Management kardiovaskulärer Erkrankungen bei Patienten mit Diabetes mellitus
Autor:
Univ.-Prof. Dr. Thomas C. Wascher
Fachbereich Diabetes
1. Medizinische Abteilung
Hanusch-Krankenhaus, Wien
E-Mail: thomas.wascher@oegk.at
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Im Rahmen der aktuellen Jahrestagung der ESC wurde eine neue Leitlinie vorgestellt, die sich umfassend mit dem Management kardiovaskulärer Erkrankungen bei Menschen mit Diabetes (in erster Linie Typ 2) befasst. Zeitgleich wurde diese Leitlinie im „European Heart Journal“ veröffentlicht.1 Die folgende Zusammenfassung beleuchtet die Neuerungen und praktisch-klinischen Aspekte dieser 98-seitigen Publikation aus diabetologischer Sicht.
Keypoints
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Die ESC-Leitlinie bezieht sich nur auf Menschen mit Diabetes mellitus, nicht jedoch auf Menschen mit Prädiabetes.
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Menschen mit klinisch manifester kardiovaskulärer Erkrankung sollen hinsichtlich des Vorliegens eines Diabetes mellitus abgeklärt werden.
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Menschen mit Typ-2-Diabetes sollen hinsichtlich des Vorliegens einer kardiovaskulären Erkrankung und/oder einer chronischen Nierenerkrankung abgeklärt werden.
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SGLT2-Hemmer und GLP-1-Rezeptoragonisten haben, unabhängig vom HbA1c sowie im Fall einer chronischen Nierenerkrankung Finerenon, eine Klasse-1-Empfehlung.
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Zur besseren Abschätzung des kardiovaskulären Risikos von Menschen mit Diabetes wurde der SCORE2-Diabetes in die Risikokategorisierung integriert.
Definition „kardiovaskuläre Erkrankung“
Unter kardiovaskulärer Erkrankung sind atherosklerotische Veränderungen an den Koronargefäßen, den Carotiden und/oder den großen Arterien der unteren Extremitäten zu verstehen, die entweder zu einem ischämischen Ereignis geführt haben oder zu einer Revaskularisation oder aber eine zumindest 50%ige Stenose in einem bildgebenden Verfahren erkennen lassen. Surrogatparameter wie der koronare Kalziumscore oder die Intima-Media-Dicke der Carotiden oder einzelne, nichtsignifikante Plaques ebendort stellen kein Äquivalent für kardiovaskuläre Erkrankungen dar. Patienten mit Aneurysmata der Aorta werden aufgrund des assozierten Atheroskleroserisikos ebenfalls in die Kategorie„manifeste kardiovaskuläre Erkrankung“ eingereiht. Ebenso nimmt die Leitlinie auch Bezug auf das Thema Herzinsuffizienz – dieser Aspekt wird jedoch in einem anderen Beitrag beleuchtet werden.
Bezugspopulation der Leitlinie
Die Leitlinie bezieht sich expressis verbis nur auf Menschen mit Diabetes mellitus – das unterscheidet sie von der Version des Jahres 2019, in der auch Prädiabetes inkludiert war, und wird mit dem Fehlen klarer Evidenzen im Bereich des Prädiabetes begründet. Ebenso neu ist – und dabei unterscheidet sich die Leitlinie von der vorangehenden, aber auch von jener des Lipidmanagaments (2019) –, dass sie sich explizit auf Typ-2-Diabetes bezieht und das Thema Typ-1-Diabetes (s.u.) nur getrennt und eher kursorisch behandelt wird.
Die zentrale Botschaft
Abbildung 1 fasst – auf Basis der unbestreitbaren und häufigen Koinzidenz von Diabetes und kardiovaskulären Erkrankungen – die wechselseitigen Evaluationen, diagnostischen und therapeutischen Schritte zusammen.
Abb. 1: Management kardiovaskulärer Erkrankungen bei Patienten mit Typ-2-Diabetes: klinischer Ansatz und wichtige Empfehlungen. ASCVD = atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankung; CKD = chronische Nierenerkrankung; CVD = kardiovaskuläre Erkrankung; GLP-1-RA = Glucagon-like-peptid-1-Rezeptoragonist; HF = Herzinsuffizienz; HFmrEF = Herzinsuffizienz mit leicht reduzierter Ejektionsfraktion; HFpEF = Herzinsuffizienz mit erhaltener Ejektionsfraktion; HFrEF = Herzinsuffizienz mit reduzierter Ejektionsfraktion; s.c. = subkutan; SGLT2 = Natrium-Glucose-Cotransporter-2; T2D = Typ-2-Diabetes; aGLP-1-RAs mit nachgewiesenem kardiovaskulärem Nutzen: Liraglutid, Semaglutid s.c., Dulaglutid, Efpeglenatid; bSGLT2-Inhibitoren mit nachgewiesenem kardiovaskulärem Nutzen: Empagliflozin, Canagliflozin, Dapagliflozin, Sotagliflozin;cEmpagliflozin, Dapagliflozin, Sotagliflozin bei HFrEF; Empagliflozin, Dapagliflozin in HFpEF und HFmrEF; dCanagliflozin, Empagliflozin, Dapagliflozin (modifiziert nach N Marx et al. 2023)1
Menschen mit klinisch manifester kardiovaskulärer Erkrankung sollen hinsichtlich des Vorliegens eines Diabetes mellitus abgeklärt werden. Menschen mit bekanntem Typ-2-Diabetes mellitus sollen hinsichtlich des Vorliegens einer kardiovaskulären Erkrankung und/oder einer chronischen Nierenerkrankung abgeklärt werden. Falls diese Erkrankungskombinationen vorliegen,haben SGLT2-Hemmer (SGLT2i) und GLP-1-Rezeptoragonisten (GLP-1-RA)– unabhängig vom HbA1c – sowie im Falle einer chronischen Nierenerkrankung Finerenon, Klasse-I-Empfehlungen zur Therapie.
Zur Diagnose eines Diabetes mellitus werden primär aus pragmatischen Gründen der Nüchternblutzucker (≥126mg/dl) und/oder das HbA1c (≥6,5%) herangezogen. Falls kein eindeutiges Resultat vorliegt, soll ein oraler Glukosetoleranztest angeschlossen werden. Als nicht eindeutig darf ein nicht normaler (= prädiabetischer) Nüchternblutzucker (110–125mg/dl) gelten oder ein entsprechendes HbA1c (6,0–6,4%). Dies ist insofern wichtig, als die ESC damit den Limitierungen von Nüchternblutzucker und HbA1c Rechnung trägt und die Goldstandardstelllung des oGTT unterstreicht.
Kardiovaskuläre Risikokategorien bei Menschen mit Typ-2-Diabetes
Im Bezug auf die Risikokategorisierung bei Typ-2-Diabetes wird ein völlig neues System vorgeschlagen (Tab. 1). Die Kategorie „sehr hohes Risiko“ definiert sich auf Basis des Vorliegens einer manifesten kardiovaskulären Erkrankung oder einer „schweren Zielorganerkrankung“.
Tab. 1:Kardiovaskuläre Risikokategorieren bei Typ-2-Diabetes (modifiziert nach N Marx et al. 2023)1
Darunter wiederum sind folgende Erkrankungen zusammengefasst:
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GFR <45ml/min unabhängig von der Albuminurie
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GFR 46–59ml/min und Albuminurie Stadium A2 (früher Mikroalbuminurie)
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A3-Albuminurie unabhängig von der GFR (früher Makroalbuminurie)
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Mikroangiopathie an drei Lokalisationen (z.B. A2-Albuminurie & Retinopathie & Neuropathie)
Alle anderen Risikokategorien von „hohem Risiko“ bis zu „niedrigem Risiko“ (eine völlig neue Kategorie für Menschen mit Typ-2-Diabetes) definieren sich über einen neuen Score, den sogenannten „SCORE2-Diabetes“.2 Dies stellt eine definitive und weitreichende Neuerung dar. Bis dato wurde Diabetes in den ESC-Leitliniennach Diabetestyp, Diabetesdauer, Alter und Komorbiditäten in Risikokategorien klassifiziert.
Mit dem SCORE2-Diabetes2 liegt nun erstmals ein validiertes Risikomodell vor, welches spezifisch für Menschen mit Typ-2-Diabetes eine Schätzung des 10-Jahres-Risikos für kardiovaskuläre Ereignisse ermöglicht. Das Resultat wird, so wie im klassischen SCORE-Modell, in Prozent angegeben. Entwickelt und validiert wurde das Modell in einer Population von beinahe 500000 Menschen mit Typ-2-Diabetes ohne vorbekannte kardiovaskuläre Erkrankung. In dieser Population wurden mehr als 80000 Ereignisse beobachtet. Herangezogen wurde der klassische 3-Punkt-MACE aus kardiovaskulärem Tod, nicht tödlichem Myokardinfarkt und nicht tödlichem Schlaganfall. Kategorisiert werden auch 4 europäische Risikoregionen von „niedrig“ über „mittel“ und „hoch“ bis „sehr hoch“. Österreich fällt dabei in die Regionalkategorie „mittleres“ Risiko. Als zusätzliche Variablen zu Geschlecht, Alter, Rauchstatus, Gesamtcholesterin und HDL-Cholesterin sowie systolischem Blutdruck werden auch noch das Alter bei Diagnosestellung des Diabetes, das HbA1c und die eGFR berücksichtigt.
Daraus lässt sich bereits ableiten, dass ein simpler Chart zur Bestimmung des Risikos nicht mehr möglich ist. Es existieren zwar Tabellen, aus denen ein Punktewert errechnet werden kann, der dann das prozentuelle Risiko bestimmt (im elektronischen Anhang der besprochenen Leitlinie), viel sinnvoller jedoch ist die Nutzung der aktualisierten App (Android und iOS) der ESC, in die seit August auch der SCORE2-Diabetes als Kalkulator inkludiert ist. Mit diesem Score ist nun erstmals eine deutliche Individualisierung des kardiovaskulären Risikos bei Menschen mit Typ-2-Diabetes möglich.
Blutzuckerkontrolle bei manifester kardiovaskulärer Erkrankung
Die aktuelle Leitlinie der ESC trägt der Tatsache Rechnung, dass bei manifester kardiovaskulärer Erkrankung einerseits Evidenz existiert, dass ein um jeden Preis reduzierter HbA1c nicht zwingend benefiziell ist, dass Hypoglykämien und Glukosevariabilität eine zusätzliche Rolle spielen und dass zusätzliche Evidenz aus kontrollierten klinischen Studien notwendig wäre. Grundsätzlich schlägt die Leitlinie vor, auf Basis der zu erwartenden Lebenserwartung striktere oder weniger strikte HbA1c-Ziele anzustreben und dabei auf den Einsatz von Substanzen mit nachgewiesenem kardiovaskulärem Benefit und niedrigem Hypoglykämierisiko Wert zu legen. Metformin findet bei Menschen mit manifester kardiovaskulärer Erkrankung erst dann einen therapeutischen Platz, wenn nach Einsatz von SGLT2i und/oder GLP1-RAs noch die Notwendigkeit besteht, das HbA1c-Ziel zu erreichen (Abb. 2).
Abb. 2: Einfacher Leitfaden für gylkämische Ziele bei Patienten mit Typ-2-Diabetes und kardiovaskulärer Erkrankung. CV = kardiovaskulär; GLP-1-RA = Glucagon-like-peptid-1-Rezeptoragonist; HbA1c = glykiertes Hämoglobin; s.c. = subkutan; SGLT2 = Natrium-Glucose-Cotransporter-2; aZielanpassung bei Vorhandensein von hyperglykämischen Symptomen (Polyurie und Polydipsie); bHypoglykämie betrifft üblicherweise nur Patienten unter Sulphonylharnstoff und/oder Insulin-Therapie; cSGLT2-Inhibitoren (Empagliflozin, Canagliflozin, Dapagliflozin, Sotagliflozin) oder GLP-1-RA (Liraglutid, Semaglutid s.c., Dulaglutid, Efpeglenatid) (modifiziert nach N Marx et al. 2023)1
Sonderfall Typ-1-Diabetes
Die Leitlinie hält einerseits das – auf Basis epidemiologischer Daten – deutlich erhöhte kardiovaskuläre Risiko von Menschen mit Typ-1-Diabetes im Vergleich zu nichtdiabetischen Personen fest. Andererseits wird dargestellt, dass die Datenlage zur individuellen Prädiktion des kardiovaskulären Risikos im Vergleich zu Menschen mit Typ-2-Diabetes deutlich weniger umfangreich ist. Als Online-Ressource könnte dabei ein rezent entwickeltes Prädiktions-Modell einer schottisch-schwedischen Analyse herangezogen werden ( https://diabepi.shinyapps.io/cvdrisk/ ). Im Hinblick auf kardiovaskuläre Prävention sind natürlich weder SGLT2i noch GLP1-RA bei Menschen mit Typ-1-Diabetes in klinischen Studien untersucht und daher auch nicht indiziert. Was allerdings verwundert, ist die Tatsache, dass im Hinblick auf eine mögliche Nephroprotektion SGLT2i keine wie auch immer geartete Erwähnung finden, obwohl sowohl Dapagliflozin als auch Empaglifozin zur renalen Protektion unabhängig vom Diabetesstatus zugelassen sind. Das inkludiert daher auch Menschen mit Typ-1-Diabetes ebenso, auch wenn in diesem Kollektiv keine individuellen Studien zur Verfügung stehen.
Fazit
Zusammengefasst stellt diese Leitlinie aus diabetologischer Sicht einerseits den Einsatz von SGLT2i wie auch GLP1-RA bei Patienten mit Typ-2 Diabetes und kardiovaskulärer Erkrankung in den Vordergrund der Therapie;andererseits wird sowohl für Menschen mit Typ-2- als auch solche mit Typ-1-Diabetes die Individualisierung des kardiovaskulären Risikos auf Basis validierter Prädiktionsmodelle forciert.
Literatur:
1 N Marx et al.: 2023 ESC Guidelines for the management of cardiovascular disease in patients with diabetes. Eur Heart J 2023; 00, 1–98; https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehad192 2 SCORE2-Diabetes Working Group and the ESC Cardiovascular Risk Collaboration: SCORE2-Diabetes: 10-year cardiovascular risk estimation in type 2 diabetes in Europe. Eur Heart J 2023; 44, 2544–56; https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehad260
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