engen Verbindung zu zahlreichen Erkrankungen auch weiterhin sinnvoll und notwendig.
Im Hinblick auf das Ziel, betroffenen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen den Zugang zu professioneller Hilfe zu erleichtern, soll der SIPCAN Adipositas Hilfe-Kompass zukünftig weiter ausgebaut werden. Therapieanbieter:innen, die noch nicht im AdipositasHilfe-Kompass gelistet sind, können sich jederzeit kostenlos eintragen lassen.
Literatur:
1 Österreichische Adipositas Gesellschaft: Was ist Adipositas? https://www.adipositas-austria.org/was-ist-adipositas.html (Zugriff: Jänner 2024) 2 Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) e.V., Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA): Definition von Übergewicht und Adipositas. https://adipositas-gesellschaft.de/ueber-adipositas/definition-von-adipositas/ (Zugriff: Jänner 2024) 3 Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) e.V., Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG), Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) e.V., Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) e.V.: Interdisziplinäre Leitlinie der Qualität S3 zur „Prävention und Therapie der Adipositas“ Version 2.0/2. Auflage, 2014; 4 Smith KB, Smith MS: Obesity Statistics. Prim Care 2016; 43(1): 121-35 5 WHO:Neuer Bericht der WHO: Europa kann seine Adipositas-„Epidemie“ umkehren. https://www.who.int/europe/de/news/item/03-05-2022-new-who-report-europe-can-reverse-its-obesity-epidemic (Zugriff: Jänner 2024) 6 WHO: WHO European Regional Obesity Report 2022. 200-203. https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/353747/9789289057738-eng.pdf?sequence=1 (Zugriff: Jänner 2024)
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